Nora Mathys
Vom Faschismus zur Wirklichkeit
Enrica Viganò (Hg.): Neorealismo. Die neue Fotografie in Italien 1932-1960, Winterthur: Fotomuseum Winterthur, Christoph Merian Verlag, 2007 – Mit Beiträgen von Giuseppe Pinna, Gian Piero Brunetta, Bruno Falcetto, Enrico Manfredini und Fabio Amodeo und einem Vorwort von Enrica Viganò – Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Fotomuseum Winterthur, 1. September bis 18. November 2007 – 24 x 30 cm, 352 Seiten, ca. 250 S/W-Abb. Duplex, gebunden – 78 CHF/49 EUR
Erschienen in: Fotogeschichte 108, 2008
Der Begriff "Neorealismo" steht für die neue Seh- und Erzählweise, die in Italien nach dem Faschismus Film und Literatur prägte: Nach den Erfahrungen mit Faschismus und Krieg fanden die Vertreter des Neorealismus in den alltäglichen Geschichten der kleinen Leute eine Realität, die sie in einer breiten Masse mit dem "Auge der Liebe" verständlich machen wollten. Die italienische Fotografie der Nachkriegszeit wurde bisher nicht im Zusammenhang mit der neorealistischen Bewegung gesehen. Dies hat das Fotomuseum Winterthur nun nachgeholt. Enrica Viganò hat eine Ausstellung zusammengestellt, die einen Überblick über die italienische Fotografie zwischen 1932 bis 1960 bietet. Das Projekt will zeigen, dass in dieser Epoche die Fotografie mit dem Konzept des filmischen und literarischen Neorealismus korrespondierte. Der Katalog umfasst neben dem zentralen Bildteil und dem Vorwort der Herausgeberin, je einen Beitrag zum Neorealismus in den Bereichen Fotografie, Film und Literatur sowie ein Lexikon zur neorealistischen Fotografie und eine Zeittafel zur Einordnung der Ereignisse.
Von den drei Katalogbeiträgen schlägt einzig Giuseppe Pinna in seinen für die Publikation zentralen Ausführungen zur Fotografie Brücken zum neorealistischen Film. Die beiden anderen Aufsätze zum Film von Gian Piero Brunetta und zur Literatur von Bruno Falcetto bleiben seltsam unberührt von der Fotografie und weisen nur wenige Berührungspunkte untereinander auf, sodass der Neorealismus als Phänomen in der Publikation in die einzelnen Bereiche zerfällt und die Gemeinsamkeiten kaum sichtbar werden. Und doch fallen dem aufmerksamen Leser verschiedene Verbindungslinien insbesondere zwischen Film und Fotografie auf, die in dem Katalog aber nirgends explizit gemacht werden: Der Beginn des Neorealismus wird in Fotografie, Film und Literatur in der Zeit des Faschismus angesetzt, der Höhepunkt wird ab Mitte der 40er bis Ende der 50er Jahre verortet, wobei die Fotografie ihren Höhepunkt etwas später fand. Mit der "Mostra della Rivoluzione Fascista", die 1932 in Rom stattfand, erhob der italienische Faschismus Film und Fotografie zu den zentralen Propagandamedien, mit denen vor allem die ländliche Bevölkerung erreicht werden sollte, da sie für die damals noch zahlreichen Leseunkundigen verständlich waren. Insbesondere der Fotografie wurde eine universelle und wahrheitsgetreue Sprache zu gesprochen, die Beweise für den Erfolg Mussolinis Politik liefern sollte. Film und Fotografie erlebten während dem Faschismus einen enormen Aufschwung. Die Fotografen und Kameramänner wurden dazu ausgebildet, die "reale" Welt abzubilden. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Verbreitung der Bilder war die illustrierte Presse, die in Italien vor allem Ende der 30er Jahre einen enormen Aufschwung nahm. Allerdings fielen einige der Zeitschriften bald der Zensur zum Opfer. Diese intensive politische Nutzbarmachung und die gezielte Verbreitung der Fotografie (und des Films) hat, so Pinna, "die sozialen und kulturellen Bedingungen" geschaffen, die den Hintergrund des Neorealismus bildeten. Die Fotografie konnte zu einem zentralen Mittel des Neorealismus werden, weil sie, als moderne Medien des Regimes, der Bildung, der Information und der politisch-kulturellen Erziehung diente.
Brunetta weist auf die lange Tätigkeit zahlreicher Kameramänner und einzelner Regisseure von den 30er bis in die 50er Jahre hin, um deutlich zu machen, dass Ausbildung und berufliche Anfänge zentraler Figuren des filmischen Neorealismus in die Zeit des Faschismus fallen. Der Blick der Kameramänner wurde "zur Sehhilfe für die Regisseure", der Übergang vom Faschismus zum Neorealismus ist daher in der Bildsprache ein fließender. So dürfte Pinnas auf die Fotografie bezogene Feststellung, dass der "Übergang vom faschistischen zum antifaschistischen Realismus nicht über eine Tabula rasa" führte und dass "viele Grundprinzipien unverändert weiter [galten], sowohl was die Themen als auch die Ausdrucksformen betraf" gleichermaßen für den Film gelten.
