Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Alexa Färber

Stadt, Buch, Bild

Ein Gespräch mit der Stadtethnologin über Urbanität und Fotografie und ihr Projekt talking_photobooks

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 172, 2024

 

Vor gut zehn Jahren begann die Stadtforscherin Alexa Färber im Dialog mit französischen und deutschen Fachkolleg:innen der Forschungsgruppe „Penser l’urbain par l’image“ verstärkt audiovisuelle Mittel zur Befragung des Verhältnisses von Stadt und Bild einzusetzen. Zusammen mit Cécile Cuny und Ulrich Hägele gab sie 2014 das vielbeachtete FOTOGESCHICHTE-Themenheft „Fotografie und städtischer Wandel“ heraus. Aus diesen Interessen und Initiativen ging einige Jahre später ein neues Format hervor: ein BLOG und eine audiovisuelle Gesprächsreihe über Fotobücher zu und über Städte, die seit 2018 unter dem Titel talking_photobooks (https://www.talkingphotobooks.net) im Internet zugänglich ist. Im folgenden „Werkstattgespräch“ werfen wir zusammen mit Alexa Färber einen Blick hinter die Kulissen dieser dialogischen audiovisuellen Stadtrecherchen. Die Forscherin erzählt, wie es zu diesem Projekt am Schnittpunkt zwischen Stadtforschung und visueller Darstellung gekommen ist, welche Hürden zu meistern waren und wohin die Gesprächsreihe zu Stadt, Buch und Fotografie noch führen könnte.

Anton Holzer/Fogogeschichte: Frau Färber, Sie arbeiten und forschen schon lange zum Thema Stadt und Stadtwahrnehmung. Wie naheliegend ist es denn, die Fotografie in die Stadtforschung einzubeziehen? Was kann dieses zweidimensionale Medium über die dreidimensionale Stadt eigentlich erzählen?

Alexa Färber: Fotografie hat mit vielen Dimensionen von Stadt zu tun: Sie ist heute integraler Bestandteil von Alltagspraktiken in der Stadt, d.h. in Städten wird ziemlich viel fotografiert. Die darin mit-/abgebildeten Stadtansichten prägen die imaginäre Dimension von Stadt und Urbanität. Ob analog oder digital: Stadt wird in unzähligen Bildern reproduziert und auf diese Weise in Bewegung gesetzt. Außerdem wirkt sich Fotografie auch dann aus, wenn sie im Kontext von Stadtplanung oder Städtebau mit dem Ziel der Dokumentation oder des Entwurfs eingesetzt wird. Fotografie ist, so gesehen, sehr eng mit dem Gewordensein der Stadt verbunden. Fotografie macht Stadt greif- und erfahrbar.

Auch motivisch sind die Fotografie und die Stadt überaus eng miteinander verbunden. Die allermeisten der frühesten Fotografien sind in der Stadt aufgenommen worden. Auch das frühe Publikum der Fotografie war vor allem städtisch. Wann aber wurde aus dieser motivischen Verbindung eigentlich mehr? Wann hat die Stadtforschung die Fotografie entdeckt? Nicht nur als dokumentarisches Medium, das zeigt, was ist, sondern das Zusammenhänge sichtbar machen kann, Wahrnehmungen festhält und Fragen stellt.

Ganz genau lässt sich das nicht sagen, seit wann Fotografie als Forschungsinstrument in der Stadtforschung ins Spiel gekommen ist. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass „die“ Stadtforschung als akademische Forschung eine verzweigte Geschichte hat. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in Europa und den USA viele für das sich rapide verändernde Leben in Großstädten interessiert – Soziolog:innen, Anthropolog:innen, Volkskundler:innen. Diese Disziplinen waren dabei teils noch gar nicht universitär verankert, sondern über Vereine organisiert, die aber schon Zeitschriften herausgaben. Der Stadtsoziologe Frank Eckardt hat vor ein paar Jahren einmal systematisch die frühen Ausgaben des American Journal of Sociology auf die Rolle von Fotografie hin angeschaut und festgestellt, dass der Umgang mit gedruckten Fotografien lange zwischen Erkenntnisinstrument und Illustration schwankt. Um den Umgang mit Fotografie als Forschungsinstrument in der Stadtforschung zu bestimmen, ist es deshalb wichtig, sich diese Frage vor dem Institutionalisierungsprozess der einzelnen Fächer und auch vor dem Hintergrund einzelner Universitätsstädte genau anzusehen und dabei auch den weiteren fotografischen Zeitgeist im Blick zu haben. Da gibt es noch einiges zu tun!

