Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)
Artist Meets Archive
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 167, 2023
Das Archiv, nicht zuletzt das fotografische, konstituiert eine Grauzone zwischen Erinnern und Vergessen; die künstlerische Intervention in dieses Archiv wiederum markiert vor allem jenen Prozess, in dem das auf lange Zeit gelagerte Material reaktiviert und die mit ihm verbundenen Erzählungen neu konfiguriert, anders akzentuiert, mit Gegenerzählungen oder Inkonsistenzen konfrontiert oder in ein anderes Bezugssystem verschoben werden. Seit den 2010er Jahren hat sich das Archiv als ein zentraler Bezugspunkt künstlerischer Praxis etabliert,[1] und von der Diversität dieser Praktiken zeugen in jüngster Zeit Arbeiten auf verschiedenen Biennalen und Festivals sowie das titelgebende Programm Artist Meets Archive,[2] dessen dritte Ausgabe im Mai 2023 im Rahmen der Photoszene Köln zu sehen sein wird und sich seit dem Frühjahr 2022 in Vorbereitung befindet.[3]
Artist Meets Archive: Im großen Spektrum der Gegenwartskunst werden die entsprechenden Interventionen zum Beispiel in Form einer umfassenden Materialsammlung zum Thema der politischen Repression sichtbar. (The Many Lives and Deaths of Louise Brunet; FR 2022, Lyon-Biennale 2022.) Oder als Recherche, die in institutionellen Archiven Kanadas Dokumente der polizeilichen Gewaltausübung auswertet und in eine forensische Videografie transformiert (Cold Cases, Susan Schuppli, CA 2021/22; Berlin Biennale 2022). Oder in Gestalt eines Kurzfilms, der sich als Reenactment einer filmischen Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1958 versteht und die kolonialistische Perspektive der Vorlage auf ethnologische Archivalien durch ein neues Voiceover konterkariert (Under the White Mask: The Film That Haesaerts Could Have Made, Matthias De Groof, BE 2021, Forum Expanded, Berlinale 2022.)
Betrachtet man die künstlerischen Interventionen in Foto-Archive vor dieser Kulisse, so fällt zuallererst auf, dass das Spektrum der Formen und Sujets kaum kleiner wird, wenn sich der Fokus dezidiert auf fotografische Bestände richtet. Davon zeugen sowohl die Positionen der letzten Ausgabe von Artist Meets Archive im Rahmen der Photoszene 2021 als auch die Ausstellungen der Reihe Fotografie neu ordnen am Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G) in Hamburg, die seit 2017 in regelmäßigen Abständen neue Perspektiven auf die fotografische Sammlung des Museums eröffnen. Zwischen Film, Video, Skulptur, Installation, ebenso wie zwischen genuin fotografischen Dispositiven wie Abzug, Diashow, Fotobuchmaterialisieren sich die künstlerischen Eingriffe in unterschiedlichster Gestalt. Und wenn die Themen, die dabei in den Blick rücken, kaum weniger divers sind als die Dispositive, so ist zugleich festzustellen, dass die Intervention in fotografische Archivbestände mit künstlerischen Recherchen in anderen Archivkontexten den Ansatz teilt, von den Beteiligten als eine politische Praxis verstanden zu werden.
Die Erwartungen an die Ergebnisse der künstlerischen Intervention sind nicht selten hoch. Auch das veranschaulicht das Programm von Artist Meets Archive 2021 sowie der zugehörige Katalog. So wird nicht allein die Erwartung formuliert, dass die künstlerische Aneignung „neue Fragen zum archivalischen Umgang mit dem Medium Fotografie“[4] konturieren kann, sondern auch, dass sie „die Zeigegesten von Historiker*innen und Archivar*innen [zu überschreiten]“[5] vermöge. In einem anderen Beitrag heißt es: „Oft wird auch das Archiv selbst zum Gegenstand der Reflexion“[6], was bedeutet, dass neben den fotografischen Bildern, ihrer Provenienz, ihrer Produktion und ihrer Verwendung auch diejenigen Handlungen adressiert werden, die mit der Archivierung verbunden sind. Zur Praxis und „Politik des Archivs“[7] gehören neben der Beauftragung, der Übernahme oder dem Ankauf auch die Vorgänge der Selektierung und Sortierung, der Verschlagwortung und Klassifizierung, schließlich: der Verwahrung, die so weit gehen kann, dass ein Archiv seine Bestände für die Öffentlichkeit unzugänglich macht. (Anteilig ist die Politik des Archivs immer auch eine des Entzugs gewesen[8].)
