Holger Stoecker
En face und en profil
Fotografische Porträts toter Afrikaner für die Berliner Academia
Erschienen in: Fotogeschichte 162, 2021
Vorbemerkung: Die folgenden drei Beiträge bilden ein Ensemble. Hanns Zischler berichtet über die Entdeckung von 1906 in Berlin angefertigten Fotografien afrikanischer Köpfe; Holger Stoecker untersucht den kolonialgeschichtlichen Kontext dieser Aufnahmen; Anne Vitten beschreibt die technische ‚Dienstleistung‘ des Lette-Vereins für Hans Virchow, Professor am Anatomischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Foto-Tafeln im Depot
Die hier anonymisierte Foto-Tafel (vgl. Abb.) gehört zu einer Serie von acht Tafeln aus fester Pappe, auf denen je zwei Schwarz–Weiß-Aufnahmen von dem abgetrennten Kopf eines männlichen Afrikaners aufgebracht wurden. Die Aufnahmen im Maßstab von fast 1:1 zeigen, ähnlich wie Portraits in einer polizeilichen Bildkartei, die Köpfe en face und en profil, welchehinten von querliegenden Holzklötzchen gestützt werden. Auf einigen Fotos wurden die Gesichtspartien nachträglich mit einem hellen ocker-gelben Farbton koloriert, möglicherweise in Anlehnung an die Hautfarbentafel des Anthropologen Felix von Luschan. Auf allen Fotos sind die Augen geschlossen, bei drei Köpfen wurde die Kopfhaut über der Stirn von einer Schläfe zu anderen aufgeschnitten, entlang des Schnitts hat sich die Haut etwas zurückgezogen und in dem sich öffnenden Spalt zeigt sich der Schädelknochen, auf dem eine horizontale Schnittlinie erkennbar ist. Dies deutet darauf hin, dass zu einem früheren Zeitpunkt die Schädeldecke des Kopfes geöffnet wurde, um das Gehirn zu entnehmen. Gemeinsam ist allen Tafeln eine nahezu identische, handschriftlich verfasste Textzeile am unteren Rand: „Der Kopf befindet sich in der Sammlung der Königl[ichen] Anatomie zu Berlin. Aufgen[ommen] von Frl. [Fräulein] Kundt. (Lettehaus) Berlin 1906.“ Die Handschrift gehörte Richard Neuhauss, dem Kustos der Fotosammlung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU), der die Fototafeln im selben Jahr in deren Sammlung gab.[1]
Die Tafeln befinden sich heute im Depot des Ethnologischen Museums Berlin. Ihre Inventarnummern, beginnend mit einem P (für Photo), weisen sie als Sammlungsgut der BGAEU aus. Diese von dem Arzt und Anthropologen Rudolf Virchow und weiteren Gelehrten 1869 gegründete, mit der Berliner Academia und insbesondere mit dem damaligen Königlichen Museum für Völkerkunde aufs Engste verzahnte wissenschaftliche Gesellschaft erlebte ihren Höhepunkt an Mitgliederzahl und Einfluss in den Jahrzehnten um 1900. Nach dem Ersten Weltkrieg schwand ihre Bedeutung. Neben einer Sammlung von aktuell etwa 3.500 Schädeln größtenteils nichteuropäischer Herkunft und einem historischen Archiv zählt eine umfangreiche Fotosammlung (1939: 22.771 Aufnahmen) zu ihren bedeutsamsten Hinterlassenschaften. Von letzterer gelangte 1956 ein großer Teil als Depositum an das Museum für Völkerkunde in West-Berlin.[2] Hierzu gehörten auch jene acht Foto-Tafeln.[3] Die Anordnung von jeweils zwei Fotografien (22,8 cm x 28,1 cm, 17,5 cm x 27,0 cm) auf einer Tafel (32,5 cm x 41,4 cm) lässt vermuten, dass sie bei wissenschaftlichen Vorträgen in der BGAEU präsentiert wurden. Am oberen Rand der Tafeln wurden – gleich einer Überschrift– einige spärliche Informationen zur Herkunft der Abgebildeten festgehalten. Neben Verweisen auf West- und Ost- oder allgemein auf Afrika wurden einige Abgebildete mit den rassistischen Fremdbezeichnungen „N*“ und „Mulatte“ gekennzeichnet sowie mit Angaben zum ungefähren Sterbealter versehen. Abweichend davon wurden auf drei Tafeln Angaben notiert, die offenbar als Namen verstanden wurden und somit eine Spur zur Identität der Personen legen. Zwei von ihnen wurden zudem als „Mehehe“ bezeichnet, womit ihre Zugehörigkeit zur Ethnie der Hehe (Singular: Mhehe, Plural: Wahehe) gemeint war. Hierzu zählte auch jener Afrikaner, dessen Kopf auf den hier angedeuteten Fotos abgebildet wurde: Manassisanangu.
