Mona Wischhoff
Projektionsbilder
Koloniale Lichtbildervorträge um 1900
„Projizierte Fotografien – koloniale Projektionen. Lichtbildervorträge der Deutschen Kolonialgesellschaft um 1900“, Dissertation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Medienkulturwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft, Prof. Dr. Gabriele Schabacher, Beginn: Mai 2018, Finanzierung: Humboldt Research Track Scholarship der Humboldt-Universität zu Berlin, anschließend in Mainz: Promotionsstipendium in der GNK-Doktorandengruppe ‚Zeugenschaft – Episteme einer medialen und kulturellen Praxis‘, wissenschaftliche Mitarbeit Medienkulturwissenschaft. Kontakt: m.wischhoff(at)uni-mainz.de
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 169, 2023
Um 1900 war der Lichtbildervortrag ein weitverbreitetes Bildungs- und Unterhaltungsmedium, das von der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) für ihre koloniale Agitation genutzt wurde.[1] Die Dissertation widmet sich in einer mikrohistorischen Studie diesen Lichtbildervorträgen: der Arbeit an einer Bildsammlung in der Berliner Verwaltungszentrale der DKG, der Herstellung standardisierter, vorgefertigter Lichtbilderreihen und Vortragsmanuskripte, dem infrastrukturierten Verleih dieses Vortragsmaterials sowie den Räumen, Praktiken, den Medien und Akteuren der Vorträge und Bildvorführungen.
Lichtbildervorträge im Verleih
Die materiell überlieferten Manuskripte und Diapositive sowie die Vortragsnarrative gilt es in der Dissertation im Verleihsystem der DKG und im verdunkelten Raum der Projektionsvorstellungen zu situieren, um diesen bisher kaum bedachten historischen Gebrauch kolonialer Fotografien sichtbar zu machen. Die Dissertation untersucht, wie Fotografien aus den deutschen Kolonien in zusammenhängenden Serien als Glas-Diapositive zwischen Metropolen, Kleinstädten und Dörfern des Kaiserreichs zirkulierten sowie auch in europäische Metropole und bis in die Kolonien gelangten. Sie wurden „nicht nur denjenigen Rednern, die eigene Lichtbilder nicht besitzen, zur Verfügung gestellt, sondern ermöglichen es […], an der Hand der dazu hergestellten Erläuterungen ohne Hinzuziehung eines auswärtigen Redners selbst mit geringem Kostenaufwand Lichtbildervorträge zu veranstalten.“[2]
In der Dissertation verzahnt sich eine medienhistorische Forschung mit einer Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte. Hierfür kann auf von den post colonial studies informierte Untersuchungen aufgebaut werden, die für die wechselseitigen Zusammenhänge von fotografischer Bildproduktion bis zur -präsentation sowie der Konstruktion eines Anderen und nationaler Identitätsbildung sensibilisiert haben.[3] Eine film- und medienwissenschaftliche Forschung zur fotografischen Bildprojektion[4] sowie zur screen culture um 1900[5] bietet eine medienhistorische Verortung des Vortragswesen.
Kamerun virtuell bereisen und erobern
Im Folgenden wird der Einstieg in den vorgefertigten Lichtbildervortrag Kamerun II (1901) von Prosper Müllendorff (1854–1922) genauer betrachtet, um dieses standardisierte Format verständlich zu machen.[6] Die Bilderreihe Kamerun II war eine von insgesamt 60 Reihen, die zwischen 1895 und 1911 im Auftrag der Berliner DKG-Zentrale von kolonialengagierten Männern ausgearbeitet wurden. Müllendorff, Redakteur bei der Kölnischen Zeitung,[7] ordnete für den vorgefertigten Vortrag 67 fotografische Diapositive[8] und verfasste ein begleitendes, 18-seitiges Manuskript. Diese virtuelle Reise führte von der Küste zum nahen Regierungssitz der Kolonialmacht, zeigte Landschaftsbilder als Zeugnisse einer üppig-unberührten Natur, Porträts der lokalen Bevölkerung, die rassistisch diffamiert wurde; hob kolonialpolitisch gesteuerte Infrastrukturmaßnahmen hervor und führte mit geografischen Sprüngen nach Norden ins Landesinnere.
