Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Birgit Schillak-Hammers

Zwei vergessene Meisterinnen des Porträts

Eckhardt Köhn, Susanne Wartenberg (Hg.): Die Fotografinnen Nini und Carry Hess, München: Hirmer Verlag, 2021. Mit Beiträgen von Katrin Bomhoff, Heike Drummer, Roland Jaeger, Eckhardt Köhn und Miriam Szwast. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Giersch der Goethe-Universität Frankfurt, 11. März bis 22. Mai 2022, 256 Seiten, 22 x 28,5 cm, 247 Abb. in Farbe, gebunden, 39,90 Euro

 

Erschienen in: Fotogeschichte 163, 2022

Es gehört zu den gängigen Narrativen der fotohistorischen Forschung, die Wichtigkeit in Vergessenheit geratener Fotograf*innen herauszustellen. Vermutlich schlummern in den Archiven noch reichlich unbekannte oder wenig beachtete Fotografen der 1920er und 1930er Jahre und sehr wahrscheinlich noch viel mehr unentdeckte Fotografinnen. Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, solchen Spuren nachzugehen, denn auch wenn sich das wiederentdeckte Werk nicht in allen Fällen als herausragend entpuppt, erweitert es trotzdem den Blick auf die entsprechende Epoche, deren Mechanismen und Strömungen. Im Fall der Schwestern Nini und Carry Hess steht die Relevanz ihrer Arbeit zweifellos außer Frage. Zwischen 1913 und 1933 führten sie ein äußerst erfolgreiches Atelier in Frankfurt am Main, das vor allem auf Porträt- und Theaterfotografie spezialisiert war. Dass ihre Namen heute höchstens in Fachkreisen noch ein Begriff sind, dürfte unter anderem in dem so häufig erlittenen Schicksal jüdischer Künstler*innen unter den Nationalsozialisten begründet liegen. Diese zerstörten in der Reichspogromnacht 1938 das Atelier der Schwestern sowie den gesamten fotografischen Bestand. Während Nini Hess in der Folge in einem Konzentrationslager, vermutlich Auschwitz, ermordet wurde, gelang ihrer Schwester Carry Hess 1933 die Flucht nach Frankreich. Doch auch sie starb bereits 1957 in der Schweiz; verarmt, von Krankheiten gezeichnet und nicht in der Lage, das gemeinsame Werk für die Nachwelt in Erinnerung zu rufen.

Die bislang einzige, posthume Einzelausstellung zu den beiden Schwestern fand 2002 statt; gezeigt wurden hauptsächlich die Bestände der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln. Die begleitende Publikation umfasst lediglich 16 Seiten und stellt zusammen mit einem Aufsatz der Kuratorin Anja Hellhammer aus dem Jahr 2000 eine der wenigen monografischen Veröffentlichungen zum Werk der Schwestern dar.[1] Die nun für das Frühjahr 2022 angekündigte Ausstellung zu Nini und Carry Hess im Frankfurter Museum Giersch bildet also definitiv ein Desiderat. Aufgrund des fehlenden Nachlasses, mussten biografische Informationen, publizierte Aufnahmen sowie die wenigen erhaltenen fotografischen Originalabzüge durch umfangreiche Recherchen in zahlreichen Archiven sowie im Blätterwald der 1920er und 1930er Jahre ausfindig gemacht werden und sind zum Teil hier zum ersten Mal zu sehen. Die Ergebnisse dieser aufwendigen Forschungen liegen zudem in Form des begleitenden, optisch sehr ansprechenden Katalogs vor, welcher von den Kurator*innen Eckhard Köhn und Susanne Wartenberg herausgegeben wurde.

In fünf Beiträgen wird hier den verschiedenen Aspekten der Arbeit der Schwestern Hess nachgegangen. Den Auftakt macht Eckhardt Köhn, der in gewohnter Sorgfalt den Lebensweg und die künstlerische Entwicklung von Stefanie „Nini“ Hess (geb. 1884) und Cornelia „Carry“ Hess (geb. 1889) nachzeichnet. Von beiden ist jeweils nur eine einzige bildliche Darstellung überliefert und über ihr Privatleben ist wenig bekannt. Dafür wird die Bedeutung ihrer Arbeit und ihre herausragende Stellung in der zeitgenössischen Fotoszene im Katalog eindrücklich aufgezeigt. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg etablierten sich die Schwestern im Geschäft, vor allem auf dem Gebiet des Porträts und der Theaterfotografie. Ihre Aufträge generierten sie dabei größtenteils aus der Frankfurter Kulturszene, in der sie exzellent vernetzt waren. Auch die Fachwelt nahm bereits früh Kenntnis von dem fotografischen Talent, das vor allem Carry Hess zugeschrieben wird, die schon 1912 die Silbermedaille in der Kategorie Künstlerische Photographie im Rahmen der Allgemeinen Deutschen Photographischen Ausstellung in Heidelberg gewann. In den 1920er Jahren bauten die Schwestern ihren Erfolg weiter aus. Sie nahmen an bedeutenden Ausstellungen wie der Deutschen Photographischen Ausstellung 1926 in Frankfurt oder Das Lichtbild 1930 in München teil, publizierten zahlreich in der illustrierten Presse und in bedeutenden Fotobüchern zum Porträt.

