Jörn Glasenapp
Unbekanntes vom Fotografen der bleichen Nachtgestalten"
International Center of Photography, New York (Hrsg.): Unknown Weegee, Göttingen: Steidl, 2006, 28,5 : 22,2 cm, 151 S., 111 Abb. in S/W, Gebunden, – 25.-
Erschienen in Fotogeschichte Heft 102, 2006
Es ist noch gar nicht so lange her, dass der International Center of Photography von New York die bislang umfangreichste Weegee-Retrospektive organisierte. Unter dem Titel "Weegee's World: Life, Death, and the Human Drama" wurde sie Ende 1997 bis Anfang 1998 in der Ostküstenmetropole gezeigt, wobei sie sich bei der Kritik ebenso wie beim Publikum als höchst erfolgreich erwies. Bis einschließlich 2002 ging die Schau auf nationale und internationale Tournee. Der aus ihr hervorgegangene, glänzend edierte Katalog darf nach wie vor uneingeschränkt als erste Anlaufstelle bezeichnet werden, wenn es gilt, sich kompetent über den Fotografen zu informieren, dessen immer wieder spektakulären Aufnahmen der vom Blitzlichteinsatz gebleichten Nachtgestalten, die sich auf New Yorks Straßen lieben, vergnügen, prügeln und gegenseitig erschießen, zweifelsohne zum Wichtigsten gehören, was das Genre der so genannten street photography in den Vereinigten Staaten und anderswo hervorgebracht hat. "Weegee's World" bot dem Besucher einen exponatreichen Überblick über das umfangreiche "uvre des Fotografen, welches mit etlichen Klassikern – man denke beispielsweise an Bilder wie "The Critic", "Joy of Living" oder "Their First Murder" – aufwartet, die in der Ausstellung natürlich nicht fehlen durften. Dass sie in der ebenfalls vom International Center of Photography kuratierten Schau, deren Katalog hier zur Diskussion steht, ausgespart blieben, versteht sich indes von selbst. Schließlich sollte es in ihr, so heißt es im Katalogvorwort, ausdrücklich um solche Aufnahmen des Fotografen gehen, die wenig bekannt beziehungsweise bislang unveröffentlicht geblieben sind – den "unknown Weegee" eben.
Angesichts der Bildauswahl ist nun allerdings zu fragen: Für wen unbekannt" Sicher nicht für eingefleischte Kenner des Fotografen. Die nämlich werden zahlreiche der vermeintlich unbekannten, hier freilich in glänzender Qualität abgezogenen Aufnahmen aus Weegees Fotobüchern kennen, aus Weegee's People von 1946, vor allen Dingen aber aus Naked City, dem immer wieder neu aufgelegten Buchdebüt des New Yorkers aus dem Jahre 1945, welches, mittlerweile als Fotobuchklassiker gehandelt, sogleich nach Erscheinen von der Kritik als Sensation gefeiert wurde. Unter anderem Paul Strand schrieb eine euphorische Kritik, in der er Weegee als "an artist, a man of serious and strong feeling" bezeichnete, dessen fotografischem Blick eine "poignant truthfulness" eigne. Letzteres schlage sich in Bildern nieder, die, weit entfernt, nur von transitorischem Interesse zu sein, als "the first major contribution of day-to-day journalism to photography as a creative medium" gelten können. Dass sich die Herausgeber des Katalogs dazu entschieden, Strands ursprünglich in der New Yorker Tageszeitung PM erschienene, damit also schwer zugängliche Besprechung abzudrucken, ist von fotohistorischer Warte aus sicherlich zu begrüßen, wenngleich wir in ihr – dies lassen die hier ausgewählten, reichlich vage bleibenden Zitate bereits erahnen – nur wenig Substantielles geschweige denn Neues über Weegee erfahren.
Diesbezüglich etwas ergiebiger fallen denn auch die – leider reichlich kurzen – Beiträge Luc Santes und Cynthia Youngs aus. In ihnen wird Weegee, der enge Kontakte zur Photo League, einer 1936 gegründeten, insbesondere von der politischen Linken hoch geschätzten New Yorker Fotografenvereinigung unterhielt, unter anderem als ein ausgesprochen klassenbewusster working-class-Fotograf charakterisiert, der an den seit jeher wohl gehüteten Mythos der amerikanischen Klassenlosigkeit nicht glaubte und dies in seinen Bildern auch wieder und wieder zum Ausdruck brachte. Um dies zu bestätigen, reicht ein Blick auf Weegees berühmtestes Bild, "The Critic", welches das Aufeinandertreffen von reich und arm, ostentativem Luxus und mittelloser Schäbigkeit grandios-plakativ in Szene setzt. Einiges an anschaulichem Material liefert in dieser Hinsicht auch das Bildspektrum von Unknown Weegee, mit dem uns der New Yorker aber insbesondere – und dies dürfte zumindest für denjenigen, der Naked City und Weegee's People nicht kennt, eine bislang noch weitgehend unbekannte Seite des Fotografen sein – als ein sensibler Dokumentarist der afroamerikanischen Urbankultur präsentiert wird, der zudem nicht selten scharfe Kritik am Rassismus des amerikanischen Gesellschaftsgefüges übt. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang eine der im Weegeeschen "uvre so zahlreichen Kino-Innenaufnahmen. 1941 entstanden, zeigt sie uns die Stuhlreihen eines Kinosaals, die fast völlig leer sind; allein am Rand, im klar abgegrenzten Bereich, der den Schwarzen vorbehalten ist, sitzen vier junge Afroamerikaner.
Ansonsten, so darf resümiert werden, ist die Bildauswahl von Unknown Weegee, was die Themen anbelangt, enttäuschend konventionell ausgefallen. Das heißt, die Schwerpunktsetzung darf als durch und durch Weegee-typisch bezeichnet werden: Verbrecher, (zumeist tote) Unfallopfer, Autowracks, Brände und Brandfolgen, gaffende und sich vergnügende Menschen sowie Obdachlose – dies ist es, was der Betrachter erneut zuhauf zu sehen bekommt. Mit anderen Worten: Der im Ausstellungstitel formulierte Anspruch, den unbekannten Weegee vorzustellen, wird nicht eingelöst. Der "unknown Weegee" des International Center of Photography ist vielmehr ein guter Bekannter.
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