Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Gisela Steinlechner

Aus der Binnenwelt der Anstalt

Katrin Luchsinger, Stefanie Hoch (Hg.): Hinter Mauern / Behind Walls. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen von 1880 bis 1935 / Photography in Psychiatric Institutions from 1880 to 1935. Mit Beiträgen (dt./engl.) von Urs Germann, Stefanie Hoch, Markus Landert, Katrin Luchsinger, Sabine Münzenmaier, Martina Wernli, in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Thurgau; Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess, 2022, 131 Seiten, 29,5 x 23,5 cm, gebunden, 100 Abb. in S/W, 48 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 167, 2023

 

Es gibt wohl wenige Orte, die im gesellschaftlichen Bewusstsein so sehr von Projektionen, Vorurteilen und Unkenntnis überlagert sind wie psychiatrische Anstalten, insbesondere wenn es sich um historische Einrichtungen handelt. Und eben dort, in diesem verschwommenen „Dunkelraum der Gesellschaft“ sind die Glasdiapositive und S/W-Fotografien aus den Jahren 1880 bis 1935 entstanden, die in dem empfehlenswerten Ausstellungskatalog Hinter Mauern versammelt sind. Ausgewählt wurden sie aus einem Konvolut von 3.000 Bildern – durchwegs Aufnahmen aus Schweizer Anstalten, die aus sechs historischen Beständen zusammengetragen wurden und nun erstmals in einer Ausstellung gezeigt werden.[1] Im Vorwort streichen die Herausgeberinnen Katrin Luchsinger und Stefanie Hoch heraus, dass der stets mit voyeuristischen Erwartungen verknüpfte fotografische Einblick hinter Mauern nicht nur ethische Fragen aufwirft, sondern eine ganze Reihe von Überlegungen, die sowohl psychiatriegeschichtlich wie medientheoretisch relevant und überdies aufs engste miteinander verknüpft sind. „Gerade weil die Fotografie eine so überzeugende Wirkung entfaltet, ist ihr zu misstrauen“, heißt es programmatisch.   

Entsprechend bemühen sich die lesenswerten Beiträge des Bandes um eine kritische, möglichst umfassende Kontextualisierung des historischen Bildmaterials: Wer hat fotografiert? In der Regel waren es Ärztinnen und Ärzte, durchwegs Amateure, die neben wissenschaftlichen und dokumentarischen Zwecken manchmal auch fürs private Album fotografierten, schließlich waren die Anstalten nicht nur ihr Arbeitsplatz, sondern meist auch Wohnort und soziales Umfeld in einem. Worauf richtete sich der Kamerablick und was wurde gerade nicht fotografiert? Und wie sehr hängen die Wahl der Motive, deren Inszenierung und Perspektivierung mit den sich wandelnden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen von psychischen Erkrankungen zusammen bzw. mit den Erwartungen an die psychiatrische Disziplin? Einerseits wurde eine Systematisierung und Objektivierung der diffusen Krankheitsbilder und eine „Diagnostik via Fotoporträt“ angestrebt (letzteres zurückgehend auf den englischen Psychiater Hugh Welch Diamond), zum anderen ging es ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch darum, die einzelnen Institutionen und ihre therapeutische Ausrichtung in Bildbroschüren und Ansichtskarten zu bewerben. Mit den ersten Ansätzen der Reformpsychiatrie war nicht zuletzt auch der Anspruch einer tendenziellen Öffnung bzw. Öffentlichmachung der ausgegrenzten Binnenwelten der Anstalten verknüpft. „Die Konvolute zeigen eine Verhandlung über die Grenzen der Normalität“ und sie „visualisieren Mechanismen des Ein- und Ausschließens“, schreibt Katrin Luchsinger in ihrem Beitrag „Nichts zu sehen“.

Was ist nun aber auf den Fotografien zu sehen? Welche Geschichten und Typologien sind in ihnen aufbereitet, welche unerwarteten und unbeabsichtigten Einblicke gewähren sie heutigen Betrachter*innen? Auf den ersten Blick überrascht vielleicht, dass es hier so ordentlich zugeht, zu sehen sind keine verwahrlosten, lauten und grimassierenden „Irren“, wie sie die Darstellungen des „Wahnsinns“ bis ins 19. Jahrhundert hinein dominierten. Oft sind Patientinnen und Patienten wie zum familiären Gruppenfoto aufgestellt, in ihrer Alltagskleidung (die Frauen meist in Schürzen) kaum zu unterscheiden von den mit ihnen zusammen posierenden Pflegerinnen oder Ärzten. Oder man sieht sie auf der Hausbank beim gemeinschaftlichen Rosshaarzupfen, beim Gemüserüsten im Garten oder einem Crocket-Spiel – fünf distinguierte Herren in weißen Hemden und Gilets. Der Verdacht, dass es sich hier um „eine geschönte Version des Lebens“ in den Kliniken handelt, liegt nahe, andererseits reproduzieren viele Fotos in ihrer Bildsprache einfach die Konventionen der zeitgenössischen Amateur- und Atelierfotografie. In gewisser Hinsicht wurde so mit den visuellen Gebrauchsformen und Formaten des Mediums auch ein Stück „Normalität“ in die ausgegrenzte Welt der Psychiatrie importiert.

