Gisela Steinlechner
Poetische Erkundungen
Leonore Mau, Hubert Fichte: Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika, Hrsg. von Ronald Kay, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005, 31,5 : 24 cm, 334 S., zahlreiche großformatige Abb. in Farbe und S/W, Gebunden mit Schutzumschlag, – 150.-
Erschienen in Fotogeschichte Heft 102, 2006
Ich stehe auf dem Zaubermarkt in Bé und starre die Steine an, Knochen, Schädel, Wurzeln, Doppelglocken, Pappkartons. / Stäbe aus Holz. / Affenhände. / Vogelbeine. / Die Dinge haben Macht über mich, weil ich sie selbst einmal war. / Buchstaben. / Stäbe, die auf den Boden geworfen werden" / Die Buchstaben der Psyche.
Ein Europäer auf einem Zaubermarkt im afrikanischen Togo: Was vermag er dort zu sehen, und wie liest er das, was er sieht" Ist er Teil des Geschehens und der Bedeutungen oder steht er gänzlich außerhalb" Und gibt es Berührungen, Annäherungen zwischen dem magischen und dem aufgeklärten Denken, zwischen Tierkörpern und Buchstaben" In seinem unverkennbaren lakonischen Stil formuliert Hubert Fichte hier einige wesentliche Motive und Fragen, denen sich die neuere, selbstkritische Ethnologie in den letzten Jahrzehnten gestellt hat. Allerdings war der 1935 in Brandenburg geborene Autor alles andere als ein Fachgelehrter, als Schulabbrecher mit landwirtschaftlicher Praxis begann er schon früh mit dem Schreiben, das er zu einer eigenständigen Kunstform zwischen Poesie, Autobiografie, wissenschaftlicher Recherche, Reportage und Philosophie entwickelte.
Wesentlicher Impuls für seine "ethnopoetischen" Forschungen waren die zahlreichen Reisen, die Hubert Fichte zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der 1916 geborenen Fotografin Leonore Mau, in den 1970er und 80er Jahren unternahm: nach Portugal, Marokko, Brasilien, Haiti, USA, Tansania, Senegal, Togo. Und hier waren es vor allem die Begegnungen mit den synkretistischen afrikanischen und afroamerikanischen Religionen und Kulten, die zu einem Lebensthema der beiden Künstler wurden.
Dokumentiert waren diese Gemeinschaftsarbeiten von Fichte und Mau bislang in den beiden Bänden Xango und Petersilie, die der S. Fischer Verlag 1976 und 1980 als großformatige Text-Bild-Bände herausbrachte. Beide sind vergriffen und "selbst über den antiquarischen Handel nur mehr schwer erhältlich", wie der Verlag nicht ohne Stolz verkündet. Und wie seine beiden Vorgänger kommt auch dieser Band in einer prächtigen und gewichtigen Aufmachung daher, offenbar schon von Anfang an als rare Trophäe für Sammler gedacht.
Kurz vor seinem Tod im März 1986 hat Hubert Fichte das Psyche-Manuskript noch in sein projektiertes vielbändiges Hauptwerk Geschichte der Empfindlichkeit eingeordnet, und im Rahmen dieser Werkreihe ist der Text 1990 auch erschienen, frühere (Teil)Fassungen wurden bereits in den 70er Jahren publiziert. Allerdings stets ohne die Fotografien von Leonore Mau, die von Anfang an Teil des Psyche-Projekts waren und die in der nun vorliegenden Ausgabe erstmals zu sehen sind. Den Druck hat die 89jährige Fotografin noch selbst überprüft.
Die großformatigen, häufig doppelseitigen Reproduktionen in Farbe und S/W behaupten in dem Buch eine sehr eigenständige und optisch beeindruckende Präsenz. Bei manchen der intimeren Porträts oder bei dramaturgisch komplexen Szenarien stört allerdings der Mittelfalz, auch hat man als BetrachterIn weniger Spielraum, sich einen eigenen Blickpunkt zu suchen. So bei den eindrücklichen Aufnahmen vom Zaubermarkt in Bé, wo man sich manchmal etwas mehr Abstand wünscht, um den räumlichen Kontext und die Bezüge in dem ausgelegten Waren-Sammelsurium besser wahrnehmen zu können. Andererseits hat die Formatierung des Blicks Methode: Aus den ganz- oder doppelseitig vergrößerten Bildausschnitten springen einen die fetischartigen Objekte fast an, sie blecken die Zähne, schneiden Grimassen oder geraten zu einem psychedelischen Tableau. Offenkundig war die Fotografin nicht vordergründig an dem Potential des (für unsere Wahrnehmung) Grotesken und Makabren interessiert, sondern vielmehr an der Erkundung der visuellen Oberfläche magischer Ordnungen und Zusammenhänge. Die Knochen, Schädel, getrockneten Kadaver, Panzer, Federn, Häute, Hölzer und Steine, die die traditionellen Heiler und Priester auf dem Zaubermarkt in Bé erwerben, "wirken" auf den Betrachter nicht zuletzt durch ihre eigentümlichen Formationen, Rhythmen und Vervielfachungen.
