Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Miriam Halwani

Der wieder entdeckte Kriegsfotograf

Ernst Volland, Heinz Krimmer (Hg.): Jewgeni Chaldej. Der bedeutende Augenblick – Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin, 9. Mai bis 28. Juli 2008, Leipzig: Neuer Europa Verlag, 2008  – 26 x 21,7 cm, 208 S., ca. 200 s/w-Abb. - gebunden – 29,90 Euro

 

Erschienen in Fotogeschichte 110, 2008

Jewgeni Chaldej (1917–1997) gehört zu jenen Fotografen, die das kollektive Bildgedächtnis ausstatten und deren Name doch (noch) wenig vertraut klingt; in den einschlägigen Fotogeschichten bleibt er jedenfalls unerwähnt. Geboren in der heutigen Ukraine, verliert er früh seine Mutter während eines Pogroms, seinen Vater und drei seiner vier Schwestern werden von den Nationalsozialisten ermordet. Zur Fotografie kommt er autodidaktisch, als er mit zwölf Jahren aus den Brillengläsern der Großmutter eine Kamera zimmert. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere erhält er von Robert Capa eine Speed Graphic-Kamera. Mit dem Bild des fahnenschwenkenden sowjetischen Soldaten auf dem ausgebrannten Reichstagsgebäude in Berlin hat er sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern und politischen Dokumentationen längst erobert, nun erscheint anlässlich der ersten großen Retrospektive in Deutschland, ein Katalog mit mehr als 200 Bildern aus seiner Zeit als Presse- und Kriegsfotograf bei TASS, der Roten Armee und verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Dass Volland und Krimmer, die Herausgeber des Katalogs, selbst Sammler und Entdecker von Chaldejs Werken sind, trägt zur üppigen Bildausstattung (zahlreiche doppelseitige Vollbilder) wie zur intimen Note bei. Zitate begleiten die Bilder, vom Familienfoto bis zur Serie jener Flaggenbilder, die heute im ikonischen Titelbild so präsent sind. Es sind Bilder eines russischen Juden, der mit der Kamera im Gepäck Berlin erobert, wie eines seiner Bilder witzelnd untertitelt ist. Es sind Bilder eines involvierten, betroffenen Fotografen.

Um seine religiöse Identität geht es auch im ersten Beitrag des Bandes von David Shneer. Die zentrale Rolle, die das Judentum im privaten wie beruflichen Leben Chaldejs einnimmt, wird, von persönlichen Aussagen gestützt, zum Ausgangspunkt einer Betrachtung des Juden in der russischen Fotografie. Erstaunlich ist, wie locker hier mit Klischees umgegangen wird. Da heißt es Chaldej personifiziere das "Büchervolk", und stehe als Vertreter des neuen (jüdischen) "Medienvolkes" an vorderster Front, im wahrsten Sinne. Was Chaldej wohl selbst dazu gesagt hätte" In den publizierten Arbeiten interessiert ihn jedenfalls das Schicksal des Menschen, das Leid der Juden, die Opfer des Krieges. Da ist einmal das Bild eines brennenden Hauses, vor dem sowjetische Truppen vorbeiziehen; Chaldej berichtet, dass in dem Haus ein Lagerkommandant wohnte und er deshalb das Haus eigenhändig in Brand und den Brand im Bild noch in Szene setzt. Und später, als er im Auftrag der TASS den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess mit der Kamera begleitet, setzt er alles daran selbst, lächelnd, mit Göring fotografiert zu werden. Dies belegt wohl jenes "Spannungsverhältnis aus Dokumentation und Subjektivität", das Bernd Hüppauf in seinem Beitrag als Charakteristikum von Chaldejs Ästhetik entlarvt. Und vielleicht ist es eben jenes Spannungsverhältnis, das Chaldejs internationale Würdigung in die Nachwendezeit verschob. Denn politisch neutral, Diktum des Dokuments, bleibt er – wie auch" – nicht.  

