Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Clara Bolin

 

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre. Editorial

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 169, 2023

 

Die 1950er Jahre zeichnen sich rückblickend durch das Wirtschaftswunder, den Kalten Krieg und die kollektive Verdrängung der Kriegsschuld aus. Nach der Gründung der zwei deutschen Staaten 1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland bis 1955 weiterhin von der Alliierten Hohen Kommission mit Vertretern der Vereinigten Staaten, Großbritanniens sowie Frankreichs kontrolliert. Zum Statussymbol wurden nach elf Jahren der Rationierung, von 1939 bis 1950, nicht nur Zucker oder Zigarren, sondern ebenso die Fotografie. Die Fotoszene sah sich nach Kriegsende 1945 – ebenso wie das Gros der Bevölkerung – in der Opferrolle: Die fotografische Industrie habe am meisten gelitten und die wahnsinnige Zerstörung Ateliers und Nachlässe ausgelöscht. So liest man überall, der Wiederaufbau sei mutigen und engagierten Deutschen zu verdanken. Die eigene Täterschaft wurde unterschlagen: Der Ausschluss jüdischer Mitglieder aus fotografischen Organisationen, NSDAP-Mitgliedschaften, die Umstellung auf Rüstungsproduktion oder der Betrieb von Arbeitslagern sind Ergebnisse einer erst in den 1980er Jahren begonnen Aufarbeitung.[1] 

Stattdessen zeichnet sich die westdeutsche Fotoszene der Nachkriegszeit durch zahlreiche Debatten und begriffliche Unsicherheiten aus. „Foto oder Lichtbild?“ titelte der Fotograf Walter Boje (1905–1992)[2] 1952 in der Monatszeitschrift Fotoprisma und warf damit eine Frage auf, die bis in die 1960er-Jahre hinein nicht an Aktualität verlor.[3] Scharf diskutiert wurden in den gängigen Fotozeitschriften die „handwerklich-technischen Leistungen“ mitsamt einer „wirklichkeitsgetreue[n] Abbildung“, die der Gestaltung einer „geistig-seelische[n] Aussage“ gegenübergestellt wurden. Dieser Unterschied trieb Walter Boje offenbar derart um, dass er 1956 einen Ratgeber mit dem Titel Vom Foto zum Lichtbild im Wilhelm Knapp Verlag, 1951 von Halle an der Saale nach Düsseldorf umgezogen, veröffentlichte.[4] Darin diskutiert Boje u. a. den kompositionellen Einsatz von Schatten, Aufnahmeabständen, Bildformaten oder Grautönen als Mittel der fotografischen Gestaltung, die aus einem Foto ein Lichtbild machen könnten. Davon nimmt der Autor fotografische Reproduktionen, wissenschaftliche Fotografie, Passbilder und Pressefotos aus, deren Aufgabe in erster Linie die Dokumentation und nicht die Deutung eines Gegenstandes, Menschens oder Ereignisses sei. Wie wenig sich diese kategoriale Einteilung halten konnte, zeigt sich beispielsweise am ab 1954 wiedererscheinenden Jahresband Das Deutsche Lichtbild, in dessen Vorworten der Herausgeber Wolf Strache (1910–2001)[5] keine eindeutige Verwendung für die Begriffe hat.[6] Lichtbild, das stand in den 1950er Jahren für eine Traditionslinie hin zur künstlerischen Fotografie der Jahrhundertwende, ein Wiederanknüpfen an durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochene Strukturen wie die Herausgabe des Deutschen Lichtbilds oder wie die Neugründung der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner 1948. Foto, das war auch Fotomontage, Fotogramm, fotoform oder das gute Pressebild nach US-amerikanischem Vorbild, dessen Mangel in der Fotopresse oftmals beklagt wurde. Diese vermeintliche Trennlinie sowie die umstrittene Wortwahl kann stellvertretend für die Unsicherheit der Fotoszene der Nachkriegszeit stehen, in der keine offiziellen Institutionen oder Sammlungen die Diskurse über Fotografie vorgaben. An welche Strukturen wollte man anknüpfen, mit welchen Traditionslinien brechen? Als ab Mitte der 1950er Jahre die Amateur- und Berufsverbände neugegründet, fotografische Unternehmen wieder zusammengeschlossen und Ausstellungen sowie Jahrbücher einen regelmäßigen Rhythmus aufgenommen hatten, scheinen diese Fragen weiterhin ungeklärt. An dessen Stelle tritt ein plurales Verständnis von fotografischen Bildern: Ob Mikrofoto oder Porträt, Fotografie sollte alles sein können – und damit nicht zuletzt einen breiten Absatzmarkt fördern.