Eine eingehende Analyse des Materials zeigt, dass im Lichtbildervortrag eine „virtuelle Reise“[9] eine gefühlte Nähe zu geografisch weit entfernten Räumen aufbauen konnte. Die DKG begründete ihr Vortragswesen 1908 so, dass sie „die Unterlagen für [ihre] Bestrebungen, die Kolonien, der Heimat nur in Wort und Bild vorführen“[10] könne, und eben nicht, so wäre hinzuzufügen, in situ. ‚Die Kolonien‘ mussten von der DKG medial vermittelt werden, obgleich „[d]ie beste Werbung für den kolonialen Gedanken […] eine Reise in die deutschen Kolonien“[11] selbst gewesen wäre, um „Liebe für das Land und Verständnis für die Arbeit unserer Kulturpioniere dort drüben“ [12] zu wecken. Doch da touristische Reisen im Allgemeinen exklusiv blieben,[13] konnte die DKG die Menschen im Kaiserreich lediglich virtuell auf die Reise schicken.
Lokalisierung und Bewegung im Bild-Text-Ensemble
Die Ankunft vor der Küste Kameruns bei Duala inszenierte der Beginn des Vortrags in drei Bildern, von denen zwei aufzufinden sind.[14] Diese sind vom Schiff aus als erste Blicke auf die Kolonie von Überseereisenden beschrieben. Gut die Hälfte des Bildinhaltes wird vom Deck eingenommen, auf dem sich Kisten, Bündel und Konserven stapeln. Dazwischen sitzen und stehen Männer in Rückenansicht, die ihre Blicke auf die am Horizont sich abzeichnende Küste richten bzw. Masten und Segel des Schiffes inspizieren. Begleitend zum ersten Bild heißt es in gekürzter Fassung: „Nach vierundzwanzigtägiger Fahrt befinden wir uns im Kameruner Haff […]. Eine geraume Zeit lang erblicken wir an den fernen Ufern nur die eintönigen Mangrovenbüsche.“[15] Zum nächsten Bild folgt: „An Steuerbord verschwinden die Mangroven, das Gelände hebt sich, während wir am Backbord den gewaltigen Kamm des Götterberges betrachten können, denn es ist Spätnachmittag, die Zeit, wo der Bergriese ohne Nebelkappe erscheint.“[16] Mit dem dritten Bild-Text-Abschnitt war das Reiseziel erreicht: „Wir liegen im Fluß, neben dem Kanonenboot ‚Habicht‘ und dem Vermessungsschiff ‚Wolf‘, sowie der Hulk, die einst […] ein Kriegsschiff war.“[17] Personen lassen sich nicht identifizieren. Anstatt der erwähnten Mangrovenbüsche oder Schiffe ist auf den Fotografien im Hintergrund vage ein Küstenstreifen zu sehen.
Für den Vortrag war dieser Einstieg bedeutsam, nicht weil – wie im weiteren Verlauf des Vortrages – etwas zur Schau gestellt wurde, sondern weil das Publikum atmosphärisch beschreibend und medientechnisch versiert involviert, lokalisiert und mobilisiert wurde. In der Wir-Perspektive schloss der Vortrag die anwesenden Personen in eine gemeinsam erlebende Gruppe ein. Diese gruppenbezogene Involvierung war ein medientechnisches Novum, denn erst die Projektion ermöglichte, dass Fotografien von vielen Personen gleichzeitig erfasst werden konnten.[18] Diese inkludierende Gruppenformierung ging, wie in der Dissertation ausgeführt wird, im Vortragsverlauf mit einer rassifizierenden, hierarchisierenden Abgrenzung zu einem konstruierten Außen („den Duala“[19], „den Eingeborenen“[20]) einher.[21]
In der Lesart des Vortrags wurden die Fotografien nicht historisiert, sondern zeitlich in der Gegenwart des Präsentationskontextes als spätnachmittägliche Ankunft von Überseereisenden und räumlich im Kameruner Haff lokalisiert. Außerdem ist zu konkretisieren, dass die virtuelle Ankunft vielmehr eine mobilisierte Anreise war. Erstens sind die Bilder sichtbar von einem Transportmittel, dem Schiff, aus aufgenommen. Zweitens suggeriert die Bildreihe eine Chronologie. Die Anordnung konnte Bewegung anregen, weil die Küste Bild für Bild näher kommt. Es war am Publikum, die Leerstelle zwischen diesen statischen „Bildern in Bewegung“[22] als räumliche Distanz imaginativ zu füllen.[23] Auch hier spielte die Projektionstechnik hinein, die Fotografien nicht (räumlich) nebeneinander arrangierte, wie etwa das Album,[24] sondern apparativ vermittelt und (zeitlich) nacheinander in eine Abfolge brachte. Solche raumzeitlichen Illusionen erscheinen als „proto-filmische Situation“[25] im Vortragsgeschehen, die auf die engen Verbindungen zwischen Fotografie- und Filmgeschichte hinweisen. Im Gegensatz zu kinematografischen Aufnahmen waren die Diapositive jedoch lose in Kästen geordnete Fotoobjekte, konnten ausgetauscht und kostengünstig reproduziert werden. Der Vergleich von Rahmungen, Beschriftungen und Bildprägungen in der Lichtbilderreihe zeigt, dass hier Fotografien nicht nur mit unterschiedlichen Provenienzen, sondern auch aus anderen Lichtbilderreihen zusammengebracht wurden. So wiederholten, reformulierten und aktualisierten die Lichtbildervorträge der DKG die Narrative ihrer kolonialen Propaganda.