Auch die Literaten, das zeigt Bruno Falcetto in seinem Beitrag, waren ebenso wie die Kameramänner, Regisseure und Fotografen bestrebt nach einer realistischen und für das breite Publikum verständliche Darstellung, deren Kennzeichen eine starke Ich-Person – Falcetto spricht für die Literatur von einer subjektivistischen Wende ", ein starkes Stilempfinden sowie eine genaue Verortung der Handlung in Raum und Zeit sind. So stehen einzelne Figuren im Mittelpunkt einer Geschichte, die aber symbolisch für das Allgemeine steht. Das dokumentarische Schreiben, Filmen oder Fotografieren ist die zentrale Zugangsweise des Neorealismus, wobei der Blick auf die Menschen nach dem Faschismus ein "jungfräulicher" und "von der Liebe geprägter" sein sollte. Auf dem Hintergrund des durch den Faschismus und Krieg zerstörten Landes schöpfte der Neorealismus die Kraft der Zeugenschaft, die seine Ethik des Sehens und Erzählens bestimmte.
Es erstaunt daher nicht, dass die neorealistische Fotografie, aber ebenso der Film und in geringerem Maße die Literatur, von ethnologischen Feldstudien insbesondere von den Arbeiten des Anthropologen Ernesto de Martino beeinflusst waren. De Martino hat auf zahlreichen Feldforschungsreisen in den Süden Italiens Fotografen wie Arturo Zavattini, Ando Gilardi und Franco Pinna mit der fotografischen Dokumentation beauftragt und sie so zu eigentlichen Ethnologen gemacht.[1] Die von Pinna als zentrale Technik des Neorealismus beschriebene Vorgehensweise des "Beschattens" steht in engem Zusammenhang mit diesen ethnografischen Studien. Pinnas Forderung, den Neorealismus der Fotografie nicht nur an einzelnen Figuren zu verorten, sondern ihn hinsichtlich der Methoden und Themen zu untersuchen, kommt der Band bedauerlicherweise nicht nach. Der breitere Kontext der Bilder geht durch die Zusammenfassung der Fotografien in einem eigenständigen unkommentierten Bildteil verloren und die Fragen, die einzelne Bilder aufwerfen, bleiben unbeantwortet.
Wie bereichernd die Einbindung weiterer Kontextinformationen zu einzelnen Aufnahmen hätten sein können, kann am Bild der Klagefrau von Franco Pinna nachvollzogen werden. Die Aufnahme entstand auf einer der gemeinsamen Feldforschungsreisen mit de Martino und seinem Team. Der Kontakt zu den Frauen wurde über mehrere Reisen hin hergestellt und als unverzichtbare Mittelsperson fungierte Vittoria de Palma, die das Vertrauen dieser Frauen gewann und den Kontakt zum Fotografen vermittelte. Die Aufnahme geschah abseits des Dorfes in einem einsamen Olivenhein und nicht am üblichen Klageort, der Wohnung, weil das Fotografieren des Rituals auf den Widerstand der Nachbarinnen gestoßen wäre.[2] Das Foto zeigt als nicht eine beobachtete Szene, sondern dokumentiert die Inszenierung eines Rituals für Forschungszwecke. Zudem macht die Entstehungsgeschichte das ambivalente Verhältnis der ländlichen Bevölkerung gegenüber dem Fotografieren von religiösen Riten deutlich.
Der Bildteil dokumentiert in eindrücklicher Weise die hohe Qualität und die reiche thematische und formale Vielfalt der neorealistischen Fotografie. Er ist in folgende Rubriken eingeteilt, wobei die Aufnahmen teilweise nach Fotografen/Reportagen geordnet sind: Im Abschnitt "Realismus im Faschismus" finden sich neben Bildern des faschistischen Istituto Luce, die den Fortschritt und die Industrialisierung Italiens zeigen, erstaunlicherweise zahlreiche Aufnahmen zur Armut und Gläubigkeit des Landes, so beispielsweise die berührende Serie zur Pilgerwanderung in Vallepietra von Luciano Murpugo. Das Herzstück der neorealistischen Fotografie Italiens und damit des Bandes bilden die Rubriken "Elend und Wiederaufbau", "Streifzüge durchs Landesinnere" und "Fotojournalismus und Illustrierte", deren zeitlicher Schwerpunkt auf die Hochzeit des Neorealismus in den 1950er Jahre fällt. In diesen beeindruckenden Bildern wird der Wille zur Dokumentation greifbar und es entsteht ein vielfältiges Bild von der italienischen Nachkriegsgesellschaft. "Die Fotoclubs: Zwischen Kunst und Dokumentation" schließlich sind nur mit wenigen Bildern vertreten und stehen im Katalog insgesamt etwas im Abseits.
Als Anhang findet sich zum einen das von Enrico Manfredini erstellte Lexikon zur neorealistischen Fotografie, das die zentralen Figuren, Zeitschriften, Clubs und Ausstellungen und Bildbände umfasst und so ein hervorragendes Nachschlagewerk für die italienische Fotografie zwischen 1930 und 1960 darstellt. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Personen und Organen sind durch Hervorhebungen der Namen sichtbar gemacht, so dass das Netzwerk und die Tätigkeit einzelner Fotografen gut greifbar werden. Zum anderen bietet die von Fabio Amodeo zusammengestellte Zeittafel in aller Kürze die zentralen historischen und fotohistorischen Eckdaten. Einzig die Trennung von Fotografie und Neorealismus steht etwas im Widerspruch zur zentralen Aussage des Katalogs, dass es eine neorealistische Fotografie gab.
[1] Clara Gallini: Das Spiel der Blicke. Konstruktion der Bilder in den Forschungen und Texten von Ernesto de Martino, in: Fotogeschichte, 22. Jg., Heft 84, 2002, S. 35-46, hier S. 35.
[2] Gallini, (Anm.1), S. 41.
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