Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Frauennetzwerke der Avantgarde

Ein Gespräch mit der Kunst- und Fotohistorikerin Julia Secklehner über die Fotomontagen von Friedl Dicker-Brandeis und die Spurensuche in der zentraleuropäischen Fotografiegeschichte der Zwischenkriegszeit

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 169, 2023

 

Die kunst- und fotohistorische Forschung folgt noch viel zu oft nationalen Grenzziehungen, stellt die Kunst- und Fotohistorikerin Julia Secklehner fest. Zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern arbeitet sie an der Universität Brünn an einem transnationalen Forschungsvorhaben zu Kunst und Kultur der mitteleuropäischen Zwischenkriegszeit. Sie erforscht im Rahmen des Projekts „Continuity and Rupture. Art and Architecture in Central Europe 1918–1939“ (CRAACE) die biografischen, politischen und künstlerischen Netzwerke von Fotografinnen und Künstlerinnen in Zentraleuropa. Unter anderem arbeitet sie zu Irena Blühová, Judit Kárász, Marie Doleželová-Rossmanová, Edith Tudor-Hart und auch zur österreichischen Bauhausschülerin Friedl Dicker-Brandeis, deren Fotomontagen aus den frühen 1930er Jahren der Forschung bis heute Rätsel aufgeben. Im Gespräch erzählt Secklehner, wie sie zu ihrem Forschungsthema gekommen ist, welche Rolle die Bauhauskultur und die über nationale Grenzen hinweg vernetzte linke politische Bewegung für die aktivistische Kunst von Frauen in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Deutschland und Österreich spielten.

Anton Holzer: Die Fotografie der Zwischenkriegszeit ist über weite Strecken gut erforscht. Und dennoch gibt es noch viele Lücken – und immer noch spannende Entdeckungen. Frau Secklehner, ich möchte mit Ihnen über einige zentraleuropäische Fotografinnen und mögliche Verbindungslinien zwischen ihnen sprechen. Vorab aber: Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Forschungsthema gekommen?

Julia Secklehner: Eigentlich eher zufällig. Fotografie hat mich schon immer interessiert und für meine Master-Forschungsarbeit an der Universität Glasgow wollte ich einen Vergleich zwischen zentraleuropäischen und lateinamerikanischen Fotografinnen in der Zwischenkriegszeit herstellen. Mich interessierten die Umstände, unter denen diese zur Fotografie gekommen sind, und vor allem ihre aktivistischen Arbeiten, die auch künstlerisch gut ausgearbeitet waren. Gerade in den 1930er Jahren gab es unter linksgerichteten Künstler*innen gute Verbindungen zwischen Zentraleuropa und Lateinamerika, vor allem mit dem postrevolutionären Mexiko. Da machte die Verbindung von Aktivismus und Kunst auf beiden Kontinenten durchaus Sinn, auch wenn sich die politische Geschichte oft weitgehend unterschied. Hauptsächlich habe ich mich dann auf zwei Fotografinnen konzentriert, die zum einen eine künstlerisch-fotografische Ausbildung hatten, und zum anderen in der kommunistischen Partei aktiv waren: Tina Modotti in Mexiko und Irena Blühová, die hauptsächlich in der ehemaligen Tschechoslowakei arbeitete. Von Blühová ausgehend begann ich dann, mich weiter auf den zentraleuropäischen Raum und andere Fotografinnen mit einem ähnlichen sozialpolitischen und künstlerischen Profil zu konzentrieren. Judit Kárász ist eine von ihnen, Marie Doleželová-Rossmanová – und natürlich Friedl Dicker-Brandeis.

Bleiben wir gleich bei Friedl Dicker-Brandeis. Sie war ja eine sehr vielseitige Künstlerin. Unter anderem hat sie in der Zwischenkriegszeit Fotomontagen hergestellt. Bekannt sind diese Arbeiten schon länger, warum aber sind sie in der internationalen Fotoszene bis heute erstaunlich wenig rezipiert worden?