Wie emphatisch auch immer der Eingriff in das fotografische Archiv oder die fotografische Sammlung diskursiviert wird: In jedem Fall handelt es sich um einen Vorgang der Aktivierung. Was im Archiv abgelegt wurde, liegt dort auf unbestimmte Zeit und mit ungewisser Perspektive, da die Arbeit der entsprechenden Institutionen primär in der Bereithaltung besteht und erst sekundär in der Bereitstellung, die nur auf Anfrage, im Zuge einer Recherche oder eines Projekts erfolgt. (Im Unterschied zu den im Rahmen des Kölner Festivals befragten Archiven wie dem Deutschen Tanzarchiv, dem Rheinischen Bildarchiv oder dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv sind die Museumssammlungen nicht nur auf Verwahren, sondern auch auf das Zeigen angelegt. Dennoch sind die Schauflächen immer kleiner als die Bestände und so bleibt ein Großteil der Werke im Depot dem Blick entzogen.)
Unter den Interventionen, die in den Beiträgen des vorliegenden Hefts analysiert werden, finden sich zahlreiche, die nach diesem Prinzip funktionieren. Ulrike Ottingers Aneignung von Archivalien aus privaten und institutionellen Beständen zum Zweck der Konstruktion einer multimedialen Mythologie in Paris Calligrammes (Färber/Karataş), die Recherche und Reflexion nationalsozialistischer Verflechtungen anhand des Archivs einer künstlerischen Vereinigung in der Arbeit Spuken im Archiv der Künstlerinnen Nina Höchtl und Julia Wieger (Färber/Karataş), Arvid Messmers Revision und Rekonfiguration polizeilicher Foto-Archive zur Geschichte der RAF, aus denen Pressevertreter stets nur dieselben, medial ikonisierten Bilddokumente ausgewählt haben (Holbein), sowie die veränderte Kontextualisierung eines scheinbar unschuldigen, digital publizierten Archivs in Radu Judes Film The Dead Nation (Praetorius) sind Projekte, die primär darauf ausgerichtet sind, den Blick auf Archivbestände zu verändern. Dies geschieht operativ durch Recherche, Sichtung, Neuordnung, aber auch durch die Einschaltung anderer Medien (Film, Video, Texte, Tondokumente, Websites etc.), die sowohl als ‚Kontrastmittel‘ verwendet werden als auch dazu, das fotografische Material unter anderen Bedingungen in Erscheinung treten zu lassen, indem es videografisch erfasst, performativ bearbeitet und neben weitere Dokumente gesetzt wird (Färber/Karataş) – oder mit einer kontrastierenden Tonspur versehen, die den Blick auf ein Konvolut fotografischer Platten nachhaltig irritiert (Praetorius).
Neben den Projekten, in denen die Intervention ins fotografische Archiv als Korrektur, als Revision oder als Kontextualisierung von hegemonialen Überlieferungen begriffen wird, existieren jene, die das Prinzip der alternativen Erzählung radikaler fassen und das verfügbare Material verwenden, um (Bild-)Dokumente in eine Beziehung zu Werken zu setzen, die nur im Modus der Behauptung existieren (Streitberger). Die Möglichkeitsformdes Archivs, die Fiktion eines dokumentarischen Zusammenhangs zwischen disparaten Fotoporträts, Setfotos und Film Stills ist der Inhalt des Films The Makes von Eric Baudelaire, der von der denkbaren Existenz eines filmischen Œuvres und der entsprechenden archivalischen Bestände handelt. Dass das Archiv weder notwendig repräsentational noch notwendig normativ organisiert sein muss (von diesen beiden Kategorien handelt ein viel zitierter Text, den Allan Sekula über das fotografische Archiv verfasst hat[9]), sondern im Sinne eines dritten, utopischen Prinzips auch als Phantasma begriffen werden könne, ist die Idee, die den Film The Makes grundiert. Dem Unbehagen des Archivs[10] setzt die Möglichkeitsform eine ironische Perspektive entgegen, in der Macht und Materialität archivalischer Ordnungen ein Stück weit ausgehebelt werden.
Macht und Materialität des Archivs konstituieren ein eigenes Sujet der Bearbeitung, wie an denjenigen Projekten und Beiträgen erkennbar wird, die sich weniger mit archivalischen Beständen als mit der Frage befassen, wie Archive konstituiert sind und welchen Umständen sie ihre Entstehung und ihre Bestände verdanken. In Yasmine Eid-Sabbaghs Beitrag zu Artist Meets Archive (Holbein) figuriert das fotografische Archiv als ein Ensemble von Transportkisten, die mit geschlossenen Archivboxen gefüllt wurden, die zum einen die Notwendigkeit markieren, die Bildbestände vor Licht zu schützen, zum anderen jedoch die Tatsache illustrieren, dass die Entstehung der fotografischen Bilder unter den Bedingungen kolonialer Macht- und Gewaltausübung oft genug im Dunkeln belassen wird. Eid-Sabbagh befragt die Provenienz der in einem Außendepot gelagerten fotografischen Bestände, ohne die Boxen zu öffnen und damit eine Geste des Zugriffs auf die fotografisch erfassten Figuren zu wiederholen. Der Massivität der archivalischen Installation setzt ihre Intervention die Flüchtigkeit der Kommentare auf einer Tonspur entgegen und problematisiert vor allem die Implikationen eines erneuten Zugriffs auf das fotografische Material.