Mit seinem Verfahren der Auflistung der wahrgenommenen Dinge erzeugt Fichte auf sprachlicher Ebene einen analogen, zwischen Gegenständlichkeit und Poesie oszillierenden Rhythmus. Dazwischen Zitate und Selbstbeschreibungen der aus Benin stammenden Händler, deren Namen Fichte ebenfalls aufzählt: Donjitang, Raphael, Seraphim, Pascal, Benoit, Adidan ... Es bedarf hier keines weiteren Kommentars, um jene vielfältigen Überlagerungen von Kulturen und Religionen ins Bewusstsein zu rufen, die jede folkloristische Vorstellung von einem wahren und ursprünglichen Afrika zum Implodieren bringt.
Auch dort, wo dieses Afrika am unzugänglichsten und fremdesten erscheint – in seinem magischen Denken und rituellen Praktiken, sind der Synkretismus und die Einverleibung moderner Elemente allgegenwärtig. In der vorliegenden "Annäherung an die Psychiatrie in Afrika" wird dies besonders anschaulich. Es gibt psychiatrische Krankenhäuser und Dörfer, in denen die Ärzte nach Methoden der westlichen Medizin und Psychotherapie behandeln (auch Elemente einer "offenen" Psychiatrie finden sich hier), zugleich oder alternativ werden die Kranken von traditionellen Heilern und Priestern behandelt, Orakel, Opfergaben, magische Rituale, pflanzliche und tierische Heilmittel kommen ebenso zur Anwendung wie Psychopharmaka und Elektroschocks.
Eine Qualität dieses Buches liegt sicherlich darin, dass Fichte und Mau diesem Spannungsfeld einer inhomogenen und uneindeutigen Praxis nicht mit Vereinfachungen und vorschnellen Erklärungen beizukommen suchen. Es wird nicht eine "gute" gegen eine "schlechte" Psychiatrie ausgespielt oder das Archaische gegen das Technische bzw. Wissenschaftliche. Stattdessen gibt es viele Blickpunkte und Beschreibungsebenen. In ausführlichen Interviews berichten einheimische Psychiater von ihrer Wahrnehmung der afrikanischen Realität und ihrer beruflichen Praxis zwischen den Kulturen; ein ekstatisches Heilritual an einer Irren wird von Fichte mit einer fast schon ironisch anmutenden Zurückhaltung beschrieben. Die Fotografien zeigen Anstalten unter freiem Himmel, auf herumliegenden Baumstämmen hockende und liegende Menschen; eine Frau, die mit einem Bein an einen Holzpflock gekettet ist, einen verwahrlosten Kranken, der lachend in ein aufgeschlagenes Buch blickt mit dem Titel "Les Mathematiques au Cap". Wir sehen traditionelle Heiler im vollen Ornat und Heilrituale, die in ihrer Farbenprächtigkeit und "Geselligkeit" an Volksfeste denken lassen.
In seinen Aufzeichnungen protokolliert Fichte den Aufenthalt in einem psychiatrischen Dorf, wo die "Fremden" mit den Kranken und ihren Begleitern und Pflegern gemeinsam ein Essen bereiten. In solchen Dörfern leben mindestens so viele Begleitpersonen wie "Verrückte", und auch Leonore Maus fotografische "Befunde" machen keinen Unterschied zwischen Kranken und Nicht-Kranken, hierin folgen sie gewissermaßen dem Modell der Integration, das die "Verrückten" in ihrem sozialen Umfeld belässt und sie nicht zusätzlich exponiert.
Mau ist eine feinfühlige Beobachterin, die sich eines erklärenden Standpunktes oder dezidierter Wertungen weitgehend enthält. Empathie äußert sich bei ihr in der Form, in den gewählten Einstellungen, manchmal auch gerade in der gewahrten Distanz. Auf einer Serie von drei doppelseitigen S/W-Bildern sehen wir einen Jungen auf einem weiten, leeren Platz, der Feuer entfacht. Er ist ganz in seine Tätigkeit versunken, die Umgebung des Dorfes hinter ihm ist wie ausgeblendet, nur mehr unscharf wahrzunehmen. Stattdessen treten weiße Rauchschwaden und die Schatten eines Baumes hervor, in dessen Obhut das Kind gleichsam gegeben wird.
Hubert Fichte zitiert seine Gefährtin im Buch mit einem Satz, der die wache und poetisch präzise Wahrnehmung, die ihren Fotografien zugrunde liegt, sehr gut umschreibt: "Leonore sagt mir: Wenn der Chef redet, schließt sich Mamadou wie eine Blume."
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