Ich denke, es ist schwierig, diese Fotomontagen in der etablierten Forschungslandschaft zu verorten, vor allem, weil die österreichische Kunstgeschichte in der Zwischenkriegszeit erst langsam aufgearbeitet wird. Obwohl viele der „alteingesessenen“ Narrative in der internationalen Fotoszene langsam aufgebrochen werden, orientieren sie sich nach wie vor an recht selektiven Themen und (männlichen) Akteuren. Diese haben oft einen recht teleologischen Zugang zur Fotografiegeschichte und sind oftmals auf einzelne Künstlerbiografien oder Institutionen konzentriert – das Bauhaus in der Weimarer Republik ist ein Beispiel dafür, und auch die damit verbundenen Fotografen, allen voran László Moholy Nagy.

Friedl Dicker-Brandeis war zwar auch selbst „Bauhäuslerin“, aber ihre Fotomontagen entstanden viel später und vor einem politischen Hintergrund, der im internationalen Bereich erst kontextualisiert werden muss. In der Weimarer Republik war die kommunistische Partei viel stärker als etwa in Österreich. Die Künstler*innen, die diese Bewegung unterstützten, hatten und haben auch eine größere Präsenz in der Forschung, Stichwort John Heartfield. Fotograf*innen wie Dicker-Brandeis sind im Netzwerk einer international aktiven, linksgerichteten Avantgarde viel weniger sichtbar. Die relative späte „Wiederentdeckung“ von Frauen in der Kunst- und Fotografiegeschichte spielt dabei sicher auch eine Rolle. Ein weiterer Grund ist bestimmt auch, dass die soziale und politische Situation in Zentraleuropa in den 1920er und 30er Jahren, und die politische Kunst, die dabei entstanden ist, immer noch sehr im nationalen Rahmen verankert ist. Das heißt, dass es kaum eine übergreifende, also transnationale Fotogeschichtsschreibung Zentraleuropas gibt, mit Ausnahme von Matthew Witkovsks Publikation Foto. Modernity in Central Europe 1918–1945 (2007)oder Jorge Ribaltas Katalog zur Arbeiterfotografie The Worker Photography Movement 1926–1939 (2011). Würde man Dicker-Brandeis‘ Fotomontagen in diesen Kontext setzen, erschließen sich bestimmt Möglichkeiten zur breiteren Rezeption.

Woher bezog Dicker-Brandeis ihre Anregungen für ihre Arbeiten? Welche Rolle spielt die Fotografie in ihrer Kunst?

Sie war eine Gestalterin im wahrsten Sinne des Wortes, die kunstgewerbliche Arbeiten schuf, in der Innenraumgestaltung und pädagogisch tätig war, und unter anderem eben auch mit Fotomontagen arbeitete. Ihre Anregungen bezog sie dabei aus verschiedensten Quellen – ihr Besuch der Kinderkunstklasse bei Franz Čižek und der Wiener Kunstgewerbeschule waren dabei wichtig, wie auch ihre Arbeit mit Johannes Itten, dem sie als eine der ersten Österreicher*innen ans Bauhaus folgte, zusammen mit Anny Wottitz, Margit Tery und Franz Singer. Mit Singer gab es auch eine längere Zusammenarbeit im Bereich der Architektur und Innenarchitektur, in Berlin wie auch in Wien, wie zuletzt eine Ausstellung im MUSA gezeigt hat.

Dicker-Brandeis‘ Fotomontagen kamen erst später, in den frühen Dreißigerjahren zustande. Jedoch war Fotografie am Bauhaus und unter jungen avantgardistischen Künstlerkreisen, in denen sich Dicker-Brandeis durchwegs bewegte, ab den Zwanzigerjahren ein wichtiges Medium, das sehr experimentierfreudig betrieben wurde, aber auch oft dem Zweck der Dokumentation und der privaten Erinnerung diente. Auch wenn Dicker-Brandeis selbst erst später mit Fotografien zu arbeiten begann, hatte das Medium Fotografie schon deutlich früher eine hohe Präsenz in ihrem Umfeld. Vor allem mit der politischen Radikalisierung in Österreich und in Deutschland erreichten dann aktivistische Fotomontagen eine immer höhere Sichtbarkeit, insbesondere in der linken illustrierten Presse, wie zum Beispiel in der kommunistischen Arbeiter-Illustrierte–Zeitung oder im sozialdemokratischen Kuckuck. In diesem Sinne sind Dicker-Brandeis fotografische Arbeiten am ehesten im Spannungsfeld zwischen dem Bauhaus und der aktivistischen Kunst der Dreißigerjahre zu verorten.

