Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Große Fotominiaturen

Harry Walter: Bilder knistern. 24. Essays. Mit einem Nachwort von Christian Demand, Berlin: Schlaufen Verlag, 2022, 202 Seiten, 16,5 x 10,5 cm, Abb. in SW, kartoniert, 22,50 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 167, 2023

 

Manche Bücher betreten die Bühne der Öffentlichkeit buchstäblich durch den Seiteneingang. Und gelegentlich verdankt sich ihr Auftauchen noch dazu dem Zufall. Wäre ich nicht eines Tages im Kaffeehaus gesessen und hätte ich nicht, ein wenig gelangweilt und kurz vor dem Aufbrechen, noch rasch in eine Zeitung hineingeblättert, ich wäre vermutlich nie auf dieses Buch gestoßen. Im Feuilleton stolperte ich über ein paar wenige Zeilen – es war keine Rezension, kein Bericht, nur eine kleine Notiz zum Erscheinen eines Büchleins zur Fotografie. Vom Autor hatte ich bislang noch nie etwas gehört, den Verlag kannte ich ebenso wenig. Und dennoch wurde ich neugierig. Umschlag und Titel sprachen mich an, eine kleine Leseprobe im Netz nahm mich sogleich gefangen, sodass ich nicht zögerte, das Buch zu bestellen. Es kam, ohne Begleitbrief und Werbematerial in einem schlichten gefütterten Kuvert an.

Klein im Format, sorgfältig gestaltet, hält sich das Buch nicht lange mit Nebensächlichkeiten wie Einleitung oder Vorwort auf, sondern kommt, unter dem ersten Titel „Prosit“ gleich zur Sache. Links ist eine Gruppenszene zu sehen, auf der eine Anzahl von Frauen der Kamera zuprostet. Daneben beginnt der erste Essay. „Fotos“, heißt es zum Auftakt, „werden gemacht, um einen Augenblick für die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt ist jedoch keine genaue Adresse, und der fotografische Augenblick hat keine eindeutige Botschaft. Reißt der Erzählfaden ab, sagt also niemand mehr das ist der, die oder das, verlieren die meisten Fotos auf einen Schlag ihren Inhalt – oder aber sie entwickeln, nachdem der biografische Dampf abgelassen ist, aus meist unerfindlichen Gründen ein Eigenleben und füllen sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern und irgendwie von sich selbst zu handeln, also nicht mehr nur bloß von dem, was drauf ist, sondern immer auch von der Tatsache, dass sie Fotografien sind.“

Ein fulminanter Start, der nicht nur das Anliegen dieses Buches prägnant auf den Punkt bringt, nämlich, vom merkwürdigen Eigenleben der Fotografie jenseits ihrer biografischen Verankerung zu erzählen, sondern auch in knappen Worten eine kleine Phänomenologie des gebrauchten Bildes umreißt. In den insgesamt 24 Essays wird dieser Gedanke, dass Fotos ein zweites oder drittes Leben haben (können), wenn sie vergessen und abgelegt und dann, nach einiger Zeit, neu betrachtet werden, an zahlreichen Bildbeispielen durchexerziert. Die Essays sind Bildgeschichten im besten Sinne, sie nehmen ihren Ausgang oft von kleinen Details im Bild, von Irritationen und Seltsamkeiten, die oft erst sichtbar werden, wenn man ganz genau, nämlich neugierig, hinsieht. Zwischendurch aber verlässt der Autor das kleine Rechteck, das vor ihm liegt, und schwingt sich in atemberaubenden Textmanövern weit über das Sichtbare hinaus, taucht ein in biografische, literarische und philosophische Sphären, um dann zwischendurch wieder beim Gezeigten zu landen.

