Robert Kehl
„Mit den Augen stehlen“
Proletarischer Blick und bürgerliche Brille in der Weimarer Arbeiterfotografie
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 164, 2022
Nach der Jahrtausendwende mussten der Rezeption der politisch organisierten Arbeiterfotografie Weimars „windstille Zeiten“[1] attestiert werden. Die sehr verschiedenen Dynamiken der Wiederentdeckung in West und Ost seit 1960 schienen einem Vergessen zu weichen.[2] Nun ist der Wind aufgefrischt; die Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands (VdAFD), deren Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf und auch die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) erfreuen sich neuer Aufmerksamkeit. Das Forschungsprojekt „Das Auge des Arbeiters“ untersuchte erstmals regionale Bestände in der Breite und konnte Forschungen interdisziplinär bündeln.[3] Kurz zuvor gliederte Rudolf Stumberger die Weimarer Arbeiterfotografie in eine umfassende, soziologisch ausgerichtete Systematik sozialdokumentarischer Fotografie ein.[4] Vor allem aber haben Ausstellungen das Bild verändert, indem sie etwa archivarische und museale Bestände für die Öffentlichkeit aufarbeiteten („Das Auge des Arbeiters“, 2014) oder Arbeiterfotografie überhaupt erst als international verflochtenes Netzwerk der fotografischen Moderne vor Augen stellten („A hard, merciless light. The Worker Photography Movement 1926–1939“, 2011).[5] Die neuerliche Intensität in der historischen Auseinandersetzung nötigt zur Frage, welche Denkrahmen heute dieses Material beleben.
Hier kann es nicht allein eine Antwort geben. Eine paradigmatische wählte jüngst eine Ausstellung in Berlin. Sie stellte mit Ernst Thormann, Richard Woike und Kurt Pfannschmidt drei Arbeiterfotografen aus Berlin und Leipzig vor.[6] Ihr Titel, „Der proletarische Blick“, legte den Deutungsschwerpunkt auf die Autonomie der Arbeiterfotografie. Nicht mehr der bürgerliche Realismus präge das Bild der unteren Klassen; diese selbst forderten „Herrschaft über das eigene Bild“[7]. Das trifft das politische Selbstverständnis der damaligen Akteure: Nur die Arbeiter könnten ihre soziale Lage treffend darstellen; es zeige sich „das Gesicht des Proletariats nur dem Arbeiter selbst“[8]. Nicht nur sollen eigene Interessen politisch vertreten sein, sondern ein grundsätzliches Erkenntnis- und Vermittlungsproblem wird postuliert. Dieser Gedanke bildet eine Brücke ins Heute. Die feministische Kritik hat das Konzept eines männlichen Blicks theoretisiert[9], postkoloniale Theorien einen kolonialen Blick des Westens.[10] Zumindest die Pluralität sozialer Perspektiven ist lange Common Sense.[11]
Für die Theoriegeschichte der dokumentarischen Fotografie ist mit dem Anspruch der Selbstvertretung allerdings ein sensibler Punkt berührt. Einige heute kanonische Texte machten gerade die soziale Hierarchie von Fotografierenden und Fotografierten zum Fundament einer breiteren Kritik. Susan Sontag polemisierte gegen Dokumentarfotografen als „Touristen in anderer Leute Realität“[12]. Die eigene Perspektive abseits aller Klasseninteressen zu verorten und zu universalisieren, war für Sontag eine symptomatische bürgerliche Fehlleistung. Martha Rosler kritisierte deren ideologische Implikate: Das sozialreformerische Denken mache die liberale Dokumentarfotografie zur paternalistischen Selbstvergewisserung des Bürgertums, dem Moralismus näher als dem politischen Kampf.[13] Abigail Solomon-Godeau vertiefte diese repräsentationspolitische Kritik: Der dokumentarische Akt schaffe Sujets, denen ein mächtigerer Betrachter bereits impliziert sei.[14]
Dass die Prämisse hierarchischer Abbildung auf den politischen und publizistischen Komplex proletarischer Amateurfotografen nicht übertragbar scheint, macht seine Kanonisierung so wichtig. Die Arbeiterfotografie als Ausdruck eines kollektiven ‚Selbst‘ zu verstehen, hat sich allerdings als Kette von Problemen erwiesen. Zum einen ist der Begriff eng auf ein spezifisches Segment der Arbeiterbewegung fokussiert. Die Instrumentalität der VdAFD in den politischen Strategien der Internationalen Arbeiter-Hilfe und der Komintern machen den abstrakten, politischen Charakter dieses Selbst deutlich.[15] Zum anderen stellt sich die Frage nach dem anderen Blick auch formästhetisch, denn aus einer sozialen Lage bzw. aus einem politischen Programm resultiert nicht zwingend genuine Form oder Thematik.