Sie erwähnen das Bauhaus …

Ja, das Bauhaus ist immer ein wichtiger Ansatzpunkt, wenn es um Fotografie und Design in der Zwischenkriegszeit geht. Nach wie vor ist es einen der wohl am besten erforschten Orte fortschrittlicher Strömungen in der Kunstgeschichte der Moderne zu dieser Zeit. In Bezug auf Dicker-Brandeis ist das Bauhaus auch vor allem deswegen wichtig, weil die Verbindung zur Schule vielen Gestalterinnen in den letzten Jahren eine vermehrte Sichtbarkeit gegeben hat – als „Bauhausmädels“ (Patrick Rössler) oder „Bauhäuslerinnen“ hat der Ruf der Schule es ermöglicht, viele vergessene Künstlerinnen zu rehabilitieren. Die diminutive Bezeichnung „Bauhausmädels“ verdeutlicht dabei auch, dass Frauen lange Zeit keineswegs den gleichen Status als Gestalterinnen genossen wie ihre männlichen Kollegen. Gunta Stölzl war zum Beispiel die einzige „Bauhausmeisterin“, und trotz erfolgreicher Karrieren standen die „Bauhäuslerinnen“ lange Zeit im Schatten, am Bauhaus selbst, wie auch in der Forschung.

Dicker-Brandeis nimmt dabei eine besondere Stellung ein: zum einen wird sie oft als besonders talentierte Schülerin Ittens zitiert, zum anderen ist sie wohl die bekannteste Österreicherin, die das Bauhaus in seiner Anfangsphase besuchte und danach international erfolgreich tätig war. Natürlich gibt es auch eine Kehrseite zu dieser (des Öfteren unkritisch) betonten Verbindung zum Bauhaus – nicht nur in Bezug auf Dicker-Brandeis, sondern im weiteren Sinn. Gemeint ist, dass in der Forschung die Zugehörigkeit zur Schule aufgrund der Reichweite des Bauhauses oft als weit wichtiger beurteilt wird, als andere Aktivitäten, zumal viele Studierende nur zwei, drei Jahre dort verbrachten. Sicherlich war das Bauhaus eine prägende Zeit auf vielen Ebenen (Irena Blühová nannte es zum Beispiel „eine Schule zur Gestaltung des Menschwerdens“), jedoch überschattet es auch andere, regionalere Entwicklungen und Verbindungen. Das ist auch bei Dicker-Brandeis der Fall – erst jetzt gibt es Bemühungen, ihr vielseitiges Schaffen aus verschiedensten Perspektiven kritisch zu betrachten.

Friedl Dicker ist jahrelang in Vergessenheit geraten. Wann und wie wurde sie wiederentdeckt?

Die wohl wichtigste Person zur Wiederentdeckung ist die Kunsttherapeutin und Schriftstellerin Elena Makarova, die ab den späten Neunzigerjahren mehrere Ausstellungen zur Künstlerin kuratierte. Zudem schuf sie auch eine Website, die zum Beispiel Dicker-Brandeis‘ Briefe öffentlich zugänglich machen (http://www.makarovainit.com/friedl/letters.html). In den letzten Jahren wurde Dicker-Brandeis dann vermehrt in Ausstellungen präsentiert, und 2022 gab es mehrere Einzelausstellungen, die die facettenreiche Arbeit der Künstlerin einem breiteren Publikum zugänglich machte. Die verschiedenen Bereiche, in denen Dicker-Brandeis tätig war, haben dabei mit verschiedener Gewichtung Beachtung gefunden. Besonders etabliert ist ihre Tätigkeit als Kunstpädagogin, die sie auch im Ghetto Theresienstadt weiterführte, bevor sie mit vielen ihrer Schülerinnen in Auschwitz ermordet wurde. Schülerinnen und Mitarbeiterinnen aus Dicker-Brandeis‘ Zeit in Wien und in Prag, die dem Holocaust entkommen konnten, zum Beispiel Edith Kramer, betonten wiederholt wie einflussreich ihre Lehrmethoden waren, was Dicker-Brandeis zu einer der ersten Kunstpädagoginnen überhaupt machte.