Können Sie, um das anschaulicher zu machen, ein paar Beispiele nennen? An welchen Orten und in welchen Publikationen wurden, historisch gesehen, in der Stadtforschung beispielsweise Bilder und Fotos eingesetzt?

Die Chicago School of Sociology (CSS) etwa – eine der ersten akademischen Einrichtungen, die ab den 1920er Jahren mit Robert Ezra Park einen Schwerpunkt in qualitativer Stadtforschung und über das von Jane Addams geleitete Hull House einen engen Bezug zur Sozialen Arbeit hatte – ist auch aus der Nähe zur Reportage entstanden. Dennoch gibt es aber kaum fotografische Abbildungen in den heute klassischen Ethnografien. In einer Studie wie The Ghetto (1928) von Louis Wirth finden wir Holzschnitte, aber keine Fotos. In anderen sind eher Grafiken wie Mappings abgedruckt, die damals als innovative Visualisierungsmethode galten, um Urbanisierungsprozesse zu analysieren und zu veranschaulichen. Aber: Die ethnografischen Beobachtungen und äußerst anschaulichen Analysen haben etwas von der Detailfülle und der Faszination für den städtischen Alltag, die auch die Fotografie ausmachen.

Ein anderes Beispiel, ebenfalls aus den USA, könnte die New Yorker Photo League sein. Im Gespräch mit dem Stadtanthropologen Rolf Lindner über das Buch The Radical Camera: New York’s Photo League 1936–1951 (2011) ist uns eine weitere Parallele zwischen fotografischer Haltung und stadtforschenden ethnografischen Ansätzen aufgefallen: Nicht nur der städtische Blick als, wie Lindner sagt, „wesentliches Sensorium der Großstadt“ für Fotografie und Forschung, sondern auch die realen sozialen Beziehungen und wertschätzende Haltung gegenüber den Alltagen der vielen, sozial meist prekären Stadtbewohner:innen, scheint im Ansatz der Vermittlung von Fotografie und den Fotografien selbst und zeitgenössischen Stadtethnografien auf. Das zeigt etwa der Band Die Street Corner Society (1943) von William Foote Whyte.

Gibt es noch andere Einsatzmöglichkeiten der Fotografie?

Ja, aus einer ganz anderen Perspektive zeigt sich der fotografische Zeitgeist in den problematischen populärwissenschaftlichen Arbeiten von Theodor Möller, über dessen auf Städte bezogene Publikation ich mit dem Europäischen Ethnologen Thomas Overdick spreche. Overdick hat sich, ebenso wie Ulrich Hägele, mit Geschichte und Gegenwart von Fotografie in der Volkskunde und Europäischen Ethnologie beschäftigt. Generell kommt dort wie in der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung auch, heute kaum eine Publikation in der qualitativen Stadtforschung ohne illustrierende Fotos aus. Ganz anders sind die Ansätze fotografischer Partizipation in der Stadtforschung. Hier geht es darum, Erfahrungen, Einschätzungen und Deutungen von Stadtbewohner:innen zu sammeln, indem diese eigene Fotos zu einem Thema in die Forschung einbringen, darüber gesprochen wird, diese Gespräche ausgewertet werden und die Abbildungen selbst gar nicht unbedingt auch in der Publikation abgedruckt werden müssen.

Kommen wir nun zu Ihrem Projekt talking_photobooks. Darin befragen Sie nicht einzelne Fotografien, sondern ganze Ensembles von Fotografien: nämlich Fotobücher zur Stadt, und zwar in Form von Gesprächen. Das haptische Medium Buch wird aufgeblättert, es ist der Anstoß für eine offene Reflexion. Dieser Dialog findet dann Eingang in das Format des Films – und dieser wiederum ist im Internet frei für ein größeres Publikum zugänglich. Sie arbeiten also mit einer mehrfachen medialen Übersetzung …