Die Berliner Ausstellung selbst bot hervorragendes Material zur Differenzierung dieses Zusammenhangs. Viele der Bilder belegten den politischen Aspekt des proletarischen Blicks: Demonstrationszüge, Arbeitersportveranstaltungen, Bilder schwer arbeitender Erwachsener oder Kinder sowie Szenen elender Armut. Ein Teil der Bilder aber ließ sich weniger gut als diese auf die Bildprogramme der Arbeiterfotografie beziehen, die zuvorderst Material über revolutionäre Bewegung, soziale Lage und Alltag der Arbeiterschaft, Arbeit in den Betrieben und industrielle Technik forderten.[16] Die Bilder der Reportage „Berlin bei Nacht“ (Abb. 1 und 2) etwa, von Thormann, Frieda Schneider und Helmut Rehberg fotografiert und 1930 in der AIZ erschienen[17], lassen sich erhellend mit Pendants der bürgerlichen Illustrierten vergleichen. Felix H. Mans Reportage über das Nachtleben am Kurfürstendamm von 1929[18] hat einen melancholisch distanzierten Zug, wenn sie mehrfach einzelne, müde versunkene Menschen herausstellt; Thormanns weich geblitzte Bilder rücken dagegen nah an Feiernde, Schlägereien oder Prostituierte heran. Thematisch ergibt sich aber kein so anderes Berlin; der Kontrast zwischen Feier und Arbeit eint beide, und auch Man wollte Obdachlose nicht aussparen. Der bildrhetorische Unterschied wird erst im Kontext der Publikation stark. Die proletarischen Einzelbilder in der Ausstellung, ohne die polemische Bild-Text-Montage der AIZ, bleiben vieldeutiger.[19]
Thormann war als wichtiger Funktionsträger der VdAFD mit deren Themenkanon vertraut. Doch oft wurde erst fotografiert und die Bilder dann verschiedenen Redaktionen des linken oder sogar bürgerlichen Spektrums angeboten.[20] Menschen im Freibad, Straßenszenen, Autounfälle, Kindervergnügen auf dem Rummel oder beim Fasching zeugen von einer verselbständigten Auseinandersetzung mit bildlichen Topoi städtischen Alltags. Wenn der Neuköllner Arbeiter Thormann angibt, er habe beim Fotografieren der Reportage in den verschiedenen Stadtteilen „erst selbst gelernt, was sich da alles so abspielte“[21], wird die medienpragmatische Wirkung auf das klassenspezifische Handeln der Akteure konkret: Das Fotografieren führt sie an andere Orte als die ihren. Darin bestätigt sich, was Wolfgang Hesse mit Blick auf die Modifizierung des Aktionsraums der Arbeiterbewegung durch die Fotografie betont hat: dass das Foto „nicht allein Dokument, sondern auch Agent einer Wahrnehmung“[22] ist.
Obwohl die Opposition zur bürgerlichen Presse für die organisierte Arbeiterfotografie Weimars programmatisch konstitutiv war, blieb sie mit dieser verknüpft.[23] Davon gab es durchaus ein Bewusstsein. Negativ in der Erkenntnis, dass ein proletarischer Blick nicht aus der sozialen Lage erwachse, sondern, so Edwin Hoernles bekannte Wendung, eine „geistige Sehkraft“ sei: Das „‚Klassenauge‘ muss trainiert werden. Millionen Proletarier besitzen es noch gar nicht“[24]. Die „kleinbürgerliche Brille“ aus illustrierter Presse, Schule und Kino abzusetzen, sei ein erst zu erreichendes Ziel der Arbeiterfotografie. In diesem Lernprozess aber fällt der bürgerlichen Pressefotografie ebenfalls, nunmehr positiv, eine Rolle zu. Weil man, so führte der Reichssekretär der VdAFD, Erich Rinka, aus, von dieser lernen könne, wie man fotografiert, solle der Arbeiterfotograf „mit den Augen stehlen“.[25]