Durch das Hundertjahrjubiläum des Bauhauses 2019 fanden auch ihre gestalterischen Arbeiten mehr Beachtung. Katharina Hövelmann widmete zuletzt dem Studio Dicker-Singer eine Monografie. Dicker-Brandeis‘ Fotomontagen haben vergleichsweise weniger Beachtung gefunden. Erwähnenswert ist die Magisterarbeit „Friedl Dicker: Marxistische Fotomontagen 1932/33: Das Verfahren der Montage als sozial-kritische Methode” von Angelika Romauch aus dem Jahr 2003 und Stefanie Kitzbergers Analyse der Fotomontagen in dem zuletzt erschienenen Band Friedl Dicker-Brandeis (2023). Mittlerweile kann man sagen, dass Dicker-Brandeis nicht nur als Künstlerin wiederentdeckt wurde, sondern auch eine der wohl wichtigsten Repräsentantinnen der progressiven österreichischen Kunst in der Zwischenkriegszeit ist. Dennoch sind ihre Fotomontagen ein Aspekt ihres Schaffens, der noch weiterer kritischer Aufarbeitung im internationalen Kontext bedarf, zumal sie ansonsten einen relativ isolierten Teil ihres Schaffens darstellen.  

Die Fotomontage war in der Zwischenkriegszeit nicht nur ein künstlerisches Mittel, um mit Bildern zu arbeiten, sondern auch ein weit verbreitetes Instrument des politischen Kampfes. Denken wir an die Montagen John Heartfields für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung. Ich nehme an, dass Dicker aus diesem Umfeld Anregungen bezog. Ist etwa bekannt, für welche Anlässe genau Ihre Montagen angefertigt wurden oder in welchen Medien sie sie politisch einsetzen wollte?

Die Sachlage mit den Fotomontagen ist etwas schwierig, weil die Originale nicht mehr erhalten sind. Angelika Romauch und Stefanie Kitzberger haben aber aufgrund des sichtbaren Umfelds auf den Negativen vermutet, dass es sich um Lehrtafeln handeln könnte, eventuell für die Marxistische Arbeiterschule (MASCH), die 1931 in Wien gegründet wurde und mit der Dicker-Brandeis sehr wahrscheinlich Kontakt hatte. Die Fotografien der Montagen weisen außerdem darauf hin, dass die Aufnahmen im privaten Raum gemacht wurden. Diese Umstände zeigen, dass der Anlass und die Entstehungsgeschichte von Dicker-Brandeis‘ Fotomontagen sich trotz der Verwendung desselben Mediums von denen John Heartfields unterscheiden. Denn obwohl Dicker-Brandeis aufgrund ihrer politischen Prägung aus dem Umfeld der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und des Kuckuck, wie auch aus sowjetischen Illustrierten Anregungen bezog, waren ihre Fotomontagen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht für die Vervielfältigung gemacht, sondern können im Kontext der Arbeiterbildung verortet werden.

Romauch hat dabei Assoziationen mit dem Brünner Architekten Jiří Kroha hergestellt, der mit Studierenden an der Brünner technischen Hochschule vergleichbare Arbeiten zum Thema Wohnungsnot und soziale Entwicklung herstellte. Im Vergleich zu Heartfield fällt dabei auch auf, dass Dicker-Brandeis‘ Fotomontagen deutlich komplexer konzipiert sind. Heartfields Arbeiten, mit seinen scharfen satirischen Ansätzen sind dabei eindeutig für ein Massenpublikum ausgerichtet, während Dicker-Brandeis‘ Fotomontagen auf vielschichte Weise die rechtspolitische Radikalisierung mit steigender sozialer Not in Verbindung thematisiert, was ihre Funktion als Lehrmaterial unterstreicht, das komplexe Vorgänge visualisiert, die aber auch mehr Erklärungsbedarf haben.

