Jörn Glasenapp
Der Facettenreiche
Bodo von Dewitz, Museum Ludwig Köln (Hg.): Chargesheimer. Bohemien aus Köln 1924-1971 – Köln: Greven 2007 – 28,7 : 24,7 cm, 352 Seiten, mehr als 460 zwei- und vierfarbige Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag – 48 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 108, 2008
Diese Publikation war wirklich mehr als überfällig! Denn viel zu lange wurde der keineswegs nur als Fotograf tätige Künstler, der eigentlich Karl Heinz Hargesheimer hieß, sich aber ab 1948 "Chargesheimer" nannte, nicht nur vom Fotoausstellungsbetrieb, sondern auch von der fotohistorischen Forschung wenn nicht vollends ignoriert, so doch reichlich stiefmütterlich behandelt. Dies hat natürlich Gründe: Seit einigen Jahrzehnten schon steht der 1924 in Köln Geborene und 1971 ebendort durch Freitod Verstorbene allzu sehr im Schatten anderer Protagonisten der bundesrepublikanischen Fotoszene. An Otto Steinert wäre hier zu denken, zu dessen subjektiver Fotografie Chargesheimer in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre bekanntlich recht enge Beziehungen unterhielt, vor allen Dingen aber an die Düsseldorfer Fotografie, Bernd und Hilla Becher sowie ihre auf dem internationalen Kunstmarkt zunehmend gefragteren Schüler. Der vorliegende Katalog, der anlässlich einer großen, am Kölner Museum Ludwig veranstalteten Retrospektive erschien, zeigt nicht nur, dass dieses Dasein an der Peripherie, dieses Im-Hintergrund-Stehen alles andere als gerechtfertigt ist, sondern er bestätigt vielmehr, was der Kenner der kunstfotografischen Bemühungen in Nachkriegsdeutschland letzten Endes längst wusste bzw. hätte wissen müssen: nämlich, dass die Positionen dringend zu überdenken sind, da es sich bei Chargesheimer zwar sicher nicht um den einflussreichsten bundesrepublikanischen Fotografen handelt – hier haben ihm Steinert und die Bechers in ihrer institutionell abgesicherten Funktion als Fotolehrer natürlich Entscheidendes voraus ", wohl aber um den vielseitigsten und, sprechen wir es aus, bei weitem talentiertesten und interessantesten. Was er auch fotografisch anpackte, immer wusste Chargesheimer zu überzeugen: ob als überaus experimentierfreudiger Schöpfer hochabstrakter Lichtgrafiken, als eigenwilliger Porträtist – erinnert sei hier nur an sein berühmt-berüchtigtes Adenauer-Porträt, welches im September 1957 das Cover des Spiegel zierte ", als der humanistischen Life-Fotografie ganz und gar verpflichteter street photographer, der mit seinen in den späten fünfziger Jahren erschienenen Fotobüchern, allen voran Cologne intime (1957) und Unter Krahnenbäumen (1958), die einzigen deutschen Buchklassiker des Genres vorlegte, oder aber als engagierter, dabei aber durch und durch desillusionierter Dokumentarist, dessen 1970, also kurz vor seinem Tode entstandenen Stadtporträts Köln 5 Uhr 30 und Hannover aufs Eindinglichste die "Unwirtlichkeit unserer Städte" herausstellen, von der Alexander Mitscherlich fünf Jahre zuvor in seiner gleichnamigen Philippika berichtete.
In all seinem Facettenreichtum wird das Chargesheimersche "uvre in der hier zur Diskussion stehenden Publikation vorgestellt, die als hervorragend gelungen bezeichnet zu werden verdient, und dies in nahezu jeder Hinsicht: Die Abbildungen wurden gut ausgewählt (wir sehen bekanntes Bildmaterial ebenso wie bislang weitgehend unbekanntes) und sind qualitativ von höchster Qualität. Zudem präsentieren sie – ein Aspekt, der ein besonderes Lob verdient – die Aufnahmen immer wieder im Kontext der ursprünglichen Buchproduktionen, so dass sich die Rhetorik derselben dem Betrachter erschließt. Die zahlreichen Textbeiträge, verfasst unter anderem von Bodo von Dewitz, Sigrid Schneider und Reinhard Matz, sind nahezu allesamt ausgesprochen lesenswert und sorgen in beträchtlichem Maße dafür, dass der Katalog fürs Erste, wenn es um Chargesheimer geht, die primäre Anlaufstelle darstellen wird. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn er darüber hinaus dazu beitragen könnte, das Interesse an dem Kölner Fotografen, der Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre immerhin schon einmal als eine Art Star der bundesrepublikanischen Fotografie gehandelt wurde, neu zu entfachen.
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