Christina Natlacen
Die Inszenierung des Affekts
Katharina Sykora, Ludger Derenthal und Esther Ruelfs (Hrsg.): Fotografische Leidenschaften - Marburg: Jonas, 2006 - 24,4 : 17 cm, 288 S., 150 Abb. (teilweise in Farbe), Gebunden, – 30
Erschienen in Fotogeschichte 104, 2007
Mimische und gestische Regungen werden im Alltag meist nur unterschwellig wahrgenommen und unterliegen streng reglementierten Codes. Im Gegensatz dazu bietet die Kunst eine Palette an Möglichkeiten, Affekte bildlich darzustellen. Pathosformeln, die durch Überzeichnung ihre Wirkmächtigkeit entfalten, bilden sich als Kanon heraus. Auch das Medium Fotografie hält vorerst an dieser typisierten Gesichts- und Körpersprache fest. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machen es zwar die Errungenschaften der Momentfotografie erstmals möglich, flüchtige Ausdruckszustände festzuhalten, doch sollte es noch eine Weile dauern, bis die statischen Inszenierungen von einem Blick auf die ungestellte Wirklichkeit abgelöst werden. In den letzten Jahren wurde diesen ersten fotografischen Affektdarstellungen vor allem unter einer medienhistorischen Perspektive verstärkt wissenschaftliches Interesse entgegen gebracht. Dieser Umstand erklärt sich zum einen durch den derzeitigen Boom an Untersuchungen zum Bereich der Anwendung der Fotografie in der Wissenschaft, zum anderen durch der im digitalen Zeitalter berechtigten Frage nach der Authentizität des Bildes. Der Sammelband Fotografische Leidenschaften hakt an diesem Punkt ein und setzt sich zum Ziel, "zwei wissenschaftliche Perspektiven zusammen [zu führen]: die Frage nach dem visuellen und diskursiven Umgang mit menschlichen Leidenschaften in ihrer historischen Herleitung und die Frage nach deren Erscheinungsweisen und medialen Bedingungen in der Fotografie." (S. 7) Die von Katharina Sykora, Ludger Derenthal und Esther Ruelfs herausgegebene Publikation beinhaltet die Beiträge einer vom Museum für Fotografie (Berlin) und dem Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig in Zusammenarbeit mit dem Museum für Photographie, Braunschweig organisierten Tagung, die im Oktober 2004 stattgefunden hat. Unter einem mediengeschichtlichen, kulturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Blickwinkel werden unterschiedliche fotografische Dokumente zum Thema Leidenschaft untersucht. Die 22 Beiträge stellen einerseits fundierte inhaltliche Analysen dar, verstehen sich aber andererseits explizit als Skizzen im Sinn von exemplarischen Fallstudien. Leider nehmen die chronologisch geordneten Texte in der zweiten Buchhälfte immer mehr die Form von kurzen Miniaturen an, wodurch verabsäumt wurde, Fragestellungen und Motive aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einen größeren thematischen Zusammenhang zu stellen.
Der erste und der letzte Beitrag setzen sich von den übrigen Texten, in denen ausnahmslos Ausdruckserscheinungen von Gesichtern und Körpern im Mittelpunkt stehen, ab. Sie zeigen auf, in welcher Form fotografische Leidenschaft anders als ikonografisch zu denken ist – nämlich mit Fokus auf den Produzenten und Rezipienten des Bildes. So wählt Friedrich Weltzien das inventarische Stillleben von Talbot als Referenz, um den Kontrast zwischen der kontrollierten Ordnung der Motive aus der Frühzeit der Fotografie und der Leidenschaftlichkeit im Umgang mit dem Medium selbst aufzuzeigen. Peter Geimer interessiert sich für die Wirkung von Schockbildern aus dem Krieg auf den Betrachter und versucht deren medienspezifische Ambivalenz zwischen einer hartnäckigen Indexikalität und einer unmöglichen Entlarvungspraxis anzusiedeln. Innerhalb dieser Klammer gruppieren sich eine Reihe von Beiträgen um den wissenschaftlichen Diskurs von Visualisierungsformen des bewegten und ausdrucksstarken Gesichts. Petra Löffler, die 2004 mit Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik die bislang umfangreichste Studie zum Thema vorlegte, führt in ihrem Beitrag "Fabrikation der Affekte. Fotografien von Leidenschaft zwischen Wissenschaft und Ästhetik" die "Kategorie des Plötzlichen" (S. 42) ein, jenen Schnittpunkt zwischen Ausdruck und medialer Vermittlung, der meist durch die lange Zeit der Pose ersetzt wird. Die statische Pose war auch für eine Reihe von Schauspielern (z. B. Albert Borée und Fritz Möller), die mit Hilfe der Fotografie Anleitungsbücher für Gestik und Mimik erstellten, unumgänglich. Dass diese Form der körpersprachlichen Selbstinszenierung direkt vom Theater kommt, überrascht nicht. Schauspieler bringen wichtige performative Fähigkeiten mit, um Gefühle jeder Art zur Aufführung zu bringen. Dieses Inszenierungspotential bildet oft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Vorlage für rein künstlerische Ambitionen, man denke etwa an Arnulf Rainers umfangreiche Serien mit fotografischen Selbstdarstellungen. Eine noch vorhandene Lücke im Bereich der Aufarbeitung von Körperausdrucks-Atlanten wird mit Susanne Holschbachs Beitrag zu Karl Michels fotografischen Gebärdenlexika von 1886 und 1910 geschlossen.