"Der bedeutende Augenblick", so heißt der Katalog, spielt nicht zufällig auf Cartier-Bressons "entscheidenden Augenblick" an, den Augenblick, auf den der Fotograf, wenn es sein muss, Stunden wartet. Der bedeutende Augenblick aber, das ist ein anderer: ihm wird Bedeutung verliehen. Und damit berührt man das Chaldej"sche Ethos: Bedeutung wahrzunehmen und zu generieren. Wunderbar lässt sich das in Vollands Artikel zur "Flagge des Sieges" nachvollziehen. Nicht nur zeigt sich, dass jener Augenblick, auch von anderen Fotografen festgehalten wird. Sondern auch, wie Chaldej zur Mythologisierung seiner eigenen Bilder und des Momentes beiträgt. Den entscheidenden Augenblick, der Befreiung Berlins durch die Sowjets am 30. April 1945, rekapituliert er am 2. Mai an historischer Stätte zum bedeutenden Augenblick. Das freudetrunkene Hissen der Flagge, übt er auf dem Reichtag sowohl als auf der Quadriga des Brandenburger Tors und am Flughafen Tempelhof, alles am gleichen Tag. Von Inszenierung ist im Katalog leider nur bei Volland die Rede und dort mehr unter technischem Aspekt, von der Inszenierung in der Dokumentarfotografie, der Kriegsfotografie leider gar nicht. Doch wie viel wurde da geplant und gestylt" Der Reichtag als Kollektivsymbol ist bewusst gewähltes Motiv, das mit seiner tatsächlichen Funktion in den Jahren der Nazidiktatur freilich nicht zu erklären ist. Der Fahnenträger auf dem Dach, trägt eine solche Last an Bedeutung, dass es schwer wird, Hüppaufs Behauptung, Chaldejs Fotos seien keine Zeichen, nachzuvollziehen. Dieses Bild ist Symbol – es ist zu einem geworden, wie Vollands Rezeptionsgeschichte anreißt und es ist als solches konzipiert. Dass die Rauchschwaden am Horizont montiert sind – Chaldej spricht von "Kombinationen", dass die zweite Uhr am nackten Handgelenk moralisierend retuschiert wurde, und dass auch die Fahne hin und wieder zu einer bauschig gen Himmel wehenden, mithin farbigen, gestaltet wurde, ist heute Legende. Angeblich, brachte der Fotograf selbst die Flagge an den Ort des Geschehens. Volland leistet hierin kenntnisreiche Dekonstruktion einer Ikone. Und vor allem: er erzählt die Geschichte dieses Bildes weiter, berichtet von der politischen Vereinnahmung, von Chaldejs Abkommen mit Stalin, die wahre Identität der drei Soldaten zu verheimlichen, um den drei von ihm gewählten "Helden" uneingeschränkte Ehre zukommen zu lassen, von der ambivalenten Haltung Chaldejs Stalin gegenüber, von der Flagge im Moskauer Museum der sowjetischen Streitkräfte und von der Reproduktion des Bildes auf Zigarettenpackungen, T-shirts und Briefmarken. Der Hinweis auf Rosenthals Iwojima bleibt auch nicht aus.

Was man sich an dieser Stelle wünscht, ist die differenziertere Analyse des propagandistischen, dienenden Gehalts in Chaldejs übrigen Serien und Werkgruppen. Wenig Auseinandersetzung findet etwa mit den Werken der Nachkriegsjahre, des Alltags, der technischen Errungenschaften, statt. In trauter 50er Jahre Idylle präsentiert sich ein prächtiges Kaufhaus in Moskau, eine schöne Feldarbeiterin vor großem Mähdrescher oder der "Arbeiter aus der Ölproduktion am Feierabend", der mit einem Fernsehgerät im Hintergrund von Porzellantellern isst und aus Kristallgläsern trinkt, die Uhr steht auf Viertel nach fünf. Immerhin bringt Peter Jahn in seinem Beitrag zur russischen Kriegsfotografie aufschlussreiche Hintergründe und den Vergleich mit anderen Fotografen und deutet eine gegenläufige Meinung zu Hüppauf an, der nämlich behauptet, Propaganda und Heldenbilder blieben im Werk "marginal".

Ob er sich nicht schäme, das Unglück zu fotografieren, wird Chaldej von einer alten Frau gefragt, die alles verloren hat. Die Frage bleibt unbeantwortet. Das Leid, das wir sehen, ist heute im Kunstkontext des Katalogs zu betrachten, weil Chaldej abseits jeglicher Propaganda ein humanistischer Blick zu eigen ist, weil er Bilder mit Symbolkraft lädt und: weil zwischen Betrachter und Abgebildetem ein halbes Jahrhundert liegt. Betrachtet man das mit der Nadel zerkratzte Handgelenk des Soldaten beim Flanieren durch den Katalog, offenbart sich eine mediale Merkwürdigkeit, ein Katalog-"punctum", wenn man so will: der im Bild verletzte Arm fügt sich ganz natürlich in die Serie der Gequälten, Verstümmelten und Vertriebenen, denen Chaldej auf seinem Feldzug begegnet. Hier treten eben Propaganda und Einfühlung, virtuelle und reale Eingriffe gegeneinander an, die großen und die kleinen Taten. Am gleichen Tag, an dem Chaldej das Fahnenbild aufnimmt, trifft er am Fuße des Reichstags den Dichter Jewgeni Dolmatowski mit einer Hitlerbüste lachend unterm Arm und fotografiert ihn.  

1948 wird Chaldej von der Agentur TASS entlassen; offiziell wegen Unprofessionalität, dem eigenen Bekunden nach, weil er Jude ist. Es ist die Geschichte von Aufstieg, Fall und später Anerkennung eines Fotografen, die hier erzählt wird. In sein dimensionenreiches Wirken führt der Katalog anhand vier ausgesuchter Beiträge ein: in Chaldej, den jüdischen Fotografen, Chaldej, den Kriegsfotografen, Chaldejs Ikone und seine Ästhetik. Verglichen mit der Bildfülle ist das wenig, aber für den Leser genau das richtige Verhältnis, um mit diesem "concerned photographer" auf Tuchfühlung zu gehen, ihn kennen zu lernen. Der Katalog stellt Chaldejs Werk erstmals umfänglich vor, mit Brüchen. Sogar die Kratzer auf der Bildoberfläche geben die Abbildungen wieder – ein intimes Porträt, das noch Fragen bereithält.       

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