Walter Delabar
A Small Hole At The Top Of The Sky
Svetlana Alpers macht Walker Evans zum Künstler
Svetlana Alpers: Walker Evans. America. Leben und Kunst. Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Wolfgang Kemp. Mit einer Folge von 117 Walker Evans Fotografien. München: Schirmer/Mosel, 2021, 416 Seiten, 15,6 x 23,5 cm, 117 Duotone-Tafeln, 37 Abb., gebunden, 48 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 164, 2022
Der amerikanische Fotograf Walker Evans (1903–1975) ist mit seinem Werk vor allem der 1930er Jahre im kollektiven Gedächtnis nicht nur der USA verankert. Insbesondere die Fotografien, die er dem 1941 erschienenen, gemeinsam mit James Agee verfassten Band Let Us Now Praise Famous Men (Preisen will ich die großen Männer, zuletzt 2013 bei „Die andere Bibliothek“ auf Deutsch erschienen) über drei Farmerfamilien in den USA beigesteuert hat, haben ihm bis heute einen hohen Bekanntheitsgrad gesichert. Sie bestimmen weitgehend, wie und was wir an den USA wahrnehmen. Das wundert auch bei einem erneuten Blick auf diese Aufnahmen nicht, zeugen die Fotografien doch von einem scharfen, ungeschönten Blick auf die von Evans Porträtierten, die eben nicht aus den amerikanischen Ober- oder Mittelschichten stammten. Sie bildeten stattdessen den Bodensatz einer Gesellschaft, die sich den sozialen Aufstieg als hervorragendste Eigenschaft zuschrieb und dies als Legitimation dafür heranzog, ansonsten mit dem Menschenmaterial, über das sie verfügte, geradezu hemmungslos umzugehen.
Der Blick auf Evansʼ Werk ist geprägt durch das Corpus aus den 1930er Jahren, ganz unabhängig, ob auf Evansʼ Porträts, seine Objektfotografien oder insbesondere seine Architekturfotos verwiesen wird, mit denen er eine ganz eigene, bis heute nachwirkende Ästhetik entwickelte. Im Vergleich dazu ist sein späteres Werk, insbesondere während der Jahre, in denen er festangestellt für die Zeitschrift Fortune tätig war, deutlich weniger bekannt, auch wenn seine Fotoreportagen ihn als aggressiven Beobachter seiner Zeit zeigen. Nicht anders seine U-Bahn-Fotografien, die schon Ende der 1930er Jahren entstanden, aber erst sehr viel später publiziert wurden.
Allerdings hatten diese fotografischen Beobachtungen stets einen großen inszenierten Anteil, wie nicht zuletzt die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers zeigt, die sich in einer soeben auf Deutsch erschienenen Studie intensiv mit dem Leben und Werk Evansʼ beschäftigt hat. Alpers betont aus gutem Grund, dass Evans neben dem Aufnahmemoment das „Edieren“ der Fotografie, also das Zusammenspiel von Entwicklung des Films, Durchsicht der Kontaktabzüge, Auswahl aus dem Material, Bestimmung des Ausschnitts und Qualität des Abzugs (Papierqualität, Helligkeit, Kontrast, Körnung etc.) hervorgehoben habe. Die Fotografie ist mithin mit dem Moment, in dem die Aufnahme gemacht wird, längst nicht fertig oder abgeschlossen. Der nachfolgende Prozess, der wohl für Fotografen selbstverständlicher Teil ihrer Tätigkeit ist (auch wenn sie dabei nicht immer selbst Hand anlegen), lässt eine ganze Reihe von Eingriffen und Veränderungen zu, die der dokumentarischen Konvention und der Idee vom kontingenten Augenblick unversöhnlich gegenüberstehen. Nimmt man den Prozess vom Abzug bis zur medialen Präsentation hinzu, öffnen sich weite Spielräume für die inszenatorischen Möglichkeiten von Fotografie, die eben auch Evans zu nutzen wusste.
