Alys George
Die ästhetische Moderne und die Fotografie
Michael North: Camera Works: Photography and the Twentieth-Century Word – Oxford, New York: Oxford University Press, 2005, $52.25
Erschienen in: Fotogeschichte 108, 2008
Wissenschaftliche Untersuchungen, die Schnittstellen zwischen Literatur und Fotografie interdisziplinär nachgehen, gewinnen seit geraumer Zeit"sowohl in der angloamerikanischen als auch in der deutschsprachigen geisteswissenschaftlichen Forschung"zusehends an Popularität. Die Dokumentation der Interaktion zwischen Fotografie und Literatur begann in den späten 1980er Jahren mit zwei wegweisenden Publikationen: Erwin Koppens Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung (Stuttgart: Metzler, 1987) erschien im gleichen Jahr wie Jefferson Hunters Image and Word: The Interaction of Twentieth-Century Photographs and Texts (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1987).[1] Der Trend zu Arbeiten, die die Rolle der Fotografie im Werk einzelner Autoren der Moderne – Henry James, Thomas Mann, Marcel Proust, Franz Kafka, Virginia Woolf, James Joyce u. v. a. – untersuchen, zeigt sich anhand einer Reihe zum Thema erschienener (vor allem Sammel-) Bände.[2] In solchen Werken wird typischerweise nach Belegen für den Einfluss visueller Medien auf das literarische Schaffen des jeweiligen Schriftstellers gesucht.
Eine herausragende Neuerscheinung, Michael Norths Camera Works: Photography and the Twentieth-Century Word (im November 2007 als Taschenbuch veröffentlicht), sprengt regelrecht den einseitigen, autorenbezogenen Rahmen bisheriger Arbeiten zu diesem Thema. North, Professor für Anglistik und Amerikanistik an der University of California, Los Angeles, sucht nicht nach angeblich fotografischen Schreibweisen in literarischen Werken, sondern eröffnet eine neue Sichtweise. Seine These, die Fotografie an sich sei eine Schreibweise der Moderne, verleiht Fox Talbots wohlbekannte Beschreibung der Fotografie als "words of light" Substanz.
Die Einleitung zu Camera Works untersucht sowohl die formalen Merkmale von technischen Aufnahmeverfahren, beginnend mit der Fotografie, als auch deren historischen Stellenwert für die moderne europäische und amerikanische Kunst und Literatur. So betrachtet war die Fotografie viel mehr als nur ein Medium: Sie gestaltete das gesamte technische, soziale und ästhetische Umfeld neu, in dem Autoren und Künstler ihre Werke schufen. In diesem diskursiven Kontext wurde die klare Demarkationslinie zwischen Sprache und Wahrnehmung zunehmend unscharf, die Beziehung zwischen Text und Bild rege und kritisch hinterfragt. Hier beginnt, so North, die ästhetische Moderne. Die erweiterten formalen Repräsentationsmöglichkeiten der Fotografie (und später auch des Films) schienen einen utopischen Zwischenraum zu ermöglichen, in dem die mitteilende Funktion der Schrift mit der vermeintlichen Unmittelbarkeit des Bildes zu vereinen wäre. Der Traum vom unmittelbaren Ausdruck des Erfahrenen war jedoch mit der Realität der damals neuen visuellen (Massen-)Medien uneins. Eben diese durch die alternative Aufzeichnungspraktiken entstandene Spannung lieferte Künstlern und Schriftstellern der Moderne und Avantgarde nicht nur eine formale Herausforderung sondern auch inhaltliche Sujets. Das berücksichtigend, bietet North eine in der Materialgeschichte der Fotografie eingebettete Sichtweise auf die ästhetische Moderne, deren künstlerisches Schaffen mit den technologischen Fortschritten der Modernität untrennbar verflochten war.
Der erste Teil des Buches, "The Logocinema of the Little Magazines", umfasst je ein Kapitel zu den drei "kleinen Zeitschriften" Camera Work, transition und Close Up. Zuerst hinterfragt North die Multidisziplinarität Alfred Stieglitz" ikonischer Camera Work, in der seinerzeit neben Fotografien der Photo-Secessionisten auch Literatur und Malerei u. a. von Gertrude Stein und Pablo Picasso veröffentlicht wurden. Zitiert wird eine Anekdote vom Jahre 1912, als ein verblüffter Leser fragte, was "Picasso & Co." mit der Fotografie gemein habe. North postuliert, dass Camera Work nur sichtbar machte, was durch die Fotografie schon geschehen war, nämlich dass Literatur und die visuellen Künste durch das fotografische Medium in ein neues Verhältnis zueinander gerückt wurden. Deshalb konnte eine Zeitschrift über die Fotografie genauso zu einem wichtigen Vehikel für abstrakte Kunst und experimentelle Literatur werden.
In Folge untersucht North Eugene Jolas" avantgardistische Zeitschrift transition, die vor allem für ihre Fortsetzungsveröffentlichung von Finnegans Wake in Erinnerung bleibt. Dennoch war sie auch ein wichtiges Forum für Antonin Artaud, Man Ray, Louis Aragon, Sergei Eisenstein u. v. a. Ein hybrides Artefakt, transition war international konzipert, mehrsprachig, visuell und verbal gestaltet. Kurz gesagt: sie war das ideale Sprachrohr für eine "Revolution of the Word", die das optische und auratische Potential der Sprache propagierte. In dieser Revolution lieferten Fotografie und Film Impulse als alternative Schriftformen und wurden der Sprache gleichgestellt. Der vielleicht radikalsten Auffassung wurde in der "Readie Machine"des Autors Robert Carlton Brown Form gegeben. Eine mechanische Apparatur mit integrierter Spule, die "Readie Machine", nahm in gewissem Sinne das e-book vorweg, indem sie Texte in Bewegung setzte.