Ja, dass der Blog Ergebnis mehrfacher Übersetzungsschritte ist, war mir zwar bewusst, als ich 2017 damit begonnen habe. Aber, wie stark daraus auch eine Zusammenarbeit mit anderen wird, habe ich unterschätzt. Dabei ist die Übersetzung selbst nicht so kompliziert, nachdem die Struktur für den Blog stand. Und wenn ich für jedes einzelne Element mit jemandem zusammenarbeiten kann, die oder der sich mit Film, Sound, Programmierung, Layout, sprachlicher Übersetzung gut auskennt. Trotzdem wird ja schon beim ersten Durchklicken deutlich, dass sowohl die Gespräche sehr unterschiedlich verlaufen, als auch die Aufnahmen in verschiedenen Settings stattfinden – vom mehr und manchmal weniger gut ausgeleuchteten Schreibtisch, über einen Stehtisch bis hin zu einer Aufnahme im digitalen Raum.

Obwohl diese „Zoomaufnahme“ (die einzige Aufnahme, für die ich allein zuständig war), technisch wirklich nicht so gut geworden ist wie die anderen Aufnahmen und ich Hilfe für die Nachbearbeitung brauchte, wird sie z.B. in Südafrika viel geschaut. Ich denke, dass jemand das Gespräch zwischen Abdoumaliq Simone, Laura Kemmer und mir über das Kinshasa-Buch Suturing the City (2016) von Philip de Boeck und Sammy Baloji in die Lehre eingebunden hat. Das freut mich sehr!

Der Begriff der Stadt, der sich aus den besprochenen Fotobüchern herausschält, ist, das fällt auf, überaus breit und vielfältig. Klassische Stadtbildbände werden ebenso besprochen wie Herlinde Koelbls Fotobuch Schlafzimmer. London, Berlin, Moskau, Rom, New York, Paris (2002). Große Städte und kleinere Städte werden in Büchern vorgestellt. Historische Blickwinkel mischen sich mit Positionen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, europäische Perspektiven werden ergänzt durch außereuropäische …

Das ist unbedingt so gewollt, dass wissenschaftliche Konzepte, z.B. Stadtkonzepte als Angebote zum Verständnis der Welt thematisiert werden und nicht als definitive Wahrheit reifiziert werden. Ich bin immer ganz gespannt und freue mich auf die Überraschung, welches Buch die Gesprächspartner:innen für sich aussuchen und wie sie es lesen.

Die ersten Videos Ihres Projekts sind 2018 im Rahmen der Triennale für Photographie in Hamburg entstanden, und zwar in einem Container im öffentlichen Raum. Wie ist es zu dieser „Stadtfotobuch-Sprechstunde“ gekommen?

Tatsächlich hatte ich das Format der von oben, plan aufgenommenen Filmaufnahmen von Menschen, die durch Fotobücher blättern und erklären, was sie daran interessant finden, das erste Mal in den Deichtorhallen gesehen. Ingo Taubhorn hatte für die Ausstellung „Eyes on Paris – Paris im Fotobuch“ (2012) Fotoexpert:innen eingeladen, einzelne Bücher zu kommentieren. In einem Bereich der Ausstellungen waren diese Monologe auf Bildschirmen zu sehen und zu hören. Die haben mir so gut gefallen, dass wir das Format mit meinen Kolleg:innen der deutsch-französischen Forschungsgruppe „Penser l’urbain par l’image“ für ein Gespräch zu dritt ausprobiert haben. Es ist in die Website „researchingacity“ (http://researchingacity.com)“ eingeflossen, auf der wir eigene Stadtforschungen mit audio-/visuellen Medien vorstellen. Die Produktion dieses Gesprächs war viel aufwendiger, als ich dachte, aber so interessant, dass ich das Format unbedingt weiterführen wollte. Dann gab es 2017 eine erste Gelegenheit, anstelle eines Festschriftbeitrags eine Reihe von Gesprächen über Stadtfotobücher aus dem Norden aufzunehmen und der Blog war geboren.

Und dann?

