Christina Natlacen
Im Spiegel der Geschichte
Günter Karl Bose: Vom Gedächtnis der Bilder. Über drei Daguerreotypien, Göttingen: Wallstein Verlag, 2023, 216 Seiten, 15 x 22,7 cm, 95 zum Teil farbige Abb., gebunden, 34 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 172, 2024
Daguerreotypien scheinen heute wie aus der Zeit gefallen: Als frühe Zeugnisse aus dem Zeitalter der analogen Fotografie stellen sie Unikate dar, die Negativ und Positiv in sich vereinen und daher noch nicht die Möglichkeit zur Vervielfältigung aufweisen. Folglich existieren sie nur an einem konkreten Ort und wollen gemäß ihrer ursprünglichen Rezeptionsweise von einer einzelnen Person betrachtet werden: als Erinnerungsbilder in überschaubarem Format, die in ihren Etuis und Rahmen gut in der Hand gehalten werden können. Heute, wo diese frühen Objekte der Fotografiegeschichte nicht mehr zirkulieren und ihren fixen Platz in Sammlungen gefunden haben, ist man darauf angewiesen, ihren Bildinhalt behelfsmäßig anhand von Reproduktionen nachzuvollziehen. Objekthaftigkeit, Maßstab und der Reiz der aktiven Bildbetrachtung gehen dabei weitgehend verloren. Um die Sichtbarkeit dieser fragilen Bilder zu erhöhen und sie als historisches Kulturgut erneut dem kollektiven Gedächtnis zuzuführen, wurde mit dem EU-Projekt Daguerreobase bereits vor zehn Jahren eine digitale Plattform zur Veröffentlichung von Daguerreotypien geschaffen.[1] Die derzeit mehr als 16.000 Datensätze bieten einen guten Einblick in die Motivwelt der Daguerreotypie, die zum überwiegenden Teil das Genre des Porträts umfasst.
Gewissermaßen als gegenläufigen Ansatz zu diesem Projekt der Akkumulation versteht sich die Publikation Vom Gedächtnis der Bilder von Günter Karl Bose, die sich der Detailstudie von drei ausgewählten Daguerreotypien widmet. Es handelt sich im Gegensatz zu der großen Masse an anonymen Porträts, die die Mehrzahl der erhaltenen Daguerreotypien ausmacht, allesamt um Aufnahmen identifizierter Personen, deren Herkunft akribisch nachgespürt wird. Am konventionellsten gestaltet sich das Spurenlesen am Beispiel eines Offiziersporträts, das sich im Besitz des Autors befindet. Der passionierte Fotosammler Bose bekam die schwer beschädigte Silberplatte von einem Händler angeboten und setzte sich daran, ein Maximum an Informationen auszulesen. Neben einer Restaurierung der Platte erwies sich als glücklicher Umstand, dass die Daguerreotypie von einem Passepartout eingefasst war, das dank einer handschriftlichen Legende die abgebildete Person namentlich ausweist. So lässt sich das Bildnis des der k.k. Armee angehörigen Hauptmanns Friedrich Schima in einen historischen Kontext einbetten, der die Ereignisse im Jahr 1848 tangiert, als k.k. Regimenter die von italienischen Aufständischen eingenommenen oberitalienischen Städte zurückzuerobern trachteten. So lagerte auch Schimas Truppe im April dieses Jahres vor Udine. Bei der ersten versuchten Einnahme der Stadt am Karfreitag geriet Hauptmann Schima in einen Kugelhagel und wurde erschossen. Sein Bildnis, das ihn noch in der Uniform eines Oberleutnants zeigt, muss mindestens zwei Jahre vor seinem Tod entstanden sein. Wie ein Zeitpfeil weist es aus heutiger Sicht jedoch bereits über sich hinaus und lässt an Roland Barthes’ Ausführungen zum fotografischen Porträt von Lewis Payne denken, der 1865 an einem Attentat auf den US-Präsidenten Abraham Lincoln beteiligt war. Barthes definiert die nach der fotografischen Aufnahme eintretenden Ereignisse als zeitliches punctum.[2]
Die anderen beiden Einzelstudien von Daguerreotypien beziehen neben der Darlegung der historischen Ereignisse, die zu ihrem Entstehen geführt haben, insbesondere auch die intendierten Gebrauchsweisen der Bilder als wesentlichen Faktor mit ein. Besonders ausführlich schildert Bose den Fall des Juristen und ehemaligen Bürgermeisters Heinrich Ludwig Tschech, der im Juli 1844 – erfolglos – einen Anschlag auf Kaiser Friedrich Wilhelm IV. von Preußen verübte und kurz darauf zum Tode verurteilt wurde. Der aus einem fehlgeleiteten Gerechtigkeitsempfinden heraus handelnde Tschech sah sich als Kämpfer gegen staatliche Willkür und wollte als Idealist in die Geschichtsbücher eingehen. Dazu bereitete er nicht nur den Anschlag