Unabhängig von der Arbeit, die zwischen Aufnahme und Publikation (auf welche Weise auch immer) der Fotografie steht, bleibt die Frage nach dem Kunstcharakter der Arbeiten Evansʼ, die mit dem veristisch Dokumentarischen konkurriert, immer noch halbwegs unbeantwortet. Das hat nicht nur mit Evans zu tun: Die Emanzipation der Fotografie zur Kunst ist, wie es aussieht, bis heute nicht abgeschlossen. Das liegt, kann man annehmen, nicht zuletzt daran, dass sich die Fotografie als Genre nie ganz von der dokumentarischen, wenn nicht realistischen Selbstvergewisserung hat lösen können. Immer noch steht bei Fotografien die Behauptung Spalier, dass das, was mit ihr aufgenommen worden ist, zumindest im Aufnahmemoment tatsächlich vorhanden gewesen ist. Aber wenn eine Fotografie Realität abbildet, dann muss sie nicht notwendig Kunst sein, dann geht sie vielleicht sogar über die Kunst hinaus und wird zum Reflex von Wirklichkeit. Es ist so, wie sie es zeigt. Was, offen gesagt, ja auch entlastenden Charakter hat. Jenes ikonografische Foto der Farmersfrau Allie Mae Bourroughs aus Let Us Now Praise Famous Men zeigt ‚wirklich‘ eine Frau vor der Bretterwand ihres Hauses im Jahr 1936. Und was mehr?
So weit will Svetlana Alpers allerdings nicht gehen, ganz im Gegenteil. Gerade der Umstand, dass eine gediegene Kunsthistorikerin – eine der prominentesten Vertreterinnen ihres Faches in den USA, wie Wolfgang Kemp im Nachwort betont – sich in dieser Studie dem Fotografen Walker Evans widmet, bestätigt unter der Hand, dass die Fotografie unwiderruflich in der Kunst angekommen ist. Sie bleibt ein spätberufenes Kunstgenre, und Alpers wird nicht müde zu betonen, dass zu den Zeiten, in denen Evans mit seinen fotografischen Arbeiten begann, die Fotografie noch keinen Platz im akademischen Raum beanspruchen konnte (wobei sie unterschlägt, dass sie als Ausbildungsberuf einen durchaus respektablen handwerklichen Ruf erworben hatte). Das spielt freilich für das Argument keine Rolle, weil Evans – analog zu den zahlreichen fotografischen Dilettanten, die als große Fotografen endeten – ohne weitere Ausbildung zur Fotografie kam, lediglich legitimiert durch den Kunstanspruch, den er schon durch seine literarischen Bemühungen demonstriert hatte. Evans konnte und sollte Fotograf werden, heißt dies übersetzt, weil er ein Künstler auf der Suche nach seinem angemessenen Medium war. Und das fand er um 1930 in der Fotografie, die ihn binnen Kurzem zu einem hohen Bekanntheitsgrad und zu beachtlichen musealer Anerkennung führte. Bereits 1929 stellte Evans, als er als Fotograf kaum begonnen hatte, im Museum of Modern Art aus. Ein kurzer Weg zum Ruhm und zur Kunst. Der nun mit der Studie Alpersʼ seinen letzten Prüfstempel erhält, zumindest symbolisch, auch wenn dieser letzte Akt akademischer Anerkennung in allem doch etwas anachronistisch wirkt. Aber vielleicht dient er auch nur dem Ausbruch aus dem akademischen inner circle von Fotografie.
Alpers baut ihre Studie über sieben, im Wesentlichen werkbiografisch orientierte Abschnitte auf, von den Anfängen, die von seinem einjährigen Aufenthalt in Frankreich motiviert sind, über seine Kuba-, USA- und U-Bahn-Fotografien (die jeweils als eigene Werkgruppen behandelt werden) sowie die zwanzig Jahre bei der US-amerikanischen Zeitschrift Fortune bis zu seinem Rückzug in den 1970er Jahren. Das Frankreich-Kapitel widmet Alpers dem Versuch, Evansʼ fotografischen Ansatz auf die vor allem französische Anreger wie Flaubert, Baudelaire und – fotohistorisch einschlägig – Eugene Atget zurückzuführen. Das geht auf den Aufenthalt Evansʼ in Frankreich im Jahre 1926/27 zurück, in dem er sich, abseits der amerikanischen Gemeinde, intensiv literaturhistorischen Studien widmete und sich die französische Sprache aneignete. Erst im anschließenden Abschnitt versucht Alpers Evansʼ Entwicklung hin zur Fotografie nachzuvollziehen, die ja erst nach seiner Rückkehr in die USA begann. Erst jetzt kam er in Kontakt mit dem Werk Atgets, der später als einer seiner Gewährsleute in der Fotografie gelten sollte.
Dabei stellt Alpers vier Aspekte heraus: 1. Die fotografische Weltanschauung sei nicht von der (malerischen) Tradition bestimmt, sondern resultiere aus einer „frischen Wahrnehmung“. 2. Hinzu kämen die Gründe dafür, dass Evans die Fotografie als Genre aufnimmt und sich von der Literatur (die hier noch blumig mit der „Feder“ assoziiert wird) verabschiedet habe. 3. Sie fokussiert auf das „Ursprüngliche der amerikanischen Situation“ und auf die Gründe, „warum die Photographie ein amerikanisches Medium“ geworden sei. 4. Die Studie spreche nicht zuletzt von ihr selbst und von ihrem Wechsel von der europäischen Historienmalerei zu einem amerikanischen Fotografen.