Eine Auseinandersetzung mit fotografischen Artikulationen eines proletarischen Selbst wird also mit Formen strategischer Aneignung zu rechnen haben. Die Brille, kann man sagen, schärfte den Blick. In Thormanns Bildern des Berliner Osthafens (Abb. 3) scheint das kompositionelle Schema des Neuen Sehens durch, dient aber der Anschaulichkeit des Arbeitsvorgangs. Der zugewandte Blick des Arbeiters rechts aber ist vielsagend: Er verrät Einverständnis und Mitwirkung beim Fotografieren, auf das Arbeiterfotografen an solchen Orten eher rechnen durften als ihre bürgerlichen Kollegen.[26] Dies gilt aber nicht in jedem Falle. Etwa bei den Prostituiertenbildern in „Berlin bei Nacht“[27]; erst recht aber für Richard Woikes verstörende Serie obdachloser Männer (Abb. 4), zusammengesackt auf Banken oder hilflos am Bordstein. Der politische Zweck solcher Bilder mag die Mittel rechtfertigen, doch wird deutlich, dass der politische Selbstvertretungsanspruch der Arbeiterfotografie konkrete sozialstrukturelle Grenzen überschritt. Wohl konnte man die Substrata des urbanen Lumpenproletariats als Opfer der bekämpften Wirtschaftsordnung begreifen, kaum aber als seinesgleichen. Walter Ballhause hat andernorts darüber berichtet: „Das Blut ist mir direkt ins Gesicht gestiegen, so hab ich mich geschämt“ [28], wenn jene, „die sich nicht gern zeigten, die Elenden“ ihn beim Fotografieren einmal entdeckten. Hier deckt sich das repräsentationspolitische Problem recht bündig mit dem der sozialreformerischen Dokumentarfotografie. Letztlich sind es solche Blickwechsel, Aneignungen und die mediale Agency, die das Problem des proletarischen Blicks so fruchtbar für ein komplexes Bild der fotografischen Moderne machen. Die allzu eingängige Metapher des Blicks birgt die Gefahr des Authentischen. Die wichtigste und schwierige Aufgabe heute ist es, sie in dieser Brüchigkeit ernstzunehmen.
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[1] Walter Uka: Zur Rezeption der Arbeiterfotografie in Ost und West nach 1945, in: Diethart Kerbs, Walter Uka: Fotografie und Bildpublizistik in der Weimarer Republik, Bönen 2004, S. 209–220, hier: 219.
[2] Zur Rezeption vgl. Rolf Sachsse: Der Radwechsel, in: Wolfgang Hesse (Hg.): Die Eroberung der beobachtenden Maschinen, Leipzig, 2012, S. 419–436.
[3] Das Projekt „Das Auge des Arbeiters“ (2008–2012) am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) Dresden sowie das DFG-Transferprojekt „Arbeiterfotografie als bildwissenschaftliches Ausstellungskonzept“ (2013–2015) haben einen reichen Fundus an Literatur hervorgebracht, darunter zentral Wolfgang Hesse (Hg.): Die Eroberung der beobachtenden Maschinen. Leipzig 2012; Ders., Holger Starke (Hg.): Arbeiter/Kultur/Geschichte. Arbeiterfotografie im Museum, Leipzig 2017. Zudem erschienen zwei Themenhefte, vgl. Fotogeschichte, 33. Jg., Heft 127, 2013 sowie Transbordeur, 4. Jg., Heft 4, 2020.
[4] Vgl. Rudolf Stumberger: Klassenbilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900–1945, Konstanz S. 97-157.
[5] Vgl. AK Das Auge des Arbeiters, hg. v. Wolfgang Hesse, Leipzig 2014; AK The Worker Photography Movement. Essays and Documents, hg. v. Jorge Ribalta, Madrid 2011.
[6] Zur Ausstellung, kuratiert von Julia Hartenstein, vgl. AK Der proletarische Blick – Arbeiterfotografie der 1920er Jahre (Bröhan-Museum Berlin), hg. v. Tobias Hoffmann, Berlin 2020. Dem Leihgeber Peter Badel vom Ernst-Thormann-Archiv in Berlin sei hiermit für seine hilfreichen Auskünfte zu Bildern und Archiv gedankt.
[7] Tobias Hoffmann: Arbeiterfotografie im Bröhan-Museum, in: AK Der proletarische Blick, (Anm. 6), S. 2–3, hier S. 2.
[8] Klappentext Katalog, zit. n. Anonym: Die Naturfreunde und wir, in: Der Arbeiterfotograf, 2. Jg, Heft 4, 1927, S. 5.
[9] Vgl. Laura Mulvey: Visual pleasure and Narrative Cinema (1975), in: Screen 16. Jg, Heft 3, Herbst 1975, S. 6–18.
[10] Vgl. etwa Elizabeth Edwards: Looking at Photographs: Between Contemplation, Curiosity, and Gaze, in: Tamar Garb (Hg.) Distance and Desire: Encounters with the African Archive, Göttingen 2013. S. 48–54.