Man folgt Harry Walter auf seinen glänzend geschriebenen Exkursionen gerne, sie bilden erholsame Gegenstücke zum oft trockenen akademischen Diskurs. Seine Texte nehmen sich die Freiheit, Bild und Gedanken auf unkonventionelle Weise neu zu verlöten. Auf den ersten Blick sind manche der Fotografien, die die Gedanken des Autors in Schwung bringen, keineswegs ungewöhnlich, im Gegenteil: Sie sind banal und alltäglich. Aber gerade ihre Normalität ist es, die Risse bekommt, wenn sie aufmerksam betrachtet wird. Und diese kleinen oder größeren Risse, die sich auftun, wenn das biografische Sinnsystem ausgebleicht ist, sind die Einfallstore für die Gedanken und Überlegungen des Autors. In die Gegenwart und gelegentlich auch in die vorgestellte Zukunft führen manche der Reflexionen, nicht selten aber auch in die dunklen Seiten der (häufig verdrängten) der Kriegs- und Nachkriegszeit, die der 1953 in Stuttgart geborene Künstler, Kurator und Essayist ebenso in den eigenen Knochen spürt wie die Segnungen des Wirtschaftswunders, die auf vielfältige Weise in die Bildwelten des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Alltags hinübergeschwappt sind. Doch Gummibäume und saubere Tischtücher, Weihnachtsbäume und Kredenzen, Modelleisenbahnen und Blümchentapeten sind für Harry Walter kein Grund für überhebliches Naserümpfen, sondern für überaus ernsthafte Betrachtungen über das alltägliche Leben und die Rituale der fotografischen Erinnerung (einschließlich jener seiner Familie, der er einen Teil der wieder-gefundenen und wieder-betrachteten Fotografien verdankt). Er zieht aber auch Motive aus dem Fotostapel, die auf den ersten Blick rätselhaft anmuten, ein merkwürdiges Küchenstilleben, ein Hamster auf dem Küchentisch, eine leere Albumseite (aus einem NS-Kriegsalbum), ein seltsames Schaufenster. Er nähert sich diesen Szenen nicht, nicht um die darin verborgenen Rätsel endgültig zu entschlüsseln, sondern um zwischen dem Rätselhaften und dem Rationalen argumentative – und immer wieder auch spekulative – Fäden auszulegen. Apropos Fäden: Das Buch eröffnet eine Reihe im Schlaufen Verlag, die „Bildfäden“ heißt. „Das sind Essays, die von Bildern ausgehen (…). Jeder Text entwickelt einen Bildfaden, der eingewebt ist in die Wirklichkeiten, in denen wir leben, geht ihm nach und spinnt ihn weiter.“ Diesem Motto gemäß schlachtet der Autor die Bilder nicht aus, indem er sie zum untermauernden Rohmaterial seiner vorab feststehenden Theorien macht. Er ist dem bildlichen Material, das er aus Schachteln, Nachlässen, Flohmärkten und Online-Auktionen bezieht, vielmehr in einem produktiven Sinne verpflichtet, er greift es auf, spinnt Bilder und Geschichten weiter, folgt einem Faden, verbindet ihn mit anderen und arbeitet derart an einem erzählerischen Gewebe, in das Bilder und Texte gleichermaßen eingesponnen sind.

Wenn der Autor über Fotos oder Details derselben schreibt, tut er das nur zur Hälfte als Analytiker, mit der anderen Hälfte nähert er sich dem, was er sieht, auf literarisch-sinnliche Weise an. Er umkreist das Bild auf vorsichtige und zugleich überraschende Weise, er dreht und wendet es, um es dann wieder auf den Tisch der Betrachtung zurückzustellen. Das Umschlagbild, ein Ausschnitt aus einer Stereokarte aus der Zeit um 1900, wird, wie viele andere Fotos im Buch, in einer Art „dichten Beschreibung“ zum Sprechen gebracht, die es uns Leserinnen und Leser erlaubt, auf geradezu plastische in die Szene einzutauchen: „Während die linke Hand an der Grenze zum eigentlichen Bildraum  zu verharren scheint, hat sich die Rechte weit ins Bildjenseits vorgewagt und den normalerweise toten Raum zwischen dem Bild und seinen Betrachtern im Handstreich  in Besitz genommen.“ Die Texte und Gedanken, die aus solcherart unverbrauchtem Anschauen entstehen, sind frisch und unkonventionell. Man kann es getrost sagen: Diese funkelnden essayistischen Kleinode, die ursprünglich (2016 und 2017) in der Zeitschrift Merkur erschienen sind, haben lange über den Tag hinaus Bestand. Die Buchform, die sie zusammenhält, ermöglicht es, die Texte nicht als isolierte Miniaturen zu lesen, sondern als zusammenhängenden Bildfaden, mit Anfang und Ende und etlichen Knoten, die dem Lesen halt geben.

Kaum hatte ich die 24 Essays des Büchleins gelesen, kehrte ich noch einmal zum mir unbekannten Verlag zurück, um mehr über das publizistische Umfeld herauszufinden, in der diese Trouvaille erschien. Der Schlaufen Verlag, so fand ich heraus, ist erst 2022 in Berlin gegründet worden, von Gregor Schliep und Friedrich Haufe, die Teile ihres Nachnamens zu einem neuen Namensgespinst (Schlaufen Verlag) zusammengefügt haben, der sich sinnig mit den Bildfäden, die hier ihren Anfang nehmen, verbindet. Was 2021 als vielstimmiger Blog (https://schlaufen-verlag.de/blog) begann, trägt nun nach und nach greifbare, blätterbare Früchte. Die Reihe „Bildfäden“, die mit Harry Walters fotografischen Fundstücken begonnen hat, und mit Frank Witzels „Kunst als Indiz“ (2022) fortgesetzt wurde, kündigt für 2023 zwei Neuerscheinungen an, Essays von Wolfgang Kemp und Werner Busch. Wir dürfen gespannt sein.

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