Ich möchte nun Ihre Forschungsschwerpunkte innerhalb des Forschungsprojekts „Continuity and Rupture. Art and Architecture in Central Europe 1918–1939“ (CRAACE) zu sprechen kommen. Eine Ihrer Thesen ist, dass die oft praktiziert biografische und nationale Fokussierung zu kurz greift, um künstlerische Arbeiten zu erfassen und einzuordnen. Wichtig ist, so sagen Sie, den Blick über nationale Grenzen hinaus zu werfen, Kooperationen, Zusammenarbeit, aber auch mediale, ideologische oder politische Netzwerke ins Spiel zu bringen. Insbesondere im Bereich der Frauen …

Im CRAACE Projekt (https://craace.com), das von Professor Matthew Rampley an der Masaryk Universität in Brünn geleitet wird, arbeiten wir zu viert. Obwohl wir alle ein eigenes Forschungsthema haben (Kirchenbau und Moderne; Repräsentation bei internationalen Ausstellungen; Historiendarstellungen in der Moderne; Regionale Modernen) liegt unser gemeinsamer Schwerpunkt auf der Frage, wie sich der Zerfall der Habsburgermonarchie auf die kunsthistorische Entwicklung der Nachfolgestaaten ausgewirkt hat. Welche Kontinuitäten gab es in den neuen Staaten? Und wo wandten sich Gestalter*innen ganz bewusst vom kulturellen Erbe der Habsburgermonarchie ab?  Mein Schwerpunkt im Projekt ist die regionale Moderne, wodurch ich auch begonnen habe, mich mit Fotografinnen, zu denen ich schon länger arbeite, auf neue Weise auseinanderzusetzen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich Fotografinnen wie Dicker-Brandeis, Blühová, Judit Kárász, oder auch Edith Tudor-Hart nicht nur mit ähnlichen Themen auseinandersetzen, sondern auch in vergleichbaren, bzw. denselben politischen Netzwerken involviert waren.

In der linken, sozialdokumentarischen und politisch engagierten Fotografie, mit der Sie sich intensiv beschäftigt haben, gab es also zahlreiche, oft wenig bekannte, Verbindungslinien, etwa zwischen Fotografinnen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland?

Das ist richtig. Ich stehe zwar noch am Anfang dieses Projekts, jedoch lässt sich zum Beispiel mit Sicherheit sagen, dass Blühová und Kárász, die sich als Bauhausschülerinnen kennenlernten, auch in Zentraleuropa verbunden blieben – nicht zuletzt durch politische Aktivitäten und ihr Mitgliedschaft in Fotoklubs wie Sárlo und Sociofoto, die stark von sozialdokumentarischen Ansätzen geprägt waren. Es gab gemeinsame Ausstellungen in der Tschechoslowakei und in Ungarn, und freundschaftliche Verbindungen, die im Falle von Blühová und Kárász von den 1930ern bis in die 1970er Jahre reichten.

War auch Dicker-Brandeis Teil dieses Netzwerks?

Ich vermute es. Die Frage ist, zu welchem Grad sie involviert war und wo die exakten Verbindungspunkte liegen. Soziale und pädagogische Themen, aber auch die kommunistische Partei spielen dabei eine ausschlaggebende Rolle. Aufmerksam wurde ich auf mögliche Verbindungen durch eine Referenz Makarovas, dass nämlich Dicker-Brandeis während ihrer Zeit in Prag im aktivistischen Untergrund im Umfeld der Buchhandlung Schwarze Rose tätig war. Durch Institutionen wie diese gab es viele Verbindungen unter aktivistischen Künstler*innen, jedoch ist es schwierig, diese nachzuverfolgen, weil oftmals Quellenangaben unvollständig sind, bzw. Dokumente nicht mehr vorhanden sind.

