Nicola Hille
Politische Fotomontagen – eine Wiederentdeckung
Bodo von Dewitz (Hg.): Hitler blind, Stalin lahm. Marinus und Heartfield. Politische Fotomontagen der dreißiger Jahre – Mit Texten von Gunner Byskow, Bodo von Dewitz, Ulrich Hägele, Daniel Kothenschulte und Kerstin Stremmel – Göttingen: Steidl, 2008 – Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, 9. August bis 19. Oktober 2008 – 25,5 x 28,5 cm, 280 S., 220 Abb. – gebunden, 45 Euro
Erschienen in Fotogeschichte, 110, 2008
Unter dem Pseudonym "Marinus" veröffentlichte die in Paris erscheinende Zeitung Marianne in den Jahren 1932 bis 1940 über 250 Fotomontagen. Diese vorwiegend als Titelbild abgedruckten Werke waren offenkundig von den Fotomontagen John Heartfields inspiriert, die dieser seit 1930 für die AIZ (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung) hergestellt hatte.
Während Leben und Werk von John Heartfield bereits umfassend aufgearbeitet sind, blieb der Bildautor von Marianne über viele Jahre hinweg anonym, bis die Presse-Historiker Yves Aubry und Manfred Eisenbeis in den 1970er Jahren auf einem Flohmarkt in Paris auf Reste des Nachlasses stießen, durch die der Name des Fotomonteurs ermittelt werden konnte.
Danach dauerte es weitere 25 Jahre, bis die Biografie des Künstlers recherchiert werden konnte, der seit seiner Ausreise aus Dänemark im Jahr 1909 bis zu seinem Tod in Paris lebte und sowohl in seiner Heimat als auch in seiner Wahlheimat in Vergessenheit geriet.
Hinter dem Pseudonym "Marinus" verbarg sich der Däne Jacob Kjeldgaard (1884–1964); ihm und seinem Vorbild John Heartfield widmete das Museum Ludwig in der Zeit vom 9. August bis zum 19. Oktober 2008 eine Ausstellung, die durch einen hervorragenden Katalog ergänzt wird. In dieser Publikation beleuchten die Autoren die Frage, wie der Künstler, der seit 1933 Mitarbeiter der Redaktion von Marianne und Urheber zahlreicher Fotomontagen war, sein außergewöhnliches Bilderrepertoire entfaltete.
Nachdem sich Jacob Kjeldgaard zunächst in Kopenhagen zum akademischen Maler ausbildete, verließ er nach familiären Auseinandersetzungen seine Heimat und ging nach Paris, wo er sich anfangs mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen musste. Während des Ersten Weltkriegs hatte er Kontakte zur Presse, denn bereits 1917 gestaltete er eine Fotomontage für die Illustrierte J"ai Vu, arbeitete danach für die Zeitschrift Voila, bis er 1933 als Mitarbeiter von Marianne engagiert wurde. Die erste Ausgabe dieser Zeitschrift kam am 26. Oktober 1932 heraus. Sie trug den Untertitel "Grand Hebdomadaire Littérature Illustré", hatte 16 Seiten, eine Auflage von 200.000 Stück, kostete 65 Centimes und war das erste im Offsetverfahren gedruckte französische Blatt.
Für diese links-intellektuelle Zeitschrift gestaltete Marinus Fotomontagen, mit denen er die NS-Politik schonungslos karikierte, zugleich aber auch die Staatsmänner der westlichen Welt als zweifelhafte Drahtzieher und Friedenskämpfer der 1930er Jahre darstellte.
