Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Fotobücher – ein neuer Markt

Martin Parr, Gerry Badger: The Photobook: A History, Volume 2 – London: Phaidon, 2006 29 x 25 cm, 320 S., ca. 850 Farb- und S/W-Abb. – Gebunden mit Schutzumschlag – 75 Euro

Erschienen in Fotogeschichte 105  |  2007

Wie lässt sich der Einfluss eines Buches messen" Über die Anzahl der verkauften Exemplare oder die Anzahl der Besprechungen oder die Inhalte der Besprechungen" Oder ist von Belang, in welchem Kontext das Buch rezipiert wird, oder wer es wo und wann zitiert" Oder lässt sich der Einfluss eines Buches gar nicht messen" Als vor zwei Jahren der erste Band von
The Photobook: A History
erschien, konnte man wohl noch nicht ahnen, welche Wirkung er haben würde. Er wurde nicht nur gut besprochen, er verkaufte sich offenbar auch sehr gut. Darüber hinaus hatte die Publikation noch einen weiteren Effekt: Viele der von Martin Parr und Gerry Badger vorgestellten Fotobücher wurde – fast über Nacht – zu gefragten Sammlerstücken. Vor allem Bücher, die in Fachkreisen noch wenig bekannt waren, erlebten eine ungeheuere Nachfrage, die Preise in Antiquariaten stiegen teilweise innerhalb kürzester Zeit um mehrere hundert Prozent. Einige der jüngeren Bücher, die noch über den gewöhnlichen Buchhandel lieferbar waren, waren bald ausverkauft, die Verlage druckten nach.
Das Phänomen "Fotobuchsammler" geht zwar nicht auf den Band The Photobook: A History zurück, aber das zweibändige Werk hat dieser Sammelbewegung einen ordentlichen Schub versetzt. Im Schatten des allgemeinen Fotobooms hat sich in den letzten Jahren ein schnell expandierender Markt für (alte und neue) Fotobücher entwickelt. Zweifellos hat das Internet viel zu diesem Boom beigetragen. Es führte im antiquarischen Buchhandel zu einer kleinen Revolution. Plötzlich wurde ein schwer überschaubarer Markt (einigermaßen) transparent. Die Wege der Bücher globalisierten sich allmählich. Nun war es möglich, diese auf der ganzen Welt zu kaufen und mühelos Preise zu vergleichen. Was im Bereich der Fotobücher fehlte, war allerdings eines: Expertise. Es gab noch wenige Standards über "wichtige" und "unwichtige" Bücher, es gab kein Überblickwerk, das versprach, im Dschungel der Fotobücher für Ordnung zu schaffen. Das Projekt The Photobook: A History tat genau dies. Oder genauer: es schuf die Voraussetzungen für die weitere schnelle Kommerzialisierung eines Sektors der Fotografie, den der Fotomarkt lange Zeit links liegen ließ. Denn Fotobücher sind keine Vintage prints. Sie galten deshalb zunächst nicht als begehrte Sammlerstücke. Nun hat sich das geändert. Der Markt für Fotografie, das zeichnet sich jetzt schon ab, wird in den nächsten Jahren weiter rapide wachsen.
The Photobook: A History ist also – zumindest in ökonomischer Hinsicht – ein höchst einflussreiches Buch. Und zugleich ein einträgliches: Denn nicht nur der Verlag verdiente daran. Auch die Privatsammlung Martin Parrs, aus der die vorgestellten Bücher stammten, hat durch die Publikation eine gewaltige Wertsteigerung erfahren. Und eine Reihe weiterer Fotobuchsammler, die rechtzeitig gehortet haben, dürfen sich auf satte Gewinne freuen.
Nun ist Band 2 von The Photobook: A History erschienen, wiederum stammen die vorgestellten Bücher aus der Sammlung von Martin Parr, wiederum hat die Texte Gerry Badger beigesteuert. Im Vorwort kommt Martin Parr auf die Folgen des ersten Bandes auf dem Fotobuchmarkt zu sprechen. Er bestätigt den Boom und die Preissteigerungen, die das Buch ausgelöst hat. Und er spendet den Sammlern und Möchtegern-Sammlern, die die Preise für Fotobücher bereits ins Unerschwingliche entschweben sehen, Trost: "Viele der Bücher, die vorgestellt wurden, sind noch lieferbar und sie können leicht zum Originalbuchhandelspreis erworben werden." Zudem, so argumentiert er, wurden viele vergriffene Bände nachgedruckt. Auf diese Weise seien nun auch ältere, lange Zeit nicht mehr erhältliche Klassiker, wieder im Handel erhältlich.