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[1] Vgl. insbes. die filmwissenschaftliche Arbeit von WolfgangFuhrmann zu kinematografischen Vorführungen im Programm der DKG (Wolfgang Fuhrmann: Imperial projections: screening the German colonies, New York/Oxford 2015; ders.: Lichtbilder und kinematographische Aufnahmen, in: KINtop, Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films [Film und Projektionskunst], Heft 8, 1999, S. 101–116) sowie außerdem zur Bildsammlung der DKG: Jens Jäger: Ikonische Überzeugungsarbeit. Die Deutsche Kolonialgesellschaft als ‚Bildagentur‘, in: Annelie Ramsbrock, Annette Vowinckel, Malte Zierenberg (Hg.): Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013, S. 21–43; Jens Jäger: Die Kolonien in Farbe. Ein farbfotografisches Großprojekt im späten Deutschen Kaiserreich, in: Fotogeschichte, 42. Jg., Heft 163, 2022, S. 31–42.
[2] DKG: Jahresbericht der Deutschen Kolonialgesellschaft 1911, Berlin 1912, S. 39.
[3] Vgl. für das Deutsche Kaiserreich u. a.: Felix Axster: Koloniales Spektakel in 9 x 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich, Bielefeld 2014; Volker Langbehn: German Colonialism, Visual Culture, and Modern Memory, New York 2012; David Ciarlo: Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge M.A./London 2011.
[4] Vgl. Jens Ruchatz: Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion, München 2003 sowie das Themenheft „Fotografie und Projektion“ (Fotogeschichte, 19. Jg., Heft 74, 1999).
[5] Vgl. grundlegend Charles Musser: The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907, Berkeley, CA u.a. 1990, S. 17–24 sowie Joe Kember (Hg.): The International Lantern Part 1 (Special Issue), in: Early Popular Visual Culture, 17. Jg., Heft 1, S. 1–133, 2019; ders. (Hg.): The International Lantern Part 2 (Special Issue), in: Early Popular Visual Culture, 17. Jg., Heft 3–4, S. 227–414, 2019; Sarah Dellmann, Frank Kessler: A Million Pictures: Magic Lantern Slides in the History of Learning, New Barnett 2020; Martin Loiperdinger: Screen History – Medienkulturen der Projektion, in: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Heft 52, 2012, S. 55–66; Ludwig Vogl-Bienek, Richard Crangle (Hg.): Screen Culture and the Social Question 1880–1914, New Barnett 2014.
[6] Prosper Müllendorff: Vortrag zu den Lichtbildern der Deutschen Kolonialgesellschaft über Kamerun (II. Teil), Berlin 1901, S. 6.
[7] Vgl. Hans-Georg Klose: Zeitungswissenschaft in Köln. Ein Beitrag zur Professionalisierung der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München u.a. 1989, S. 42; Gast Mannes: Prosper Müllendorff, in: Dictionnaire des Auteurs Luxembourgeois des Centre national de littérature (Lëtzebuerger Literaturarchiv (CNL), www.autorenlexikon.lu/page/author/499/4995/FRE/index.html (Zugriff: 22.3.2023).