Allein an dieser Zusammenstellung wird der Ansatz Alpersʼ deutlich, werden aber auch die Punkte erkennbar, die Kritik provozieren: Zwar verweist Alpers auf die Wahrnehmung Evansʼ, und nicht zuletzt an seiner Partizipation am Neuen Sehen, mithin dem neuen fotografischen Ansatz der Avantgarden Ende der 1920er Jahre. Sie weiß auch davon, dass zahlreiche Fotografen – anders als Evans – vor ihrer fotografischen Karriere als Maler aktiv waren. Dennoch ignoriert sie die Linien, die die Fotografie bis in die Gegenwart mit der Malerei verbinden. Das suspendiert ja eben nicht den Neuansatz um 1930, aber der hat mehr mit einem durchgängigen Traditionsbruch in Wahrnehmung und Darstellung (übrigens auch in der Malerei) zu tun als mit der Fotografie als singulärem Phänomen. Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit Evansʼ von der Literatur zwar immer wieder hervorgehoben wird. Im Wesentlichen reduziert sich das bei Alpers jedoch auf eine grandiose Metapher, nicht zuletzt, weil ihr narratologische Verfahren in Literatur und vor allem in der Fotografie fremd zu sein scheinen, die eine intensivere Auseinandersetzung mit dem ermöglicht hätten, was Evansʼ Fotografie mit seinen frühen literarischen Bemühungen verbindet.
Auch die bemühte „Ursprünglichkeit der amerikanischen Situation“ weckt eher Misstrauen als Vertrauen in Alpersʼ Ansatz, hat sich Evans doch im Wesentlichen mit den Lebensbedingungen in der fortgeschrittensten Industriegesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt, insbesondere auch mit deren Schattenseiten, der Ausbeutung, der Armut und der strukturellen Gewalt, die ihr inhärent sind. Dass die Fotografie im Übrigen ein „amerikanisches Medium“ geworden sei, kann angesichts der entwickelten Mediengesellschaft der USA kaum erstaunen. Dort finden – wie in Europa – Fotografien ihren prominenten Ort. Allerdings verweist Alpers gerade die Medien zugunsten der Kunst auf den Rang, was ihr den Blick auf wesentliche Aspekte der Fotografie versperrt. Was wohl – mit Verweis auf ihren letzten Aspekt – darauf zurückzuführen ist, dass Alpers im Wesentlichen eine konventionelle, auf Einzelwerke und Künstler fokussierte Kunsthistorikerin ist, die sich auf die Fotografie geworfen hat. Das Verfahren Alpersʼ, mit dem sie vorsichtig abwägend, ja tastend ihre Argumentation zu entwickeln versucht, macht auf den ersten Blick einen ungemein sympathischen Eindruck. Kein Theoriedruck, keine sich überbietenden Argumentationsgebäude – sie wirkt stilistisch und methodisch unerhört geerdet: Hier bin ich, und ich schaue mit Walker Evans an. Alpers nimmt ihre Leser mit und lässt sie an ihren Überlegungen und Reflexionen unmittelbar teilhaben, wie es auf den ersten Blick scheint.
Auf den zweiten Blick jedoch verschließt sie sich im selben Moment der Lektüre, ist ihr Verfahren doch zugleich höchst subjektiv, intuitiv, assoziativ, anachronistisch und leider eben auch im großen Maße beliebig. Ihre Vorgabe, sie sei vor allem an einer produktionsästhetischen Perspektive interessiert, bedingt den intensiven Fokus auf die Reflexionen und Selbstaussagen Evansʼ, soweit sie verfügbar sind, wie sie ja insgesamt mehr an der Person als am Werk interessiert zu sein scheint. Allerdings macht sie keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen zeitgenössischen und späteren Quellen. Zugleich etabliert sie Evans als entscheidenden heuristischen Zeugen, ohne nur nachvollziehbar Interessenlagen zu reflektieren, die seine späteren Äußerungen zum eigenen Leben und Werk motivieren mögen. Dass gerade im Alter die Neigung steigt, für das Lebenswerk angemessene Einschätzungen zu platzieren, während in frühen Lebens- und Arbeitsphasen andere Interessen wie Konkurrenz, Erfolg oder die Erschließung von Revenuen stärker sein können, erarbeitet Alpers sich eben nicht. Und dabei scheint es sich bei Evans noch nicht einmal um einen so unzuverlässigen und wankelmütigen Gewährsmann wie Thomas Mann zu handeln, dessen Selbstaussagen sich teilweise binnen kürzester Zeit widersprochen haben und die zur Auslegung des Mann’schen Werks kaum seriös hinzugezogen werden können.