Sammlungsbestände sowie deren Ordnungssysteme stehen im Fokus der Reihe Fotografie neu ordnen im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, die von ihrer Initiatorin als ein Prozess der „ReVision“[11] und Reaktivierung der fotografischen Bestände und zugleich als ein Unternehmen der kritischen Perspektivierung verstanden wird, um die Digitalisierung der Sammlung zu begleiten (Ruelfs). Die kulturwissenschaftliche Relevanz der vielfältigen Bestände – die Sammlung des MK&G umfasst nicht weniger als 70.000 fotografische Objekte –, die ethnologischen (Katja Stuke & Oliver Sieber), ökologischen (Susanne Kriemann), institutionellen (Sarah Kreiseler) oder normativen und ästhetischen (Peter Piller) Setzungen, die in einer je spezifischen Auswahl von Fotos kenntlich werden können, sind das Thema dieser Ausstellungen. Die aktuelle Digitalisierung fotografischer Archive erzeugt eine neue Sichtbarkeit des Materials, so die Prämisse von Fotografie neu ordnen; zugleich geht es wesentlich darum, diese Sichtbarkeit als eine Gelegenheit wahrzunehmen, um mit dem Material die Ordnungen und Strukturen, die Ideologien und Interessen, die Verfahren und die Logistik sichtbar zu machen, denen es eine durch das Archiv gesicherte Existenz verdankt.
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[1] Zwei Publikationen, die bereits vor 2010 eine Auseinandersetzung mit Bezugnahmen auf das Archiv in der neueren künstlerischen Praxis dokumentieren: Okwui Enwezor (Hg.): Archive Fever. Uses of the Document in Contemporary Art, Göttingen, New York: Steidl, ICP 2008; Esther Ruelfs, Tobias Berger (Hg.): Images Recalled, Heidelberg: Kehrer Verlag 2009. Alexa Färber und Işıl Karataş verweisen in ihrem Beitrag in diesem Heft zudem auf ein entsprechendes Statement von Rosalind Krauss in einem Text, der sogar von 1999 datiert (vgl. Beitrag Färber, Işıl Karataş, Anm. 3)
[2] Herzlichen Dank an Heide Häusler und Inga Schneider für die Genehmigung, den Titel „Artist Meets Archive“ auch für diese Ausgabe der Fotogeschichte zu verwenden.
[3] Informationen zum Programm „Artist Meets Archive“ und zu seiner Agenda sowie eine kurze Vorstellung der Künstlerinnen und Künstler, deren Interventionen im Rahmen des Festivals Photoszene Köln im Mai 2023 präsentiert werden sollen, finden sich unter: https://www.profifoto.de/szene/events/2022/03/14/artist-meets-archive-3-2/ (letzter Zugriff: 7.11.2022).
[4] Clara Bolin: „Fotografische Archive zeigen. Fünf Positionen von Artist Meets Archive“, in: Inga Schneider (Hg.): Artist Meets Archive. Vom Zeigen und Nicht-Zeigen, Köln: Internationale Photoszene, 2021, S. 4–7, S. 7.
[5] Ebenda, S. 4.
[6] Inga Schneider: „Vorwort“. In: Dies. (Hg.): Artist Meets Archive, (Anm. 4), S. 2.
[7] Uwe Wirth: „Archiv“, in: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Wilhelm Fink 2005, S. 17–27, hier S. 17.
[8] Vgl. Wirth, „Archiv“, (Anm. 7), S. 18.
[9] Allan Sekula: Der Körper und das Archiv, in Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 269–334.
[10] Nirgendwo ist das Unbehagen (auch: das Übel, die Krankheit) des Archivs umfassender diskursiviert worden als in Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben: Eine Freudsche Impression (im Original: Le Mal d’Archive), Berlin: Brinkmann und Bose 1997.
[11] „ReVision“ ist der programmatische Titel des Katalogs, dessen Publikation die Sichtung und Aufarbeitung der Sammlungsbestände begleitet hat. Esther Ruelfs, Sabine Schulz (Hg.): ReVision. Fotografie im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Göttingen: Steidl 2017.
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