North schließt diesen Teil seiner Analyse mit einem Kapitel über die von 1927 bis 1933 in der Schweiz veröffentlichte, transnationale Filmzeitschrift Close Up, auf deren Seiten die rege Debatte um den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm Ende der 1920er Jahre nachzulesen ist. Die Herausgeber, Kenneth Macpherson und Bryher, unter Mitarbeit von H.D., sahen den Stummfilm, wie Béla Balázs schon zuvor, als eine utopische Universalsprache. Sie bestanden polemisch auf der internationalen, unmittelbaren "Lesbarkeit" und Verständlichkeit des Gestisch-Visuellen. Die Einführung des Tonfilms verkomplizierte diese Auffassung enorm. Zusammen genommen belegen die drei Kapitel des ersten Teils einen Spannungsbogen im Verhältnis der Literatur zu den neuen Medien Fotografie, Stummfilm und Tonfilm. Diese Beziehung wurde anfänglich von Faszination charakterisiert, wurde aber zunehmend problematischer und heikler.
Der zweite Teil "Spectatorship, Media Relations, and Modern American Fiction" wirft neues Licht auf das literarische Schaffen bedeutender amerikanischen Schriftsteller des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Verbindung zwischen Fotografie und literarischem Realismus bei F. Scott Fitzgerald, John Dos Passos, W. E. B. Du Bois, James Weldon Johnson und Ernest Hemingway wird geprüft, und auch hier gelingen North einige überraschende Entdeckungen. Was letztendlich entsteht ist ein neues Bild der amerikanischen literarischen Szene nach der Jahrhundertwende, inklusive Neudeutungen der Werke einiger Autoren, die nicht zu den experimentierfreudigsten Schriftstellern gezählt werden können. Hier sei die Interpretation von Fitzgeralds The Great Gatsby als "spectroscopic fiction" besonders hervorgehoben. North schafft es auch, soziale Themen wie Rassenpolitik im Spiegel der neuen Medien zu lesen, indem er eine geschickte analytische Bewegung von Fotografie und Film hin zu einer allgemeineren Kultur der spectatorship in der modernen Gesellschaft zeichnet. So dokumentiert er auch die Entwicklung einer Kultur des Sehens, die sich aus der Position des Fotografen hinter der Kamera heraus entwickelt.
Norths Thesen sind besonders erkenntnisreich, weil er an den durch Meinungsverschiedenheit gekennzeichneten Diskurs über die Grenzen der Moderne anknüpft. Camera Works weist theoretische Ähnlichkeiten zu einem seiner früheren Werke (Reading 1922: A Return to the Scene of the Modern; New York/Oxford: Oxford University Press, 1999) und zu Sara Danius" ausgezeichneter Studie The Senses of Modernism: Technology, Perception, and Aesthetics (<st1:city><st1:place>Ithaca</st1:place></st1:city>: Cornell University Press, 2002) auf. Beide versuchen die einflussreiche Auffassung u. a. Andreas Huyssens zu korrigieren, dass die ästhetische Moderne Antipathie gegenüber der Massenkultur hegen würde. North beweist entschlossen das Gegenteil. Er lehrt detailreich, dass literarische und künstlerische Werke die schillerndsten Früchte tragen können, wenn sie in Rücksicht auf ihren interdisziplinären Kontext gelesen werden. So wird im Spiegel der Anthropologie, Mode, Linguistik, Philosophie, Psychologie, die PR, Literaturtheorie, Jazz, Politik und Massenmedien eine neue Sichtweise auf die Literatur und Kunst der Moderne angeboten. Und so nehmen beinahe vergessene Autoren und bildende Künstler wie Bob Brown neben wohlbekannten Namen wie Marcel Duchamp ihren Platz ein. Norths Bezüge überraschen immer wieder, sind aber gleichermaßen nachvollziehbar wie überzeugend. Akribisch recherchiert und brillant geschrieben, sollte Camera Works richtungsweisend für ein methodologisches Umdenken der Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften, sowie der Film- und Medienwissenschaften sein.
[1]Jane M. Rabbs 1995 sorgfältig herausgegebene, umfassende Sammlung Literature and Photography: Interactions, 1840-1990: A Critical Anthology (Albuquerque: University of New Mexico Press, 1995) bleibt bis heute das Standard-Nachschlagewerk für Primärquellen zum Thema.
[2] Mit Photography and Literature in the Twentieth Century (David Cunningham, Andrew Fisher and Sas Mays (Hg.); Newcastle-upon-Tyne: Cambridge Scholars, 2005), Literary Modernism and Photography (Paul Hansom (Hg.); Westport, CT: Praeger, 2002), The Eye"s Mind: Literary Modernism and Visual Culture (Karen Jacobs; Ithaca: Cornell University Press, 2001), Thomas Mann: Fotografie wird Literatur (Eva-Monika Turck; München: Prestel, 2003) und Kafka and Photography (Carolin Duttlinger; Oxford: Oxford University Press, 2008) seien nur einige Titel erwähnt.
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