selbst vor, sondern widmete sich im Vorfeld auch seiner eigenen Publizität. Zwei Mal suchte Tschech den Atelierfotografen Richard Scholz auf, um sich vor seiner Kamera in einer einstudierten Pose als Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit zu inszenieren. Laut dem Protokoll der nach dem Attentat getätigten Aussage des Fotografen prophezeite Tschech, dass ganz Europa Interesse an dem Bildnis haben werde, das er als frühes Medienereignis konzipierte. Tschech betrachtete das Verfahren der Daguerreotypie jedoch nur als Intermedium, da sein eigentliches Ziel war, von der fotografischen Platte eine druckgrafische Reproduktion anfertigen zu lassen, um die Vervielfältigung seines Porträts zu ermöglichen. Tatsächlich wollen es die Wirren der Familiengeschichte, dass heute nur mehr eine Lithografie nach der Fotografie vorhanden ist, die auch als Frontispiz für das fünf Jahre später erschienene Buch Leben und Tod des Bürgermeisters Tschech von seiner Tochter Elisabeth verwendet wurde.
Als Pendant unter umgekehrten Vorzeichen kann die dritte Daguerreotypie, die einer genauen Studie unterzogen wird, bezeichnet werden. Es handelt sich um ein von Januar 1859 stammendes Totenporträt von Bettina von Arnim, geborene Brentano, die als Autorin, Verlegerin und Salonière eine Größe der deutschen Romantik gewesen ist. Die Wahl einer Daguerreotypie zu diesem Zeitpunkt mag erstaunen, denn technisch wäre genauso bereits eine Kollodiumaufnahme möglich gewesen. Günter Karl Bose argumentiert die Entscheidung für das ältere Verfahren mit dem Gebrauchswert, der in das post mortem-Bildnis eingeschrieben ist. Die Angehörigen hätten nämlich gerade kein öffentliches Porträt schaffen wollen, das die Möglichkeit der Vervielfältigung in sich birgt. Bettina von Arnim, von der Zeit ihres Lebens keine Fotografie überliefert ist, sollte auf ihrem Totenbett allein als Motiv für ein privates Erinnerungsbild, das fortan in Familienbesitz bleiben sollte, dienen. Erst viel später kam es im Zuge der Übergabe des Nachlasses in das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main, das auch Träger des Deutschen Romantik-Museums und Betreiber des Brentano-Hauses ist.
Die Überlieferung von Geschichte und die Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses benötigen Medien als Träger. Der Fotografie wird dabei eine besondere Rolle zugeschrieben, scheint sie doch Bilder erzeugen zu können, in die sich gleich einem Spiegel dauerhaft Ereignisse einschreiben – man denke an Jules Janins Spiegel-Metapher aus dem Jahr 1839, die dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist. Jens Ruchatz zufolge kann die Rolle der Fotografie als Gedächtnismedium entweder in Form der Spur oder der Externalisierung erfolgen.[3] Im ersten Fall indiziert sie das Ereignis, das sie hervorgebracht hat, im zweiten Fall wird das Objekt selbst als Gedächtnis angesehen. Welcher Modus bei einem Bild vorherrschend ist, resultiert jeweils aus dessen Gebrauchsweisen. Günter Karl Bose führt mit seinen drei Einzelstudien von Daguerreotypien vor, wie weitreichend eine historische Auslegung ausfallen muss, um dem Bildobjekt und den mit ihm verknüpften Texten gerecht zu werden. Das vom emeritierten Professor für Typografie selbst gestaltete Buch ist als Ergänzung bzw. Gegenpol zur Veröffentlichung von Bildersammlungen in digitalen Datenbanken besonders notwendig, da es exemplarisch aufzeigt, welcher Wissensschatz im Leben und Nachleben dieser frühen Objekte der Fotografiegeschichte enthalten ist.
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[1] Vgl. http://www.daguerreobase.org Initiiert vom Nederlands Fotomuseum Rotterdam, handelt es sich um einen Zusammenschluss von ausgewählten Institutionen mit bedeutsamen Sammlungen an Daguerreotypien wie etwa der Bibliothèque nationale de France, dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg oder der Wiener Albertina.
[2] Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985, S. 105 f.
[3] Vgl. Jens Ruchatz: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen, in: Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses: Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin/New York 2004, S. 83–108.
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