Die Stadtfotobuch-Sprechstunde war dann schon das nächste Experiment: Anlass war, wie gesagt, die Triennale für Photographie 2018, während der in den Deichtorhallen die Ausstellung „Street. Life. Photography“, kuratiert von Sabine Schnakenberg, zu sehen war. Sabine Schnakenberg und die damalige Leiterin der Fotobuchhandlung in den Deichtorhallen, Katrin Hiller, haben mir vorgeschlagen, die Fotobuchgespräche mit der Ausstellung zu verbinden. Daraus ist die Idee entstanden, eine offene Sprechstunde abzuhalten, nicht in der Buchhandlung, sondern auf dem Vorplatz in einem der Container, der für die Triennale dort aufgebaut war. An einem Nachmittag konnten also Menschen vorbeikommen, sich eines der Stadtfotobücher aussuchen, das ich aus dem Bestand der Buchhandlung ausgesucht hatte und über das sie mit mir sprechen wollten. Nach einem kurzen Vorgespräch haben wir diesmal am Stehtisch den Dialog von der Seite aufgenommen. Das war nicht ganz so einfach für Marko Mijatovic, der Kamera, Sound und Schnitt gemacht hat. Da eine Seite des Containers verglast war, konnten Vorbeigehende von außen sehen, dass da gerade Filmaufnahmen stattfinden, was ein schöner zusätzlicher Effekt war. Leider war recht schlechtes Wetter und relativ wenig Betrieb.

Sie schreiben über das Konzept von talking_photobooks: „Lesen und Betrachten sind introvertierte Praktiken.“ Und weiter: „Trotzdem werden Texte und Bilder immer wieder extrovertiert: im Vorlesen, Beschreiben, Aufführen oder auch im darüber Diskutieren.“ talking_photobooks ist eine Form von Aufführung, die, so Ihre These, mehr und anders erzählen kann als das private Lesen und Schauen. Warum ist das so?

Mir geht es so, dass ich durch das gemeinsame Anschauen, das Zeigen und Erklären einfach viel lerne und zwar in einer Atmosphäre, in der unterschiedliche Lesarten desselben Gegenstandes erwünscht sind. Denn es ist von Anfang an klar: Meine Expertise liegt nicht in der Fotografie an sich. Ich bin keine Foto- oder Kunsthistorikerin, finde es aber hoch interessant Menschen zuzuhören, die z.B. aus einer solchen Perspektive auf ein Fotobuch schauen, das Stadt zum Gegenstand hat. Stadt wiederum ist eines meiner Arbeitsfelder, aber auch in diesem Feld gibt es ganz unterschiedliche Interessensfelder und Ansätze, die sich anhand von Fotobüchern erzählen lassen. Ganz wichtig ist: Es ist eine Situation, die von einem geteilten Interesse und einer gewissen Begeisterung für das Medium Buch oder die Fotografie bestimmt ist. Das an sich verändert das Zuhören und Sehen, es entsteht dabei etwas wie zugewandtes Denken.

Wie muss man sich diesen Dialog vor dem Buch und vor der Kamera ganz konkret und praktisch vorstellen? Wer wählt die Bücher aus, wer die Gesprächspartner:innen? Ist der Dialog vollkommen offen oder gibt es einen roten Faden, dem Sie folgen?

Für jede Aufnahme führe ich ein Vorgespräch. Darauf freue ich mich immer besonders. Es ist auf jeden Fall länger als die Aufnahmen. Und es ist der Moment, in dem ich überhaupt etwas über die Interessen, Wahrnehmungen und Interpretationen der Gesprächspartner:innen erfahre. Das ist gemeinsames, zugewandtes Denken durch Anschauung, Hin- und Herblättern, vorher Gedachtes nochmal neu denken. Aus den Vorgesprächen entwickle ich dann ein mehr oder weniger engmaschiges Skript. Das ist als Grundlage für die Aufnahme wichtig, weil die Filme bestenfalls nicht geschnitten und gleichzeitig nicht zu lang werden sollen; deshalb markiere ich auch mit Buchzeichen, wo wir unbedingt hinblättern sollten und gehe das vorher noch einmal kurz mit den Gesprächspartner:innen durch. So verlieren wir durch Suchen keine Zeit und es wird visuell nicht zu unruhig.

Den Film „Stand by“ zum Kinshasa-Buch haben wir allerdings geschnitten, weil die Qualität nicht so gut war und er mir viel zu lang erschien. Denn eigentlich sollte keins der Gespräche länger als zehn Minuten sein, zu Beginn war ich sogar von maximal sechs Minuten ausgegangen. Am kürzesten sind tatsächlich die sechs Filme von Gesprächen über das kleine Büchlein von Valie Export und Hermann Hendrich Stadt: Visuelle Strukturen (1973) geworden, die ich als Beitrag zu einer digitalen Festschrift für die Stadtforscherin Johanna Rolshoven gemacht habe.

