Paul Mellenthin
Zur Gegenwart der Bilder
Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an, Berlin: Suhrkamp, 2022, 254 Seiten, 14 x 22 cm, zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, gebunden mit Schutzumschlag, 25 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 166, 2022
Seit 2015 gibt es im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Kolumne das „Bild der Woche“. Der Inhalt der zwar nicht wöchentlich, aber doch fast monatlich erscheinenden Kolumne lässt sich leicht zusammenfassen. Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja beschreibt eine Fotografie, auf die sich im Alltag ihr Augenmerk gelegt hat. Ihr Interesse gilt der Gegenwart der Bilder. Nun liegt eine Auswahl von Beiträgen der letzten sieben Jahre ediert in Buchform vor. Das Foto schaute mich an nennt die Autorin diese Sammlung. Aber die Anthologie entwickelt einen unerwarteten Effekt. Die Bildbeschreibungen, die in diesem Umfang zurück zur Allgegenwart der Bilder führen, stellen nicht nur ein kurzweiliges Lesevergnügen dar. Sie lassen auch eine Theorie und Geschichte erkennbar werden, die Petrowskaja in den rund 60 Textminiaturen entwickelt.
Wenige Monate nach Erscheinen des Bands sucht man in wissenschaftlichen Fachbibliotheken noch vergeblich nach einem Exemplar. Das mag mit der Affiliation der Autorin zusammenhängen, die als Trägerin des renommierten Bachmannpreises eher der Literatur und damit dem Sammlungsbereich von Stadtbibliotheken zugerechnet wird. Dabei ist der Wert des Bands für die Fototheorie und -geschichte groß. So findet man Antworten auf die Frage, welchen Eindruck die ungeordnete, ungebändigte Bilderwelt unserer Gegenwart im Nachdenken über Fotografie hinterlässt. Die Texte handeln von Begegnungen im Familienarchiv, im Internet, auf dem Flohmarkt, in Zeitungen, Büchern, Galerien, Museen und von Begegnungen in den Erinnerungen. Zu den vielen Einsichten zählt, dass die Gegenwart nicht nur von Bildern des aktuellen Zeitgeschehens durchtränkt ist, sondern dass historische Bilder eine mindestens ebenso maßgebliche Rolle spielen.
Bemerkenswert ist der Kunstgriff, die Fotografien von Vergangenem nicht als Bilder der Vergangenheit vorzustellen, sondern sie als Bilder der Gegenwart lesbar zu machen. Damit prägt Petrowskaja einen eigenen Stil, den man akademischer auch als Methode bezeichnen könnte. Im Grunde lässt sich an jedem der Texte nachprüfen, wie gespeicherte, archivierte oder wiedergefundene Bilder zu einem handlungsmächtigen Körper werden, sobald wir innehalten und die „Inflation der Bilder“, wie es im Nachwort heißt, für einen Augenblick anhalten. So gesehen ist die Kolumne der Versuch, die vielbeschworenen Bilderfluten der Gegenwart zu bändigen, sie in neue Bahnen zu lenken. Um uns selbst wieder, wie es Jacques Rancière gefordert hat, in der Herstellung von Sichtbarkeit zu situieren. Um das Leben, das von Fotografien bewegt wird, zu organisieren und zu bewältigen. Aber auch um Distanz zu gewinnen, Distanz zum Denken und zum Handeln.
Die Wiederkehr der Vergangenheit bietet weniger einen Zugang zur Geschichte als zur Gegenwart und gar zur potentiellen Zukunft. In ihrem Buch „Becoming Palestine“ (2021) beschreibt Gil Hochberg diese Veränderung des zeitlichen Vektors, um ein poetisches Wissen des Widerstands herzuleiten. Das Umdrehen der Vorzeichen von rück- zu vorwärts sei eine künstlerische Strategie im Umgang mit Archiven: „Art, in its artistic engagement with the figure of the archive as a structure of thought and a mode of knowledge production, is particularly productive in helping us (1) break apart the teleological view of history and open up unpredicted configurations of the future; and (2) expand our experience of the present to remind us that there is always more than one present.” Masternarrative werden erfolgreich gebrochen, wenn man das Archiv als Ort zur Imagination aktiviert.