Selten tritt in Leidenschaftsdarstellungen der Inszenierungsgrad so unverhohlen zu Tage wie auf diesen theatralischen Atelierszenen. Je stärker der Gefühlsausdruck, umso artifizieller das Bild, scheint es. Katharina Sykora wählt in ihrem Beitrag "Arretierte Tränen. Selbstreferenz einer Fotografie der starken Gefühle" den Ausdruck des Weinens, um den Wandel der Träne als Zeichen für eine authentische Emotion zu einem erotisch aufgeladenen Signum nachzuvollziehen. Am Beispiel von Man Rays Les Larmes von 1932 stellt sie eine der Fotografie inhärente Ambivalenz fest, die zwischen den Polen einer affektiven Betrachteransprache und den glatten, distanzschaffenden Oberflächenqualitäten der Fotografie angesiedelt ist. Sykora macht explizit, wie sehr die Frage nach der Authentizität von Gefühlsdarstellungen mit Fragen bezüglich den medialen Bedingungen der Fotografie verknüpft ist. So thematisiert auch Barbara Lauterbach in ihrer Besprechung von Isabell Heimerdingers Polaroid-Serien die Unmöglichkeit eines fotografischen Festhaltens von echten Leidenschaften: "Die Darstellung der Affekte unterliegt, wenn sie von technischen Apparaten aufgezeichnet werden sollen, immer dem Imperativ der Maschine. Denn die Kamera erzeugt keineswegs das neutrale Abbild eines Individuums, sondern sofort eine Pose ["]. ["] Der unverstellte Blick auf das "Ich" des zu fotografierenden Individuums ist also eine Illusion." (S. 237) Dies mag für jede Form der Interaktion zwischen Fotograf und Modell gelten, nicht jedoch für die journalistische Ereignisfotografie. Ernst Haas" Aufnahmen von aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrenden Soldaten und der darauffolgende Mediendiskurs um die Ethik der ungefragten fotografischen Aneignung von Gefühlsausbrüchen werden von Ludger Derenthal als Beispiel für eine dokumentarische Strecke über emotionale Ausnahmezustände aufgegriffen. Wie sehr die Frage nach der Problematisierung des Inszenierungs- versus Authentizitätsgrads vom jeweiligen fotografischen Genre abhängt, macht Esther Ruelfs" Beitrag zur zeitgenössischen Modefotografie deutlich. Hier sind alle Abstufungen zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit denkbar – im ständigen Bewusstsein, dass der Modefotografie in jedem Fall etwas Inszeniertes anhaftet. Die aktuelle inszenierte Fotografie verschreibt sich nicht nur dem Anspruch, sondern auch der Ästhetik einer größtmöglichen Artifizialität. Auf Adi Nes" Soldatenpietà aus dem Jahr 1995 wird die Schminke explizit ins Bild gerückt und führt so den Betrachter zur Einsicht – Wiebke Ratzeburg folgend ", "dass jede Darstellung des Krieges eine inszenierte und geschminkte Illusion ist." (S. 230). Mit Adi Nes ist man schließlich auch bei der Ausstellung Aufruhr der Gefühle. Leidenschaften in der zeitgenössischen Fotografie und Videokunst angelangt, die mit der Tagung in unmittelbarem Zusammenhang stand. Der vorliegende Band, ergänzt um eine Auswahlbibliografie zum Thema, hat es jedoch nicht nötig, eine weitere Anbindung zu suchen und eignet sich vorzüglich sowohl als Einführung in das Feld der fotografischen Leidenschaftsdarstellung als auch, bedingt durch die Vielfältigkeit der einzelnen Beiträge, zur Vertiefung in einzelne Themengebiete.
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