Gab es auch Überraschungen?

Oh ja, wenn sich jemand z.B. gar nicht mehr für das Skript interessiert – und es dennoch oder gerade deshalb gut läuft. Das war im Gespräch mit Wolfgang Kaschuba so. Die Aufnahme ist auch deshalb besonders, weil wir durchgehend zwei Hefte von Hafenleben. Berlin 1904–1932 (1985) mit Fotografien von Willy Römer aus der Reihe „Edition Photothek“ durchgeblättert haben. Die Hefte sind relativ klein, deshalb fand ich es visuell besser, wenn wir gleichzeitig zwei Exemplare anschauen. Ich denke, das ist ganz interessant geworden, gerade weil durch das parallele Blättern deutlich wird, wie sich Gedanken neben- und miteinander am selben Gegenstand entwickeln.

Wenn wir uns das Display des Gesprächs im Kader der Filmkamera genauer ansehen, wird Folgendes sichtbar: Der weiße Tisch, auf dem ganz am Beginn des Gesprächs das Buch in geschlossener Form liegt. Dann sehen wir: vier Hände und teilweise auch die Arme, die mit dem Buch in Interaktion treten, es öffnen, darin blättern, vor und zurück. Zu sehen sind keine Oberkörper, keine Gesichter. Und wir hören: die Stimmen von zwei Personen aus dem Off. Auf dieser reduzierten Bühne entsteht der Dialog …

Ja, genau. Aber wie gesagt: Wir saßen an einem anderen Tag zur Vorbereitung schon einmal ganz anders zusammen, manchmal ist das Licht nicht optimal und wir müssen rumprobieren oder das Buch liegt doch zu weit am Rand und wir fangen von vorne an. Dass die Gesichter nicht zu sehen sind, ist wichtig. Einige haben das dennoch vermisst. Deshalb hatte ich ein paar Mal Porträts gemacht, um sie in die Leiste mit den Stills einzufügen. Das ist bisher aber untergegangen, vielleicht hole ich das noch nach bzw. mache das ab jetzt systematisch.

Mit fällt auf, dass die Gespräche sehr konzentriert sind, dass die Bücher in dieser klaren und einfachen Präsentation eine unglaubliche Präsenz erhalten. Oft beginnen sie im Gespräch geradezu „lebendig“ zu werden …

Das freut mich zu hören! Denn, da die Aufnahmen, wie gesagt, möglichst nicht geschnitten werden, haben wir bei einigen Aufnahmen schon mehr als einen Anlauf nehmen müssen. Wir haben uns fast jedes Mal beim ersten Versuch maßlos versprochen oder recht bald verblättert. Aber die Bücher selbst, die nun die meiste Zeit wieder bei mir im Regal stehen, wirken auf mich immer noch ein bisschen aufgeladen, als hätte sich etwas vom Filmen auf sie übertragen. Auf jeden Fall wäre es schön, wenn die aufgezeichneten und öffentlich gemachten Gespräche in den Lektüren anderer lebendig sind.

Das Gespräch erhält in der Bezugnahme auf das Buch eine zusätzliche Dimension. Immer wieder entstehen Gedanken in Bezug auf bestimmte Fotos oder Bildstrecken, die gerade gezeigt werden. Wieviel Zufall steckt denn in den Gesprächen? Wie sehr führen Sie diese, wie sehr lassen Sie sich gedanklich treiben?

Es gibt, wie gesagt, ein Skript, das ich aus den Vorgesprächen entwickelt habe und den Gesprächspartner:innen vorher zuschicke. Ich selbst drucke es auch aus und lege es so ab, dass ich es sehen kann. Ich habe den darin abgebildeten Lauf des Gesprächs auch recht gut verinnerlicht, so dass ich wieder darauf zurückkommen kann. Aber eigentlich ist es super, wenn sich seit dem Vorgespräch Gedanken weiterentwickelt haben und es einen anderen Lauf nimmt. Bei dem Gespräch mit meiner Kollegin, der Stadtforscherin Kathrin Wildner war das auf jeden Fall so.