[8] Von 67 fotografischen Bildern wurden bisher 42 Negative im Format 8,5x10 cm in der digitalen Datenbank des historischen Bildbestandes der DKG ausfindig gemacht.
[9] Vgl. Jeffrey Ruoff: The Filmic Fourth Dimension. Cinema as audiovisual Vehicle, in: ders. (Hg.): Virtual Voyages. Cinema and Travel, Durham/London 2016, S. 1–22, hier: S. 1. Von Ruoff beschriebene Aspekte der virtuellen, filmischen Reise zeigen sich auch im Lichtbildervortrag die Konstruktion raumzeitliche Beziehungen sowie die Erkundung – und hier im Speziellen die Kolonisierung – entfernter Orte durch Bild und Ton. Im Gegensatz zur virtuellen Reise historisch geläufig war der damals neugeschöpfte, englische Begriff travelogue von Burton Holmes, erfolgreicher Veranstalter von Lichtbildervorträgen (vgl. Jennifer Lynn Peterson: Education in the School of Dreams. Travelogues and Early Nonfiction Films, Durham 2013, siehe Kapitel 1: Varieties of Travel Experiences. Burton Holmes and the Travelogue Tradition, S. 23–61).
[10] DKG: Jahresbericht der Deutschen Kolonialgesellschaft 1908, Berlin 1909, S. 6, Herv. d. Autorin.
[11] Anonym: Reisen nach den deutschen Kolonien, in: Deutsche Kolonialzeitung, Jg. 9, Heft 51, 28.2.1914, S. 149–150, hier: S. 149.
[12] Ebenda.
[13] Vgl. Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt am Main, New York 2012, S. 181.
[14] Der historische Bildbestand der DKG ist archiviert als Koloniales Bildarchiv in der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg Frankfurt am Main und digitalisiert online zugänglich: Koloniales Bildarchiv, sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/kolonialesbildarchiv (Zugriff: 22.3.2023). Vgl. zur Erschließung Uwe Jäschke, Wilhelm Schmidt, Irmtraut Wolcke-Renk: Die Kolonialbildsammlung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, in: ABI-Technik, 20. Jg., Heft 1, 2000, S. 41–48; Uwe Jäschke: Technische Aspekte zur Sicherung und Erschließung des Bildbestandes der Deutschen Kolonialgesellschaft, in: Rundbrief Fotografie, N.F., Heft 13, 1997, S. 27–30; Irmtraut Wolcke-Renk: Sicherung und Erschließung des Bildbestandes der Deutschen Kolonialgesellschaft an der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, in: Rundbrief Fotografie, N. F., Heft 11, 1996, S. 14–20.
[15] Müllendorff, (Anm. 6), S. 6.
[16] Ebenda.
[17] Ebenda.
[18] Vgl. Ruchatz, (Anm. 4), S. 87.
[19] Müllendorff, (Anm. 6), S. 7.
[20] Ebenda.
[21] Vgl. grundlegend zur Differenzproduktion: Edward Said: Orientalismus, Frankfurt am Main 2009 (1978); Stuart Hall: Das Spektakel des ‚Anderen’, in: ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004 (1997), S. 108-166 sowie Stuart Hall: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994 (1992), S. 137–179.
[22] Joachim Paech: Was ist ein kinematographisches Bewegungsbild?, in: Thomas Koebner, Thomas Meder (Hg.) Bildtheorie und Film, München 2006, S. 92–107, hier: S. 99.
[23] Vgl. Jens Ruchatz: Ein Foto kommt selten allein. Serielle Aspekte der Fotografie im 19. Jahrhundert, in: Fotogeschichte, 18. Jg., Heft 68/69, 1998, S. 31–46, hier: S. 39.
[24] Vgl. Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone: Fotoalben im 19. Jahrhundert, in: Fotogeschichte, 41. Jg., Heft 161, 2021, S. 3–4, hier: S. 3; Judith Blume: Wissen und Konsum. Eine Geschichte des Sammelbildalbums, Göttingen 2019, S. 70.
[25] Philippe Despoix: Dia-Projektion mit freiem Vortrag. Warburg und der Mythos von Kreuzlingen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 6. Jg., Heft 11, Nr. 2, 2014, S. 18–36, hier: S. 24.
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