Auch in Wien liegen Verbindungen nahe – zum Beispiel mit Edith Tudor-Hart (geb. Suschitzky), die nicht nur als Fotografin und Kommunistin aktiv war, sondern auch kurzzeitig eine Wohnadresse im gleichen Haus wie Dicker-Brandeis hatte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Kontakt zwischen den beiden gab – nicht zuletzt lässt sich das auch vermuten, weil eine der Fotomontagen von Dicker-Brandeis eine Fotografie von Tudor-Hart beinhaltet, die laut dem Fotohistoriker Duncan Forbes zu dieser Zeit noch gar nicht veröffentlicht war. Die persönlichen Verbindungen sind dabei oft ein Problem in der Forschung, weil sie nicht dokumentarisch belegt sind …

Was passierte nach 1933, bzw. 1938 in Österreich bzw. in der Tschechoslowakei? Konnten diese Netzwerke im Untergrund – zumindest in rudimentärer Form – weitergeführt werden?

Ja, absolut. Die Buchhandlung Blüh in Bratislava, die von Blühová geführt wurde und mit Unterstützung der Komintern, bzw. des kommunistischen Medienkonglomerats von Willi Münzenberg, dem auch die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung angehörte, ist ein Beispiel dafür. Mit Kontakten zu Wien und Prag konnten nicht nur Nachrichten ausgetauscht werden, sondern auch geflüchtete Kommunist*innen unterstützt werden. Eine besonders interessante Anekdote wurde dabei von der slowakischen Kunsthistorikerin Iva Mojžišová aufgezeichnet, in denen die Wiener Architektin Grete Schütte-Lihotzky und Blühová sich in den Siebzigerjahren über ihre Bekanntschaft mit dem Wiener Kommunisten Erwin Puschmann austauschen, den sie beide durch solche Netzwerke im Untergrund kannten. Dieses Beispiel zeigt auch, dass, abgesehen von persönlichen Kontakten, auch politisch geprägte Verbindungen zwischen diesen Gestalterinnen da waren, die aber oft erst später bekannt und sichtbar wurden. Es geht also um eine Re-Kontextualisierung verschiedener Netzwerke und fotografischer Arbeiten, die darin verankert waren, und zwar aus verschiedenen Perspektiven.

Wenn Sie nun, viele Jahrzehnte nach dem Ende von Nationalsozialismus und Krieg die Spuren dieser Epoche rekonstruieren, wo liegen die größten Schwierigkeiten? In der Zerstörung der Archive, in sprachlichen Hürden, in der langen Spaltung Europa durch den Kalten Krieg, in der nach wie vor stark national und auch männlich orientierten Foto- und Kunstgeschichtsschreibung?

Die oben genannten Beispiele weisen schon darauf hin, dass es oftmals ein Zufall bzw. eine kurze biografische Anekdote sein kann, die dabei hilft, Verbindungen zu rekonstruieren. Die Zerstörung von Archiven ist natürlich ein großes Thema – oder auch, dass sie an verschiedensten Orten zerstreut sind oder sich unbekannt in privaten Nachlässen befinden, die nur mit etwas Glück verortet werden können. Das kann man zwar als generelles Problem zur Forschung über die Zwischenkriegszeit in Zentraleuropa betrachten, jedoch ist die Lage bei Fotografinnen oftmals noch prekärer, vor allem dann, wenn sie hauptsächlich dokumentar- oder sozialfotografisch oder in Kollektiven arbeiteten.