Freilich gibt es fast immer kleine Störfelder im Bild, Details wie ein vergittertes Fenster, eine Bettstatt, die auf einem leger arrangierten Gruppenfoto in einer offenen Tür zu sehen ist, merkwürdig steife oder exaltierte Körperhaltungen, etwa ein Mann mit über dem Kopf verschränkten Armen im Innenhof einer Anstalt, den die Kamera frontal in den Blick nimmt. Die im Archivbestand mitgelieferte Anmerkung dazu lautet: „Waldau. Katatonie. Streckt sich in die Höhe, um sich über Wasser zu halten“. Wie würde man eine solche Geste ohne die Bildlegende lesen? Ein Mann, der Faxen vor der Kamera macht? Gerade in ihrer Uneindeutigkeit, in ihrer vielschichtigen Verfasstheit zwischen Zurschaustellung, Momentaufnahme, (Selbst-)Inszenierung und Interaktion faszinieren diese Fotografien, deren Beredtheit weit über die intendierten Zwecke und Zuschreibungen hinausgeht. Wenn mit Verweis auf Susanne Regeners Studie Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts (2010) von „gestohlenen“ Bildern von Patientinnen und Patienten die Rede ist, so ist doch auch augenscheinlich, dass sich das fraglos vorhandene Machtgefälle auf den Fotos nicht immer eindeutig reproduziert findet. Es gibt Echos, fließende Übergänge, unerwartete Lücken. Beispielhaft dafür steht das Coverbild des Bandes: eine undatierte Aufnahme aus der kantonalen Irrenanstalt Waldau, auf der ein Patient in der offenen Tür einer sogenannten „Varekzelle“ lehnt (einer mit nichts als Seegras ausgestatteten Isolierzelle), neben ihm ein Wärter mit dem Schlüssel. Die Verhältnisse scheinen klar, doch die Blicke und Haltungen der beiden etwa gleichaltrigen Männer sprechen noch eine andere Sprache. Der eine nackt bis auf den Lendenschurz aus Seegras, auf dem Kopf eine selbstgebastelte Häuptlingskrone, die kräftigen Arme verschränkt, so stellt er sich selbstbewusst der Kamera. Der junge Wärter neben ihm, akkurat gekleidet und gekämmt, scheint sich, obwohl etwas im Vordergrund stehend, zurücknehmen zu wollen; halb fragend, halb abwartend blickt er in die Kamera. Die Aufnahme bringt ihre ungleichen Rollen und Lebensgeschichten auf eine fast intime Art und Weise zusammen, einen Moment lang sind sie – im Licht der Fotografie – ein Paar, dessen Geschichte nirgends geschrieben steht. 

Eine der fotografierenden Ärztinnen, die auch selbst immer wieder mit im Bild ist, war Marie von Ries-Imchanitzky. Die ihr zugeschriebenen Fotografien von Anstaltsinsassen und Mitarbeiter*innen der Waldau aus den 1920er Jahren sind sorgfältig inszeniert, manche der charaktervollen Einzelporträts lassen an August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ denken. Auf einer bühnenhaft arrangierten Aufnahme sind drei Patientinnen in einem Atelier zu sehen, umlagert von ihren naturgetreu verfertigten (Selbst-)Porträts. Indem die Frauen, offenkundig auf Anweisung der Fotografin, ihren Ausdruck exakt den Bildnissen angleichen, finden sich ihre schwermütigen Blicke wie in einem Spiegelkabinett vervielfacht; das beim Porträtieren erforderliche Stillhalten verdichtet sich zum Eindruck eines existenziellen Ruhiggestelltseins. Neben den Insassen der Anstalten nehmen die Fotograf*innen oft auch deren Räumlichkeiten und Architekturen mit in den Blick, es ergibt sich eine je eigene visuelle Choreografie in Bezug auf Innen- oder Außenräume, manchmal auch in spiegelbildlicher Umkehrung. So rufen die am Flussufer in Reih und Glied zum Sonnen ausgelegten Bettdecken der Anstalt Rheinau selbst unter freiem Himmel noch die Beengtheit und Anonymität der Krankensäle hinter den Mauern in Erinnerung. Auch wenn mit dem Foto wohl eher die hygienische Vertrauenswürdigkeit der Anstalt dokumentiert werden sollte.   

Wie eng die mediale (Selbst-)Darstellung der Psychiatrie mit den technischen Entwicklungen der Fotografie verzahnt ist, beleuchtet Sabine Münzenmaier in ihrem Beitrag. Die anfangs aufwendigen und umständlichen Aufnahmeverfahren mit Stativ beförderten auch ein visuell aufgeräumtes Bild der Anstalten, deren Patient*innen kamen vor allem in statischen, zum Fallbeispiel eingefrorenen Posen zur Ansicht. Handlichere Kameras und Gelatinetrockenplatten, wie sie ab den 1880er und in größerem Maße ab den 1890er Jahren zur Verfügung standen, ermöglichten erstmals ein weitgehend unbemerktes Fotografieren und Einblicke in Alltagssituationen der Klinik. Noch einmal dynamischer und informeller wurde die Bildsprache ab Mitte der 1920er Jahre mit der Einführung von lichtstarken Kleinbild- und Mittelformatkameras, es entstanden Aufnahmen in Bewegung, in Serien und aus ungewohnten Perspektiven. Hinter Mauern eröffnet einen Einblick in 50 Jahre Psychiatriegeschichte komprimiert in fotografischen Zeugnissen; wobei das Medium hier nicht nur als abbildendes, „sondern auch [als] ‚untergrabendes‘ oder zumindest hinterfragendes“ in Augenschein genommen wird.

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[1] Die Ausstellung wurde/wird an mehreren Orten gezeigt: vom 24. März bis 31. Juli 2022 im Museum der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, vom 2. Oktober 2022 bis 16. April 2023 im Kunstmuseum Thurgau und vom 26. Mai 2023 bis 30. April 2024 im Psychiatrie-Museum in Bern.

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