Hanns Zischler
Ein Fund im Depot
Erschienen in: Fotogeschichte 162, 2021
Vorbemerkung: Die folgenden drei Beiträge bilden ein Ensemble. Hanns Zischler berichtet über die Entdeckung von 1906 in Berlin angefertigten Fotografien afrikanischer Köpfe; Holger Stoecker untersucht den kolonialgeschichtlichen Kontext dieser Aufnahmen; Anne Vitten beschreibt die technische ‚Dienstleistung‘ des Lette-Vereins für Hans Virchow, Professor am Anatomischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.
Im Juli 2008 besuchte ich, in Begleitung eines Kulturhistorikers, das Depot des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem. Wir waren, einem Hinweis der Historikerin Anita Hermannstädter folgend, auf der Suche nach Gegenständen materieller Kultur, welche der Potsdamer Gärtner Friedrich Sellow (1789–1831) auf seinen entbehrungsreichen Sammlungsreisen durch das südliche Brasilien an das Berliner anatomisch-zootomische Museum geschickt hatte. Die wechselvolle Geschichte der Berliner Museen wollte es, dass die Tagebücher und Skizzenhefte Sellows in der Historischen Arbeitsstelle des Naturkundemuseums verblieben, während die Gegenstände selbst – Speere, Körbe, Reusen usw. – in das Depot des Ethnologischen Museums gewandert waren. Sellow war als zeichnender Sammler einer der Ersten, der die 1806 von William Hyde Wollaston (1766–1828) erfundene camera lucida virtuos zu handhaben wusste. Dieses Gerät ermöglichte maßstabsgerechte, präzise Abbildungen einer Landschaft, eines Gegenstandes, eines menschlichen Gesichts, sofern diese sich auf gleicher Augenhöhe mit dem Zeichner befanden. Besonders eindrucksvoll gelangen Sellow die Porträts indigener Menschen. Neben den vielen Sammlungsstücken aus Flora und Fauna hatte Sellow auch einige, namentlich zugeordnete Schädel von Botokuden nach Berlin verschickt.[1] In einer der vielen Schränke des Dahlemer Depots wurden schließlich die von uns gesuchten Gegenstände ausfindig gemacht, und wir konnten durch Vergleich mit dem Skizzenheft feststellen, wie detailgenau Sellow gezeichnet hatte.
Beim Gang durch das weitläufige Depot stießen wir in einer Ecke zufällig auf einen ansehnlichen Stapel von etwa DIN A3 großen Fototafeln; sie schienen nirgendwohin zu gehören, so als wären sie verräumt und vergessen worden. Wir hoben ein Blatt nach dem andern in die Höhe: das bereiste, idyllisch verklärte, verwaltete, ausgebeutete und aufgeteilte Afrika um 1900 – und auf einmal, weiterblätternd, schreckten wir auf: jähes Entsetzen. Wir blickten auf ein, zwei, drei Fototafeln von abgeschnittenen Köpfen von Afrikanern, jeweils im Profil und en face. Im Gegensatz zu den anderen Bildern waren diese Tafeln vorderseitig beschriftet. Es war sofort zu erkennen, dass es sich um sorgfältig hergestellte Atelieraufnahmen handelte. Der handschriftliche Vermerk am unteren Rand bestätigte diesen Eindruck. Zwei Köpfen war am oberen Bildrand ein Name zugeordnet. Diese Fotoporträts bewirkten, verstärkt noch durch die Suggestion der ‚Lebensechtheit‘, dass es uns vor Scham die Sprache verschlug. Während auf den übrigen Bildern das koloniale Afrika aus der Distanz von sepiagetönten Abzügen zu betrachten war, rückten diese Porträts – 1906 in Berlin fotografiert – uns unvermittelt nahe. Schockierend war und ist, anders als bei den ihrer Physiognomie beraubten Schädeln, der emotional berührende Gesichtsausdruck, der aus den abgetrennten Köpfen spricht.
Der zur Schau gestellte abgeschlagene Kopf ist spätestens seit dem Blutrausch der französischen Revolutionäre ein obszönes Sinnbild des Triumphes, dessen Wiederkehr wir jüngst durch die Bilder des „Islamischen Staates“ ausgesetzt waren. In den Berliner Aufnahmen tritt der Triumph einer barbarischen Wissenschaft zutage, welche den ohnehin schon besiegten Körper des Kolonisierten noch um seinen Kopf beraubt. Eine Schändung, die von keiner Zeit geheilt wird. Würde man diese Aufnahmen erneut abbilden oder die Originale öffentlich ausstellen, würde man die Akte der Entmenschlichung wiederholen: was mit der Kolonisation begann, setzte sich im Ethnozid der ‚Schutztruppen‘ fort und kehrte als wissenschaftliche Trophäe an den Ursprungsort des deutschen Kolonialismus zurück. Neben dem „Gesichtsausdruck“, auf dessen Bewahrung bei der Aufnahme besonderer Wert gelegt wurde, halten diese Fotografien auch die Schnittstelle fest, welche durch die Enthauptung, gleichviel ob am Lebenden oder Toten, entstanden ist. Nichts wurde kaschiert. Die Fotografie macht bis heute den Moment und den Ort der skandalösen Aneignung sichtbar, ehe die Köpfe selbst zur Mazeration, der anatomischen Entfernung der Weichteile, freigegeben wurden, bei der auch noch das Antlitz, also der „Gesichtsausdruck“ der Toten vernichtet wird. Zu fragen ist, zu welchem Zweck diese Aufnahmen überhaupt gemacht wurden, sofern sich ihr ‚Sinn‘ nicht in der schieren technischen Machbarkeit erschöpft, wenn also diese Objekte, – die „Präparate“ (!) – anschließend von dem Anatomen Hans Virchow zerlegt wurden? Wie gehen wir heute damit um, wenn Einigkeit darüber besteht, dass sie nicht gezeigt werden sollen?
P. S.: Sehr wahrscheinlich bediente sich Johann Gottfried Schadow 1835 in seinen bekannten „National-Physiognomien“ eines ähnlichen, abgetrennten Kopfes (eines afrikanischen Sklaven) als Vorlage für seine idealisierende Umrisszeichnung, doch indem er die Spuren des gewaltsamen Aktes tilgt, gelingt es ihm, das Porträt zu ‚antikisieren‘ und in eine Traditionsreihe physiognomischer Portraits zu rücken, wie wir sie beispielsweise von Charles Le Brun und Johann Casper Lavater kennen. Die achtzig Jahre später angefertigten Fotografien enthüllen, ohne dass dies den Operateuren bewusst geworden wäre, Schadows Eingriff.
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[1] Hierzu: Holger Stoecker: Die Schädel der „Wilden“, in Die Erkundung Brasiliens – Friedrich Sellows unvollendete Reise, hg. v. Hanns Zischler, Sabine Hackethal, Carsten Eckert, Berlin 2013, S. 208 f.
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