Hinzu kommt, dass ihre Neigung, Assoziationen als offensichtliche Homologien vorzutragen, ihrer Argumentation einen situativen, teils apodiktischen Ton geben. Das lässt sich leider auch in ihren Einschätzungen beobachten, die zwischen den Kapiteln deutlich schwanken können. Im einen wird Evans als stark politisierter, sozial engagierter und mit den sozial unterprivilegierten Schichten sympathisierender Fotograf geschildert. Alpers verweist auf die Abneigung Evansʼ gegenüber der wirtschaftlichen Elite und dem Kapital (auch wenn er Aufträge von begüterten Gönnern annimmt, was man ihm nicht vorwerfen will). Das erste Foto im gemeinsamen Werk Agees und Evansʼ zeigt entsprechend einen Landbesitzer und Verpächter, die nachfolgenden seine verarmten Pächter und deren heruntergekommenen Behausungen. Zugleich betont Alpers an anderer Stelle die große politische Zurückhaltung, die Evans zeitlebens an den Tag gelegt habe. Beide, sich widersprechende Aussagen stehen unverbunden, aber auch unabgegrenzt voneinander jeweils in argumentativen Zusammenhängen, in denen sie plausibel sein sollen. Dass der Widerspruch – einmal wahrgenommen – irritierend ist, stört Alpers nicht, was der Bedeutung dieser Arbeit schadet. Warum? Weil sich der Verdacht einstellt, dass sich Leser auf die Schlüsse, die Alpers zieht, nicht verlassen können.
Eine saubere Methodik, wenn hier kurz innegehalten werden darf, dient der Teilbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Belastbarkeit von Argumentationen, was gerade in den Geistes- und Kulturwissenschaften, die wesentlich diskursiv vorgehen, von Relevanz ist. Ein Vorgehen hingegen, das grundlegend subjektiv, apodiktisch, sprunghaft und assoziativ vorgeht, untergräbt die Diskursivität von geisteswissenschaftlichen Arbeiten, was eben auch das Problem von Alpersʼ Studie ist. Das lässt sich an einem Beispiel aus dem U-Bahn-Kapitel zeigen, in dem sie für die Interpretation von Evans (wohl gemerkt, nicht seiner Fotografien) einen Text der amerikanischen Lyrikerin Elizabeth Bishop aus dem Jahr 1935 (nach Angaben von Alpers, gedruckt wurde das Gedicht anscheinend erst 1946 im Band North & South) mit dem Titel The Man-Moth heranzieht. Folgt man der Beschreibung des Textes bei Alpers, dann hat der Man-Moth, im urbanen Untergrund lebend, „ein helles Loch im Himmel für den Mond gehalten“, was im englischen Text, soweit er im Netz verfügbar ist, geradewegs umgekehrt beschrieben wird: „He thinks the moon is a small hole at the top of the sky, / proving the sky quite useless for protection.” Den Mond am Himmel für ein Loch zu halten, ist für einen Untergrundbewohner eine durchaus plausiblere Annahme, als ein Loch in der Decke für den Mond zu halten.
Da sich allerdings weder das eine noch das andere bestätigen lässt, kehrt der Mann zurück unter die Oberfläche, was Alpers zu der Conclusio führt: „Große Erwartungen stürzen ab in die Tiefe, welche die Dichterin mit der Untergrundbahn identifiziert.“ Nun lässt sich mit gutem Grund behaupten, dass das Gedicht über den Untergrundbewohner, der sein Leben U-Bahn-fahrend verbringt und bei seinen kurzen Stippvisiten an der Oberfläche den Mond für ein Loch im Himmel hält, anders zu verstehen ist. Nicht die enttäuschten Erwartungen, sondern die vergeblichen Versuche des Man-Moth, sich aus seiner Untergrundexistenz zu lösen, scheinen das Zentrum des Textes auszumachen – eine Interpretation, die mit Evansʼ U-Bahnaufnahmen verbindbar wäre. Alpers fokussiert stattdessen lieber auf die Fallhöhe von Erwartungen, was aber im weiteren Verlauf ihrer Studie nicht genutzt wird. Sie wechselt auf den nächsten Seiten über den deskriptiven Anteil des literarischen Schreibens bei Bishop (für den unter anderem auf eine Briefpassage verwiesen wird, in der Bishop über Darwin schreibt) zur Entwicklung des Transzendenz-Begriffes bei Evans, der auf die Selbstüberschreitung des Künstlers verweist. Dass der Begriff Transzendenz am Ende der zahlreiche Volten schlagenden und starke argumentative Brüche zumutenden Passage „besser verstanden“ worden sei, wird aber Alpers bestenfalls für sich selbst behaupten können. In der Lektüre erschließt sich eine solche heuristische Gewissheit nicht.
