Jörn Glasenapp
Ein Fotobuchklassiker neu gesichtet
Anthony W. Lee und Richard Meyer: Weegee and Naked City, Defining Moments in American Photography, Volume 3. Berkeley: University of California Press 2008 – 20,3 x 15,2 cm, 132 S., 37 Abb. in S/W, broschiert – 16,99 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte 109, 2008
Weegee gehört zu den wenigen Fotografen, über die bereits derart viel geschrieben wurde, dass die Verwendung des Attributs "reichlich" durchaus gerechtfertigt erscheint, was indes mitnichten bedeutet, dass nichts Neues über den New Yorker gesagt werden kann. Den diesbezüglichen Beweis tritt die hier zur Diskussion stehende Studie an, die sich – als dritter Band der sehr zu begrüßenden neu gegründeten Reihe "Defining Moments in American Photography" – dem wichtigsten Werk Weegees widmet: Naked City. Im Juni 1945 erstmals erschienen, wurde es sogleich als fotografische Sensation gefeiert und gilt mittlerweile als das mit Abstand bedeutendste und einflussreichste Fotobuch über New York.
Das Meisterwerk des Fotografen in seinen Entstehungskontext rückzuverorten, sei, so Lee und Meyer in der Einleitung, das vornehmliche Ziel ihrer Untersuchung (und dieses Ziel wird eindrucksvoll erreicht). Entsprechend ausführlich setzen sie sich in ihr mit Weegees Tätigkeit als news und crime photographer im Dienste der New Yorker tabloid press auseinander, wobei vor allem die große Bedeutung, die der PM Daily für den Werdegang des Fotografen zukam, herausgestellt wird. Doch auch die sich schon früh abzeichnende Vereinnahmung des Fotografen durch das Kunstsystem findet angemessene Berücksichtigung. Diese erfolgte in mehreren Schritten, als deren initialer sicherlich "Murder is My Business" bezeichnet werden kann, Weegees erste Einzelausstellung, die 1941 in den Räumen der renommierten New Yorker Photo League stattfand und, wie die zahlreichen Aufnahmen der Ausstellungsinstallation belegen (Abb. 1), die einzelnen Fotos im Stile der tabloids präsentierte. "With its vernacular title and visual excess, Murder is My Business presented photography neither as fine art nor as a tool of social justice. Rather, it inserted the visual logic of the tabloid into the galleries of the Photo League", erklärt Lee, dem zweifelsohne zuzustimmen ist, wenn er behauptet, dass Weegee der Aufstieg in der Kunstszene, welcher bereits 1943 ins Museum of Modern Art führte, nicht trotz, sondern wegen seines Boulevardhintergrunds gelang; letzterer wurde von dem an der Legendenbildung um seine Person bekanntlich kräftig mitarbeitenden Fotografen stets unterstrichen. Dass die 'Aufwertung' zur Kunst nicht ohne Verluste erfolgte, die darin bestanden, dass Weegees Aufnahmen, präsentiert an der Museumswand, um entscheidende ursprüngliche Bedeutungspotenziale gebracht und dadurch gleichsam 'gezähmt' wurden, versteht sich indes von selbst.
Abschließend sei angemerkt, dass Lees und Meyers klar geschriebene sowie extensiv und hochwertig bebilderte Studie die Weegee-Forschung einen deutlichen Schritt voranbringen dürfte. Zugleich zeigt sie in mustergültiger Weise, was es heißt, Fotogeschichte als kontextsensitive Funktionsgeschichte zu betreiben. Dass sich die Untersuchung einem Fotobuch widmet, erscheint angesichts der Aufwertung, den dieses in den letzten Jahren (auch dank Martin Parrs und Gerry Badgers zweibändiger Fotobuchgeschichte) erfuhr, schlüssig. Es ist zu hoffen, dass Lees und Meyers Bemühungen Nachfolger finden werden; schließlich steckt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Fotobuch nach wie vor in den Anfängen.
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