Der zweite Band von The Photobook: A History schlägt einen kürzeren zeitlichen Bogen als der erste. Er stellt vorwiegend Fotobücher aus den Jahren nach 1945 vor, den Schwerpunkt bilden amerikanische und europäische Fotobücher der letzten Jahrzehnte. Lässt sich unser positives Urteil über Band 1, das in der Fotogeschichte, Heft 100, zu lesen war, auch auf den Band ausdehnen" The Photobook. A History, schrieben wir, "liefert nicht nur eine überblicksartige Geschichte des Fotobuchs, sondern das Buch ist selbst ein ausgezeichnet gestaltetes Fotobuch. Es ist auf zwei Bände hin angelegt. Im vorliegenden ersten Band wird die Geschichte des Fotobuchs des 19. und 20. Jahrhunderts (bis etwa 1990) erzählt, im zweiten Band, der demnächst erscheint, sollen vor allem zeitgenössische Fotobücher vorgestellt werden. (") Da es nicht leicht ist, die Ästhetik, Machart, aber auch die Objekthaftigkeit eines Buches in zweidimensionaler Form sichtbar zu machen, muss das ausgezeichnete Lay-out dieses Bandes besonders hervorgehoben werden. Gezeigt werden jeweils – in sehr guter Reproduktionsqualität – der Buchumschlag und mehrere ausgewählte Doppelseiten. Ein Text mit Hintergrundinformationen zum jeweiligen Band und sorgfältig zusammengestellte bibliografische Hinweise ergänzen den Bildteil. Das Spektrum der ausgewählten Fotobücher ist beeindruckend. Präsentiert wird nicht nur eine Hitliste sehr bekannter Bücher, die immer wieder als Beispiel "großer" Fotobücher vorgeführt werden."
Was die Ausstattung und Gestaltung betrifft, so kann man die positive Einschätzung getrost auch auf Band 2 übertragen. In inhaltlicher Hinsicht fällt das Urteil gemischter aus. Der zweite Band verzichtet, anders als der erste, auf eine längere, fundierte Einleitung und kommt schneller zur Sache: wiederum werden in neun Kapiteln Beispiele wichtiger Fotobücher des letzten halben Jahrhunderts vorgestellt. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass der zweite Band hastiger und oberflächlicher zusammengestellt wurde als der erste. Das macht sich weniger in den Beschreibungen zu den einzelnen Bänden bemerkbar als in den Einleitungen zu den Kapiteln, deren Konturen oft willkürlich sind und die oft nicht mehr als eine beliebige Klammer darstellen, um eine Gruppe von Fotobüchern unter einem Thema zu gruppieren. Neben recht oberflächlichen Kapiteltexten, die wenig Neues bieten (etwa "Other Territories. The worldwide Photobook", "Looking at Photographs. The Picture Editor as Author", "The Camera as Witness: The "concerned" Photobook since World War II" und "The Düsseldorf Tendency") gibt es auch gute Abschnitte. Besonders interessant und spannend ist das Kapitel über die – weniger bekannten – Fotobücher, die im Auftrag von Firmen entstanden. Wir erfahren etwa, dass die als linke, kritische Fotografin bekannt gewordene Margaret Bourke-White 1936, also ein Jahr vor ihrem Erfolgsbuch You have seen their Faces (1937) unter dem Titel Coffee Through the Camera"s Lense ein weit weniger bekanntes Fotobuchprojekt für einen amerikanischen Kaffeekonzern produzierte, in dem sie die Kritik an den Arbeitsbedingungen der Plantagenarbeiter zurücknahm und die harte Arbeit als überaus erträglich präsentierte. Dass Firmen-Fotobücher oft weniger bekannt sind, hängt nicht nur mit ihrer teilweise niedrigen Auflage zusammen. Oft hat es den Anschein, dass diese Brotarbeiten in der Selbstinszenierung der Fotografen eher in den Hintergrund gedrängt werden. So wissen wir zwar etwa, dass Henri-Cartier Bresson 1952 den Band Der entscheidende Augenblick veröffentlichte, aber weit weniger bekannt ist, dass er 1969 für IBM unter dem Titel Menschen und Maschinen ein Firmenfotobuch gestaltete.
Einen wichtigen Aspekt, nämlich die Frage nach der Rolle der Fotobuchverlage in der Verbreitung, Popularisierung und Vermarktung von Fotografie streift Gerry Badger im einleitenden Kapitel über das amerikanische Fotobuch seit den 1970er Jahren. Er benennt das komplexe Netz an Akteuren (Verleger, Galeristen, Museen etc.), die hinter der zunehmenden Verbreitung von Fotografie in Buchform stehen. Er stellt zwei wichtige frühe Fotobuchverlage (Aperture und Lustrum Press) vor und er macht auch auf die Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Fotobuchmarkt aufmerksam. Hier an dieser Stelle, wo es darum geht, das gesellschaftliche Umfeld des modernen Fotobuchs genauer zu untersuchen, sind in Zukunft weitere, tiefer gehende Analysen vonnöten.
Fazit ist: Die beiden vorliegenden Bände von The Photobook. A history haben einen beeindruckenden Materialteppich ausgelegt. Nun geht es darum, auf dieser Grundlage weiterzuarbeiten, etwa die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Publikationsformen (Ausstellung, illustrierte Presse, Fotobuch, Internet etc.) in den Blick zu nehmen, einzelne Fotobuchprojekte umfassender zu untersuchen, Publikations- und Rezeptionsgeschichte miteinander in Verbindung zu setzen. The Photobook. A history ist ein guter Ausgangspunkt für solche Recherchen. Schade ist nur, dass der Literaturteil sich auch in Band 2 wiederum fast ausschließlich auf englischsprachige Texte beschränkt.

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