So auch in Lothar Briegers Das Frauengesicht der Gegenwart von 1930, dem sich der Beitrag von Miriam Szwast widmet.[2] Szwast beleuchtet hier das Bild der modernen Frau in den 1920er Jahren, die damit einhergehende Neubeurteilung der Geschlechterrollen sowie den damaligen Hype um die Darstellung des ‚wahren Gesichts‘. Nini und Carry Hess, die selber Teil dieser gesellschaftlichen Umwälzung waren und schon sehr früh den Typus der neuen, selbstbewussten Frau darstellten, zeigen in ihren Fotografien für Briegers Band die berufstätige Frau, zum Beispiel eine Ärztin, Fotografin oder Astrologin. Darunter sind auch bekannte Gesichter wie jenes der Künstlerin Erna Pinner. Letzteres wurde schon von den Zeitgenossen häufig als Beispiel für einen neuen Stil in der Porträtfotografie herangezogen, denn die Bildsprache Nini und Carry Hess‘ wandelte sich im Laufe der 20er Jahre hin zu einer neuen Sachlichkeit. Abgesehen von den Porträts betraf dies auch ihre Theater- und Tanzfotografien, bei denen zudem die weiterentwickelte Aufnahmetechnik die Arbeit erleichterte. Einen Höhepunkt ihrer Theaterarbeit stellen sicherlich die Aufnahmen des jüdischen Künstlertheaters Habima aus Moskau dar. Die Theater- und Porträtaufnahmen erschienen 1928 in einem Bildband, der nur wenige Bilder anderer Autor*innen enthielt.[3] Roland Jaeger analysiert in seinem Beitrag Entstehung, Aufbau und Rezeption des Bandes vor dem Hintergrund der damals äußerst populären Gattung des Fotobuchs und stellt die Bedeutung innerhalb des Werks der Schwestern Hess heraus. Die Aufnahmen sind noch stark der expressionistischen Darstellungsweise verhaftet und erzeugen eine bedrückend düstere Atmosphäre, wie unter anderem an einem Porträt des Schauspielers Schabtai Prudkin ersichtlich wird, welches nicht ins Buch aufgenommen wurde, aber das Cover des vorliegenden Katalogs ziert.

Neben Theater und Tanz sowie später Revue und Varieté, boten Nini und Carry Hess auch sonst ein breites Spektrum an Themen an, die von der illustrierten Presse gefragt wurden. Ihr Wirken blieb dabei nicht auf Frankfurt beschränkt, sondern erstreckte sich bis nach Berlin und dort vor allem auf die Publikationen des Ullstein Verlags. Katrin Bomhoff legt in ihrem Beitrag ausführlich dar, wie sich diese Zusammenarbeit gestaltete und wie die Auftragsvergabe und das Verfahren der Bildauswahl für die einzelnen Blätter aussah. Sehr anschaulich wird dies unter anderem durch die Abbildung der Rückseite eines Porträts Carola Nehers mit diversen Vermerken darauf. Nicht zuletzt war auch hier die gute Vernetzung der Schwestern innerhalb der führenden Frankfurter Gesellschaft für Ullstein von Bedeutung. Ein Einblick in das Schicksal des Verlags nach 1933 wirft gleichzeitig Licht auf die Schwierigkeiten, mit denen sich die Schwestern Hess aufgrund ihrer jüdischen Abstammung wohl konfrontiert sahen. Dazu zählt unter anderem das Schicksal der nach 1933 in Deutschland bei der Mutter verbliebenen Nini Hess, einschließlich der immer noch nicht gänzlich rekonstruierbaren Umstände ihres Todes im Konzentrationslager, dem Heike Drummer im letzten Beitrag nachgeht.

Der Katalog ist mit hervorragenden Abbildungen bereits bekannter wie neu entdeckter Fotografien von Nini und Carry Hess illustriert. Neben den großen Konvoluten der Porträt- und Theaterfotografien werden auch bislang wenig beachtete Arbeiten gezeigt, wie die Architekturaufnahmen zum Werk des Architekten Martin Elsässer oder auch Aktaufnahmen, wie jene der nur spärlich bekleideten Tänzerin Claire Bauroff. Besonders erfreulich ist, dass die nicht im Originalabzug erhaltenen Fotografien vielfach im publizierten Kontext gezeigt werden. Ergänzt wird das fotografische Œuvre durch ausführliche Verzeichnisse und das umfangreiche Archivmaterial zu Nini und Carry Hess, das besondere Beachtung verdient. Es handelt sich unter anderem um Briefe, Plakate, Artikel von und über die Schwestern sowie Visitenkarten und Werbeanzeigen. Auch Abzüge mit eingezeichneten Korrekturen, Widmungen oder sonstigen Beschriftungen sind abgebildet. Vielleicht finden sich auch in Zukunft noch verstreute Fundstücke zu Nini und Carry Hess, die den ein oder anderen Aspekt weiter vertiefen oder erhellen mögen, doch ohne Zweifel bildet der nun erschienene Katalog in seiner Breite und Detailgenauigkeit das Fundament für jegliche weitere Forschung zu diesen beiden wichtigen Fotografinnen.

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[1] Auf geradem Weg zwischen Bildnerei und Technik: Fotografien von Nini & Carry Hess 1920–1933; eine Ausstellung der Theaterwissenschaftlichen Sammlung, Universität zu Köln, Schloss Wahn, 15. April bis 26. Juni 2002 sowie Anja Hellhammer: Potential der Provinz. Zum theaterfotografischen Werk von Nini & Carry Hess, in: Fotogeschichte, 20. Jg., Heft 75, 2000, S. 45–58.

[2] Lothar Brieger: Das Frauengesicht der Gegenwart, Stuttgart 1930.

[3] Bernhard Diebold: Hebräisches Theater, Berlin 1928.

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