Die fotohistorische Auseinandersetzung mit den 1950er Jahren ist überschaubar.[7] Schlagwörter wie Trümmerfotografie, photokina und Subjektive Fotografie werden wiederholt mit den 1950er Jahren verbunden, ohne die Komplexität und Vielfalt an fotografischen Strömungen genauer zu untersuchen. Das vorliegende Themenheft wirft aus fünf unterschiedlichen Perspektiven einen aktualisierten Blick auf die westdeutsche Fotoszene der 1950er Jahre. Dabei greifen die hier versammelten Texte im Sinne dieses pluralen Verständnisses von Fotografie beispielhaft einige Anwendungsgebiete heraus: Fotografie als wissenschaftliches Medium, Presse-, Amateur-, Mode- und Farbfotografie. Die westdeutsche Fotoproduktion als Ausgangspunkt nehmend wird zudem deutlich, dass sich Fotogeschichten der 1950er Jahre nicht als Nationalgeschichte schreiben lassen. Was bedeutete es, in den 1950er Jahren als Fotograf*in zu arbeiten? Die Beiträge legen zweierlei Antworten nahe: Einerseits zirkulierten die fotografischen Bilder durch verschiedene Bildmedien und andererseits gestalteten die Akteure fotografische Strukturen mit, die bis heute prägend sind. So zeigt sich beispielsweise an den besprochenen Mikrofotografien von Carl Strüwe (Birgit Schillak-Hammers) oder den Pressebilder von Rolf Gillhausen (Miriam Zlobinski) ihre Fluktuation durch Ausstellungen, Fotobücher, Zeitschriften und Filme über nationale Grenzen hinaus. Während Gillhausen sich den Umgang mit Film- und Fotokamera noch selbst aneignete, verweisen Fotowerbung (Jelena Albers) und Ausstellungsanalysen (Clara Bolin) auf eine Ausdifferenzierung und Professionalisierung des fotografischen Feldes. Dabei werden die historischen Bedingungen reflektiert, die sich hinter Zuschreibungen wie Amateur, Autodidakt oder Berufsfotograf*in verbargen. Frauen finden sich dabei primär in stereotypen Posen vor der Kamera, weshalb ein abschließendes Gespräch nach dem Forschungsstand zu Fotograf*innen der 1950er Jahre fragt. Letztlich zeichnet sich in der Zusammenschau der Beiträge die Entwicklung vom Lichtbild hin zum Foto ab, die sich in den 1960er Jahren fortsetzten sollte.

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[1] Siehe beispielsweise Rolf Sachsse: Ästhetischer Wiederaufbau, in: DGPh Intern, 1. Jg., 1984, S. 17–23 und Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Hamburg 2003; Lothar Kräussl: Fotografie zwischen Handwerk, Kunsthandwerk, Kunst. Die Geschichte und Entwicklung der ‚Gesellschaft Deutscher Lichtbildner‘ seit 1919, Osnabrück 1988; Jens Ulrich Heine: Verstand und Schicksal. Die Männer der IG-Farbenindustrie-AG (19251945) in 161 Kurzbiographien, Weinheim 1990.

[2 Boje war seit 1933 NSDAP-Mitglied und arbeitete von 1935 bis 1945 als Mitarbeiter im Reichsluftfahrtministerium; ab 1945 Fotokopierbetrieb, dann Fotograf und Werbeleiter der Agfa, siehe Sachsse, (Anm. 1), S. 373.

[3] Walter Boje: Foto oder Lichtbild?, in: Fotoprisma, 3. Jg., Heft 2, 1952, S. 54–57.

[4] Siehe Walter Boje, Vom Foto zum Lichtbild, Düsseldorf: Wilhelm Knapp Verlag 1956.

[5] Strache, ebenfalls ab 1933 Mitglied der NSDAP, hatte seine verlegerische Tätigkeit bereits mit Kriegspropaganda erprobt, siehe Sachsse, (Anm. 1), S. 430.

[6] Siehe Wolf Strache: Das Deutsche Lichtbild. Jahresschau 1955, Stuttgart 1954.

[7] Zu den umfassendsten Auseinandersetzungen zum Thema zählen die Veröffentlichungen von Ludger Derenthal: Bilder der Trümmer- und Aufbaujahre. Fotografie im sich teilenden Deutschland, Marburg 1999 und Jörn Glasenapp: Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern, Paderborn 2008.

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