Die Spaltung Europas ist, was den Zugang zu Archiven betrifft, kein großes Thema mehr. Da hat sich in den letzten Jahrzehnten doch viel getan – zuletzt auch mit der Digitalisierungswelle während der Coronakrise. Viel problematischer ist nach wie vor das Vorherrschen einer nationalen Kunstgeschichtsschreibung, die immer noch immer relativ wenig über die Grenzen schaut. Dabei spielen sicherlich auch sprachliche Hürden eine Rolle. Zum Beispiel kann ich zwar mit deutschen, tschechischen und slowakischen Quellen gut arbeiten, aber nicht mit ungarischen. Die Teamarbeit im CRAACE Projekt ist da sehr hilfreich, weil wir unter uns alle diese Sprachen abdecken. Aber auch Übersetzungsprogramme sind manchmal eine ganz passable Lösung. Insgesamt zeigt das Thema Sprache, dass kollaboratives Arbeiten ein wichtiger Ansatz wäre, um die Foto- und Kunstgeschichtsschreibung weiterzuentwickeln. In den Naturwissenschaften ist das normal, in den Geisteswissenschaften noch nicht so ganz …

Forschung heißt nicht nur im Archiv zu arbeiten, sondern auch Recherchen sichtbar zu machen: also zu schreiben, zu veröffentlichen, Ergebnisse zu präsentieren, Vorträge zu halten, aber auch Forschungsanträge zu schreiben. Wo orten Sie großes Interesse an Ihren Themen, wo ist dieses noch sehr verhalten?

In Tschechien ist unser Projekt zumeist sehr positiv aufgenommen worden – da gibt es großes Interesse am „Blick von außen“, also, als Expert*innen, die nicht hier ausgebildet wurden bzw. lange Zeit woanders gearbeitet haben. Aber auch bei internationalen Konferenzen wurde unsere Forschung bisher gut angenommen – gerade jetzt, wo es im Zuge der Rufe zur Dekolonialisierung viele Versuche gibt, alte Narrative aufzubrechen und etablierte Kunst- und Fotogeschichte „neu“ zu denken. Dabei gibt es auch im angloamerikanischen Raum Zuspruch für Ostmitteleuropaforschung in der Kunst, weil diese Region nach wie vor relativ „unbekannt“ ist, mit Ausnahme von vereinzelten Bauhauskünstler*innen Avantgardegruppen wie zum Beispiel Devětsil oder dem Ma Kreis um Lajos Kassák.

Initiativen wie „Connecting Art Histories“ der amerikanischen Getty Foundation unterstützen dabei den Austausch innerhalb der Region, und es gibt einige größere Projekte in München, Poznań oder auch Leipzig, die dabei helfen, diese Forschung sichtbar zu machen. Unser Projekt hat auch einen Blog, auf dem wir Kurzbeiträge teilen (https://craace.com/blog/). Erfreulicherweise bekommen wir bekommen des Öfteren sogar E-Mails von Leser*innen, die nicht im akademischen Bereich arbeiten, aber unsere Themen doch interessant finden ...  

Und noch eine letzte Frage: Wie hat sich in Ihren Augen die Kunst- und Fotografiegeschichte entwickelt, ist sie in den letzten Jahren transnationaler geworden, stärker interessiert an sozialen Fragen, vielleicht auch feministischer? Gibt es Unterschiede zu Großbritannien, wo sie lange gearbeitet haben, und Zentraleuropa, wo sie jetzt tätig sind?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Transnationales Arbeiten ist zuletzt ein wichtiges Schlagwort geworden, jedoch handelt es sich oft eher um nationale Vergleiche als um die Untersuchung wirklicher Verflechtungen. Dennoch es gibt einige sehr positive Entwicklungen, die dazu führen, dass die Forschung offener auf sozialpolitische Themen zugeht. Im Vergleich zu Großbritannien unterscheidet sich der Forschungsansatz ein wenig: während dort oft sehr theoretisch und kritisch gearbeitet wird, aber mit weniger Quellenforschung, ist es hier im Großen und Ganzen umgekehrt. Eine Mischung der beiden Ansätze wäre ideal, um die Kunst- und Fotografiegeschichte aber auch interdisziplinäres Arbeiten weiterzuentwickeln. Das gelingt bestimmt auch mit einem vermehrten Austausch – nicht zuletzt hat der Brexit dazu beigetragen, dass Forschende (wie auch unser Team) aus Großbritannien in die Region kamen kommen. Das hält das Forschungsgebiet dynamisch.

Vielen Dank für das Gespräch!

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