Über Bilder reden heißt oft auch: auf Bilder zeigen, Details herausholen, Verbindungen herstellen. Diese gestische Annäherung an die Bilder zieht sich durch viele der Gespräche. Die Dialoge über Fotobücher entstehen also im offenen, vielleicht sogar assoziativen Ping-Pong-Spiel zwischen Sehen, Zeigen, Reden und Schauen …

Das ist in den Vorgesprächen noch viel mehr der Fall, als bei den Aufnahmen. Dieses genaue Zeigen und Hinschauen wird in dem Gespräch mit der Historikerin Lisa Kosok ganz deutlich. Sie hatte sich das damals gerade erschienene Buch Der Hafen: Fotografien des Hamburger Hafens 1930–1970 ausgesucht, das Arbeiten von John Holler (1909–1996), Germin (1910–2001), Gustav Werbeck (1902–1993) und Harald Zoch (1927–2011) versammelt hat. Eigentlich fand ich einen solchen Sammelband gar nicht so gut, weil mir immer eher Monografien vorgeschwebt sind. Aber sie hat mich im Vorgespräch davon überzeugt, dass hier ganz viel zu sehen und vor allem von ihr hinsichtlich historischer Arbeitswelten zu erzählen ist. Wenn jemand dann nicht nur Sachkenntnis, sondern auch Humor hat, animiert das natürlich dazu, auch nochmal genauer hinzuschauen und z.B. Geschichten weiter zu spinnen.

Es gibt aber auch Verbindungen, die auf ganz andere Weise zustande kommen, etwa im Gespräch mit Kathrin Wildner, die unbedingt über den Katalog Walking Distance from the Studio von Francis Alÿs (2004) sprechen wollte. Sie schätzt die künstlerische Arbeit von Alÿs nicht nur sehr, sondern hat selbst zeitgleich und an ganz ähnlichen Orten wie Alÿs in Mexiko-Stadt ethnografisch geforscht. Sie konnte deshalb ihre damaligen Beobachtungen mit denen von Alÿs vergleichen und wir haben gemeinsam auf diese schon einige Jahre zurückliegenden Stadtanalysen auf dem Kenntnisstand aktueller Forschungskonzepte zurückgeblickt.

Die Gespräche geben den Büchern und ihren Erzählungen viel Raum. Sie ordnen das Buch und seine vielschichtigen Erzählungen ein, analysieren, kontextualisieren es. Oft werden die Fotografinnen und Fotografen ausführlicher vorgestellt, oft auch ihr besonderer Blickwinkel, die Zeit, in der das Buch entstand …

Ja, das gilt vielleicht am meisten für das Buch Gassen der Heimat. Alt- und Kleinstadtbilder aus Schleswig-Holstein (1933) von Theodor Möller (1873–1953), über das ich mit dem Europäischen Ethnologen Thomas Overdick gesprochen habe. Das Buch ist, so wie das gesamte fotografische Werk von Möller, stark von der Heimatschutzbewegung des frühen 20. Jahrhunderts geprägt. Es schreibt sich deshalb auch in die völkische Fotografie ein. So ein Buch und die Fotografien müssen kontextualisiert werden. Das hat Thomas Overdick auch deshalb betont, weil es in den 2010er Jahren Publikationen von Möllers Fotografien gab, die sich vor allem auf den ästhetischen Wert konzentriert haben.

Deutlich wird in den Videos, dass das Fotobuch ein haptisches, handhabbares dreidimensionales Objekt ist, das auf ganz unterschiedliche Weise benutzt werden kann. Hier und da sind Lesezeichen zu sehen, um ausgewählte Seiten schneller zu finden. Gelegentlich wird ganz ans Ende geblättert, um mehr über die Fotografin, den Fotografen herauszufinden, auch Klappentexte und Vorsatz spielen gelegentlich eine Rolle …

Ja, alles, was die Anziehungskraft eines Buchs ausmacht, kann wichtig werden. Wenn ich in einer Buchhandlung oder Bücherei ungezielt rumschaue, sind Einband, Klappentext, vor allem auch das Haptische von ganz besonderer Bedeutung, um Aufmerksamkeit zu binden.

Hin und wieder werden auch die Texte besprochen. Gelegentlich sind diese sehr präsent, dann wieder stark zurückgenommen.