Bis zur letzten Nummer am 4. Juni 1940 gestaltete er für insgesamt 403 Ausgaben von Marianne rund 250 Fotomontagen. Die Montagen erschienen in zwei Zeitabschnitten, zunächst von 1932 bis 1935 und dann von 1938 bis 1940. Sie illustrierten Leitartikel, waren oft aber auch textautonom und behandelten politische Ereignisse. Der Künstler bezog konsequent Stellung gegen Krieg, Faschismus und Totalitarismus rechter wie linker Prägung und übte Kritik an den westlichen Demokraten, die sich den Diktatoren Hitler, Mussolini und Stalin gegenüber als lethargisch zeigten. Die meisten Fotomontagen von Marinus veröffentlichte die Zeitschrift im ersten Kriegsjahr 1939. In dieser Zeit erschienen 55 Bildmontagen, allein 40 davon auf dem Titelblatt.
Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris am 14. Juni 1940 war die große Ära der französischen Illustrierten und damit auch der Fotomontage abrupt beendet.
Sämtliche linksorientierte Blätter mussten ihr Erscheinen einstellen. Die Nazis plünderten Archive und Redaktionsbüros und verbrannten kritische Bilder. Die übrige französische Presse hatte, gleichgeschaltet und auf Linie gebracht, für Vichy und den Faschismus zu berichten. Da eine kritische Aufarbeitung der 1930er Jahre und der Besatzungszeit in der französischen Nachkriegszeit zunächst nicht stattfand, kann dies ein Grund dafür gewesen sein, warum auch die Fotomontagen von "Marianne" und ihr Urheber für lange Zeit in Vergessenheit gerieten.
In der nun vorliegenden Publikation werden erstmals nahezu alle noch erhaltenen originalen Fotomontagen von Marinus und die gedruckten Ausgaben der Zeitschrift Marianne gezeigt. Sie werden dem künstlerischen Werk von John Heartfield gegenübergestellt, so dass ein direkter Vergleich der Fotomontagen beider Künstler ermöglicht wird. In sachkundigen Essays erläutern die Autoren, warum Marinus neben Heartfield als bedeutender politischer Fotomonteur zu entdecken ist. Die häufig gestellte Frage, ob beide Künstler sich auch begegnet sind, kann allerdings nicht eindeutig beantwortet werden. Es ist davon auszugehen, dass Marinus die Montagen von Heartfield kannte und sie ihm als eine wichtige Inspirationsquelle dienten, da dieser im Frühjahr 1935 nach Paris reiste, um in der "Maison de la Culture" in der Rue Navarin seine erste Ausstellung von 150 Fotomontagen in Frankreich vorzubereiten. Heartfields Bildideen sind im künstlerischen Werk von Marinus oftmals aufgegriffen und in einer neuen Weise interpretiert und weiterentwickelt worden.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Den "Drahtseilakt" der nationalsozialistischen Politik stellten Heartfield und Marinus in einer sehr verwandten Weise dar. Heartfield entwarf dieses Motiv zu Beginn des Jahres 1935 für die AIZ und gab seiner Bild-Montage den Titel "Die drei Weisen aus dem Sorgenland". Marinus dramatisierte fünf Jahre später dieses Thema, in dem er in einer Montage für die Zeitschrift Marianne 1940 die politischen Akteure des NS-Regimes (Goebbels, Hitler und Göring) auf einem fast gerissenen Seil darstellt und so das Ende des "Dritten Reiches" symbolisiert: den unvermeidlichen Fall in die aufgestellten Speerspitzen. Der Vergleich dieser Fotomontagen ist deshalb interessant, weil Heartfield und Marinus die gleiche Bildidee aufgrund der veränderten Kriegslage unterschiedlich akzentuierten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide Künstler mit einem komplexen Bildrepertoire arbeiteten und ihre Fotomontagen zu symbolischen, allegorischen und metaphorischen Kommentaren zur politischen Situation in Europa verdichteten. Diese Bild-Kommentare sind in ihrer visionären Kraft auch heute noch verblüffend. Es gilt, die Mediengeschichte der 1930er Jahre um die Bilderwelt des Jacob Kjeldgaard zu erweitern, der bemerkenswerte und hoch interessante Fotomontagen für die Zeitschrift Marianne entwarf.
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