Freilich ist es auffallend, dass Alpers – obwohl sie immer wieder auf die literarischen Analogien und Bezüge Evansʼ zu sprechen kommt – seine seriellen Arbeiten, und insbesondere die Arbeiten für Fortune für weniger gelungen hält als die Arbeiten aus den 1930er Jahren. Der Bekanntheitsgrad der frühen Arbeiten (was als Argument eher schwach ist), aber auch der Zugriff Alpersʼ präjudizieren, wie angenommen werden kann, diese Einschätzung. Freilich, das Argument zielt auf einen anderen Umstand: Alpers fokussiert eingestandenermaßen auf die einzelne Arbeit, das singuläre Bild in seiner jeweiligen Präsentation. Serialität, ja, eine das Einzelbild übersteigende und Reihen von Fotos verbindende Narration spielen für sie keine zentrale Rolle, was die Zeitschriftenreportagen auf den zweiten Rang verweist. Aber auch für bekannte Werke lässt sie ihr Argument greifen: Gerade der Umstand, dass Evans etwa bei späteren Auflagen von Let Us Now Praise Famous Men Fotos austauschte und damit das Programm änderte, legt sie als Beleg für ihre These aus.
Basis dafür ist ihre Annahme, dass – wäre der narrative Bogen geschlossen – jedes Foto seine strikte funktionale Position einnehmen würde und nicht durch andere Fotografien ausgetauscht werden dürfe. Allerdings berücksichtigt Alpers in ihrer Argumentation die mangelnde Determiniertheit von Fotografien, mithin ihre relative Bedeutungsoffenheit nicht, die die Konstruktion narrativer Bögen bei Fotoserien unsicherer macht als dies bei Texten möglich ist. Insgesamt hat eine fotografische Narration deshalb einen anderen Charakter und eine andere Präzision als eine textlich fundierte. Der Unterschied zur Malerei, den Alpers sieht, erschließt sich im Übrigen nicht. Fotografien sind offener und weniger bestimmt als Texte, was ja nicht zuletzt zu der Notwendigkeit führt, Fotografien textlich einzufangen und stärker zu bestimmen. Alpersʼ Argumentation muss zudem entgegengehalten werden, dass Evans – wie sie selbst immer wieder betont – seine Arbeiten vor allem für den Druck, die Zeitschrift, das Buch vorgesehen hat.
Er scheint selbst solche Projekte nicht strategisch angegangen, sondern vom Auftrag Dritter abhängig gewesen zu sein. Dennoch ist der Vorrang des Drucks für die Außenwirkung Evansʼ offensichtlich: Seine Kuba-Fotografien, die 1933 einen Text von Carleton Beals begleiten sollten (The Crime Of Cuba), bestätigt das nicht minder wie seine Zusammenarbeit mit James Agee. Auch seine langjährige Tätigkeit für „Fortune“, von 1945 bis 1965, belegt die Fokussierung Evansʼ auf den seriellen Charakter seiner Arbeiten (und vielleicht auch seine Entlastung von dem Zwang, sich intensiver mit der Verwertung seiner Arbeiten beschäftigen zu müssen). Das Ziel seiner Projekte war mehr oder weniger immer der Druck im Buch- oder Zeitschriftenformat. Dass dies bei den Belegen, die Alpersʼ ihrem Band beigibt und deren Druck eine außerordentliche Qualität aufweist, weitgehend verloren geht, ist bedauerlich, aber immerhin konsequent. Zwar präsentiert sie eine Zusammenschau der Kuba-Reportage und bringt einige Seiten aus anderen Buch- und Zeitschriftenpublikationen Evansʼ, aber ein narrativer Bogen wird von Alpers strikt dementiert. Sie geht sogar so weit, die Fotoserien, die Evans publiziert hat und bei denen er auf die unbedingte, von ihm vorgesehene Reihenfolge bestand, letztlich in den Dienst der Einzelaufnahme zu stellen: „Die Anordnung dient den Bildern. Es geht um das Bild“, beschließt sie – ein wenig apodiktisch – den Abschnitt über die Kuba-Werkgruppe. Dem sei hier widersprochen.
Eine deutlich kürzere Fassung dieser Rezension erschien 2021 auf literaturkritik.de
Letzte Ausgaben
Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.