Das ist bei dem Buch von Francis Alÿs so, aber vor allem bei dem Buch von Theodor Möller. Bei Möller ist der Text visuell sehr präsent. Ich habe mich hinterher ein bisschen geärgert, dass ich so lange durch die Textseiten blättere, bevor wir zu den Fotografien kommen. Aber: das entspricht schon ganz gut dem Anspruch, der mit der Publikation einher geht, nämlich der einer expliziten Belehrung. Und es ist eine der haptischen Erfahrungen, die auch andere machen werden, wenn sie sich mit dem Buch beschäftigen.

talking_photobooks erscheint auch im Internet als mehrstimmiges, multimediales Projekt: Da ist zunächst der Film, aber es gibt auch jeweils eine Serie von Filmstills mit ausgewählten Szenen aus dem Gespräch. Jedes Gespräch wird auch durch einen kurzen begleitenden Text zu Buch und Fotografin oder Fotograf eingeleitet. Und schließlich gibt es ausgewählte O-Töne, Zitate aus den Gesprächen, die als Gedanken und Motti in größerer Schrift zu sehen sind.

Ja, wichtig ist die multimediale, oder auch multimodale Qualität der Herstellung und Präsentation. Wenn wir das Projekt als multimodal verstehen, dann werden die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen betont. In diesem Fall wird dadurch hervorgehoben, dass hier viele unterschiedliche Sinne und Intensitäten im Spiel sind und alles auf Austausch und Zusammenarbeit beruht.

Wie sehr altern eigentlich Bücher über die Stadt und damit auch städtische Visionen? Hatten Sie hin und wieder das Gefühl, dass die Stadtbilder aus den Büchern schwer an ihrer Zeit tragen? Und gibt es auch Beispiele dafür, die zeigen wie unverbraucht ein fotografischer Blick auf eine Stadt noch nach vielen Jahren oder Jahrzehnten sein kann?

Die gibt es sicher, Möller wäre ein naheliegendes Beispiel; vielleicht aber auch die Fotos der Photo League? Das interessante ist aber, dass durch die Gespräche, die den Entstehungskontext historisieren, oder den Anwendungskontext erklären, vielleicht auch die persönliche emotionale Verbindung deutlich machen, eine reflexive Haltung zu Fotografien und Buch eingenommen werden kann.

Ich komme zum Schluss: talking_photobooks ist ein in viele Richtung offenes Projekt. Wohin führt diese dialogische Reise? Gibt es ein Buch, das Sie unbedingt mal vorstellen und besprechen möchten? Oder lassen Sie die Ideen und Vorschläge einfach auf Sie zukommen?

Beides: Ein Glück, dass ich mich auf Stadtfotobücher beschränke! Es gibt so viele Bücher, die aus meiner Sicht für ein Gespräch passen würden. Eins davon ist Soleil of Persian Square (2021) von Hanna Darabi. Auch wenn Stadt hier nicht immer unmittelbarer Gegenstand der Fotos ist – es geht um die popkulturellen Spuren der iranischen Diaspora in Los Angeles –, ist es doch eine urbane Fotorecherche.

Und dann treffe ich immer wieder Menschen, deren Blick auf dieses Medium mich interessiert. Die meisten haben sofort eine Idee, über welches Buch sie gerne mit mir sprechen würden. Also, Stoff für ein neues Kapitel in meinem Blog gibt es genug, die Zeit für Vorgespräche, Aufnahmen und Postproduktion wird kommen. Aber talking_photobooks hat auch schon Spuren hinterlassen: Del Barrett, die Gründerin und Vorsitzende von „Hundred Heroines“ (https://hundredheroines.org/), der Online-Plattform samt Museum und Galerie (Gloucester/UK) über und für Frauen in der Fotografie, hat das Format für ein Festival in London übernommen. Oder: Jochen Baur hat für die Ausstellung „Über/Sehen. Bildregime der Migration“ in der Cubus Kunsthalle Duisburg (13. Oktober bis 12. November 2023) auf diese Weise Gespräche über Fotobücher aufgenommen. Neuerdings haben auch Elisabeth Neudörfl und Andreas Langfeld die Idee aufgegriffen und den Youtube-Kanal „Einige Fotobücher, einige Gedanken“ gestartet, in dem sie gemeinsam über Fotobücher sprechen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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