Nach Hochberg zählen zur „archivalischen Imagination“ die künstlerischen Strategien des Spekulierens und Fabulierens. Diese sind auch im vorliegenden Band von besonderer Relevanz. Wie die Einträge eines Tagebuchs hat Katja Petrowskaja die Texte mit dem Datum ihrer Niederschrift versehen. An das Tagebuchschreiben erinnert auch die teils intime Sprache. „Das Foto schaute mich an. Die Nähe fesselte mich, erschreckte mich sogar. Ich wusste nicht einmal, wo Krasnoarmijsk sich befindet, doch dieser Mann stand vor mir, viel zu nah, und blies mir seinen Rauch ins Gesicht,“ schreibt sie am 14. Juni 2015, ganz zu Beginn der Sammlung. Nichts ließ vermuten, dass dieser erste Satz titelgebend für eine jahrelange Suche werden würde. „Der Bergmann ist schwarz, und seine Augen sind weiß, aber er ist nicht blind, ich bin es, mit meinem Unwissen, mit meiner Ignoranz, gegenüber dieser Region, gegenüber diesen Menschen. Die Erkenntnis war schwarzweiß, aber das Foto war farbig, daraus blickte meine eigene Blindheit, meine eigene Ohnmacht entgegen.“
Das ist die Stimme einer Autorin, die sich bewusst allen Blick preisgibt. Es ist ihre besondere Fähigkeit, nicht wegzusehen, den Anklagen der Vergangenheit standzuhalten, die Zeugnisse zuzulassen. Denn viele der Fotografien, von denen sich Petrowskaja angeblickt fühlt, entlarven sie als naiv, unwissend und ignorant, als „blind“. Doch woher stammt ihre Stimme und woher das Wissen, das sie freilegt? Weder lassen sich die Bildbetrachtungen kunsthistorisch einordnen, wären als eine „Schule des Sehens“ missverstanden, noch weisen sie philosophisch in eine Richtung, zum Beispiel der negativen Erkenntnis, wie es das Zitat vermuten lässt. Stattdessen scheint das Interesse an der Gegenwart der Bilder vom politischen Widerstand in der Ukraine inspiriert zu sein. Die Texte entstanden zwischen der Annexion der Krim und dem Beginn des russischen Angriffskriegs. Viele erzählen von Kriegen, Zerstörung und Ruinen, buchstäblichen und metaphorischen. Es gibt auch Texte, in denen Katja Petrowskaja über ihre eigene Vergangenheit, über ihre Familie und über ihr Aufwachsen in Kiew spricht, wie sie es bereits im Roman Vielleicht Esther (2014) tat. Daraus resultiert eine Gegen-Erinnerung: eine Erinnerung, die sich gegen das Bekannte stellt, gegen die Wiederholung von Fakten, insbesondere gegen die Bilder des Grauens und der Gewalt.
Das Buchformat hat gegenüber der Kolumne den großen Vor- und Nachteil, dass die Beschreibungen nicht mehr unmittelbar neben dem Weltgeschehen stehen. Hermetisch erzählen sie eine neue Geschichte. Das macht Gewalt noch unbegreifbarer. Man lese etwa das Porträt von Valentina aus Tiflis, den Text „Eremitage“ vom 17. Januar 2021: „Vielleicht gibt es so etwas wie eine Aktualität der Gefühle, genauso wie es aktuelle Nachrichten gibt.“ Ist es richtig, den Band im Spiegel eines einzigen Ereignisses der Weltgeschichte zu lesen? Vielleicht ja, weil der Krieg aktuell zurecht alle Aufmerksamkeit auf sich bannt; vielleicht nein, da so die anderen Stimmen, die aus den Bildern zu sprechen beginnen, Gefahr laufen, überhört zu werden. Neben vielen anonymen Fotograf:innen stehen die Namen von unter anderem Francesca Woodman, Michael Wolf, Vanessa Winship, Anaïs Tondeur, Tomasz Tomaszewski, Mila Teshaieva, Loredana Nemes, Steffen Meyn, Helmar Lerski, Josef Koudelka, Thomas Heinser, Natela Grigalashvili, Christine de Grancy, Volker Gerling, Leonard Freeds und Robert Capa. Die Texte sind hervorragend recherchiert und machen ein Verstummen und Vergessenen vernehmbar, das größer ist, als wir es zu akzeptieren bereit sind. Wir hören die utopischen Stimmen von den Rändern der Gesellschaft, und wir hören ihnen zu.
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