[11] Wolfgang Welsch: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Wege aus der Moderne, Weinheim 1988, S. 1-43, hier S. 13-21. Es gibt Versuche, die Arbeiterbewegung in eine Geschichte der Identitätspolitik einzugliedern, vgl. etwa Jens Kastner, Lea Susemichel: Zur Geschichte linker Identitätspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 69. Jg., Heft 9–11, 2019, S. 11–17.
[12] Susan Sontag: Objekte der Melancholie (1974), in: Dies.: Über Fotografie. Frankfurt/Main 2013, S. 53–83, hier S. 59.
[13] Martha Rosler: In, around, and afterhoughts (on documentary photography) (1981), in: Richard Bolton (Hg.): The Contest of Meaning. Cambridge, Mass. 1992, S. 302–340, hier S. 304, 306f.
[14] Vgl. Abigail Solomon-Godeau: Wer spricht so? Einige Fragen zur dokumentarischen Fotografie (1991), in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Frankfurt/Main 2017, S. 53–74, hier S. 64, 66.
[15] Vgl. etwa Christian Joschke: Fotografie als Ware im Klassenkampf, in: Hesse/Starke 2014, (Anm. 3), S. 257–281.
[16] Vgl. etwa Anonym: Preis-Ausschreiben der A.I.Z., AIZ, 2. Jg., 25. März, 1926, S. 7. Das erste Aktionsprogramm der VdAFD zählt proletarische Organisationen, Wohnungswesen, Wohlfahrt, Arbeits- und Gesundheitswesen und Arbeiterbewegung auf, vgl. Erich Rinka: Fotografie im Klassenkampf, Leipzig 1981, S. 18.
[17] Berichte zur Herstellung in Rainer Knapp: Ernst Thormann. Leipzig 1981, S. 18. Zur kollektiven Arbeitsweise vgl. Olivier Lugon: Das kollektive Auge, in: Hesse 2012, (Anm. 4), S. 257–284.
[18] Beide Zeitungen betiteln ihre Reportage jeweils als „Streifzug“. Vgl. Anonym, Felix H. Man: Zwischen Mitternacht und Morgengrauen am Kurfürstendamm, in: Münchner Illustrierte Presse, Nr. 38, 1929, S. 1238f.; Anonym, Ernst Thormann: Berlin bei Nacht, in: AIZ, 4. Jg., Nr. 8, 1930, 150f.
[19] Die Aufwertung von Reportage und Montage in der linken Publizistik war eng verbunden mit der Kritik der Vieldeutigkeit des Einzelbilds, vgl. etwa Walter Nettelbeck: Reportagen, in: Der Arbeiter-Fotograf, Jg. 3, Nr. 1, 1929, S. 3f.; Hermann Leupold: Das Bild – Eine Waffe im Klassenkampf, in: Der Arbeiter-Fotograf, 5. Jg., Nr. 11, 1931, S. 272f.
[20] Thormann berichtet dies in Knapp 1981, (Anm. 17), S. 17, 18. Zum Verkauf von Bildern an eine bürgerliche Agentur vgl. ebenda., S. 19. Es handelt sich offenbar um die Ullstein Bilderzentrale; ein Bild Thormanns aus Jewpatorija wird noch heute dort angeboten.
[21] Ebenda.
[22] Wolfgang Hesse: Arbeiterfotografie als bildwissenschaftliches Ausstellungskonzept, in: AK Das Auge des Arbeiters 2014, (Anm. 5), S. 19–32, hier S. 24.
[23] Die Austauschbeziehungen untersucht Anton Holzer: Erzählende Bilder. Fotoreportagen in der bürgerlichen und proletarischen Presse um 1930, in: Hesse/Starke 2014, (Anm. 3), S. 283–320.
[24] Edwin Hoernle: Das Auge des Arbeiters, in: Der Arbeiter-Fotograf, 4. Jg., Heft 7, 1930, S. 152.
[25] Erich Rinka: Soziale und politische Reportage, in: Der Arbeiter-Fotograf, 5. Jg., Heft 8, 1931, S. 183.
[26] Vielfach gibt es Berichte von Bündnissen bei Betriebsfotografie oder Mieterkämpfen, vgl. etwa Rinka 1981, (Anm. 16), S. 146f., 150f.
[27] Rinka kolportiert den resultierenden Tumult, der die Flucht der Fotografen notwendig machte. Vgl. Rinka 1981, (Anm. 16), S. 149.
[28] Walter Ballhause – Einer von Millionen (Dokumentarfilm DDR 1982, 21 Min., Regie: Karlheinz Mund), 9’30.
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