„Mehehe Manassisanangu“
Die namentliche Kennzeichnung der menschlichen Überreste von Indigenen war in der Kolonialzeit generell die Ausnahme. Voraussetzung hierfür war, dass demjenigen, der die Gebeine zuerst an sich brachte, die Identität, der Name bzw. die soziale Position der verstorbenen Person – u.U. bereits zu deren Lebzeiten – bekannt war und dass an der Weitergabe der Identität ein Interesse bestand. Beides war meist dann der Fall, wenn es sich um die Gebeine von Funktionsträgern, von höhergestellten Autoritäten oder gar Chiefs einer widerständigen bzw. von der Kolonialmacht besiegten und unterworfenen Gemeinschaft handelte, deren Gebeine klandestin aus Gräbern geraubt, vom Schlachtfeld aufgesammelt oder von der Hinrichtungsstätte entführt und anschließend nach Deutschland transferiert wurden. Dort wurden sie von beteiligten Militärs, Beamten, Siedlern, Missionaren und teils auch deren Ehefrauen als Insignien einer siegreichen Kolonialexpansion, als persönliche Memorabilien oder Trophäen für die Wissenschaft verwahrt.
In den Highlands im mittleren Süden des heutigen Tansania formierten sich die Hehe um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Gesellschaft durch die Vereinigung von verwandten, zuvor selbständigen Gruppen. Chief Mkwawa Munyigumba trieb die Einigung weit voran, so dass sich die Hehe zum wichtigsten politischen Machtfaktor in der Region Uhehe um die Stadt Iringa entwickelten.[4] Als Munyigumba 1879 starb, setzte sein Sohn und Nachfolger Mkwavinyika Munyigumba Mwamuyinga (1855–1898), heute bekannt als Chief Mkwawa, die militärische Expansionspolitik seines Vaters fort.[5] Nachdem Deutschland auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 Ostafrika als Kolonie zugesprochen worden war, drangen die Deutschen Ende der 1880er Jahre von der Küste aus ins Binnenland vor. Die Hehe unter Chief Mkwawa wurden nun über Jahre zum militärischen Haupthindernis für die Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft. Im Oktober 1894 wurden sie von der deutschen Kolonialarmee zwar empfindlich geschlagen, aber politisch noch nicht vollends unterworfen. Denn Mkwawa, der inzwischen zum Reichsfeind Nr. 1 in der Kolonie erklärt worden war, führte fortan einen Guerillakrieg gegen die Kolonialmacht, der erst im Juli 1898 endete, als sich der Chief in aussichtloser Lage selbst erschoss, um der Gefangennahme zu entgehen.[6] Dem Toten wurde der Kopf abgetrennt; der Schädel wurde – so die vorherrschende Erzählung – zu Untersuchungen nach Deutschland verbracht. Im Versailler Vertrag von 1919/20 verlangten die Briten als neue Mandatsmacht in Ostafrika seine Herausgabe, doch kam es erst 1954 zur Restitution eines Schädels aus dem Überseemuseum in Bremen nach Tanganyika. Der vermeintliche Mkwawa-Schädel wird seither in einer Gedenkstätte nahe Iringa aufbewahrt und Mkwawa als bedeutender Held des antikolonialen Widerstandes geehrt.[7]
Nach 1894 oblag die Bekämpfung und Verfolgung Mkwawas und seiner Unterstützer*innen bis zu seinem Tod 1898 der in Iringa stationierten Schutztruppen-Einheit. Hier diente Friedrich Fülleborn (1866–1933) als Stationsarzt. Fülleborn hatte von 1888 bis 1893 in Berlin Medizin und Naturwissenschaften studiert, u.a. bei den Anatomen Wilhelm Waldeyer und Hans Virchow sowie bei dem Anthropologen und Ethnologen Felix von Luschan. 1896 trat Fülleborn der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika bei und nahm seit 1897 als Arzt der 6. Kompanie aktiv an den Kämpfen gegen Wangoni und gegen die von Chief Mkwawa geführten Wahehe teil.[8] 1898 wechselte er zur Militärstation Langenburg am Nyassa-See (heute Malawi-See), ließ sich aber bald beurlauben, um von 1898 bis 1900 die „Nyassa- und Kingagebirgs-Expedition“ zur Erforschung der botanischen und zoologischen Verhältnisse am „nördlichen Ufergelände des Nyassa und dem nordwestlich gelegenen Konde- und Livingstone-Gebirge“ zu leiten. Finanziert wurde das Unternehmen von der Preußischen Akademie der Wissenschaften; der an der Bewilligung beteiligte Rudolf Virchow trug der Expedition ausdrücklich auf, auch „die anthropologischen Verhältnisse“ zu berücksichtigen.[9] Fülleborn kam dem Auftrag Rudolf Virchows nach, indem er „unter den erschwerendsten Bedingungen“ anthropologisches „Material“ zusammentrug[10]: Er vermaß die Körper von „über 200 Individuen“ und fertigte etwa „300 photographische Typen-Aufnahmen“ an.[11] Darüber hinaus erwarb Fülleborn „auf Expeditionen und Kriegszügen“ gegen die Hehe, die bei Sammlern und Anthropologen um 1900 wegen ihrer Widerständigkeit ein besonderes Interesse erregten, und andere Gemeinschaften etwa „fünfundzwanzig Schädel, zwei ganze Skelette, acht Köpfe in Formalin, sieben Gehirne und eine Anzahl Eingeweide-Präparate“.[12]
Vor seiner Rückkehr sandte Fülleborn ethnologische und anthropologische Erwerbungen nach Berlin an Felix von Luschan vom Museum für Völkerkunde, der neben der ethnologischen Museumssammlung auch mehrere große anthropologische Kollektionen kuratierte. Das Museum für Naturkunde, dem Fülleborn seine zoologischen Aufsammlungen zuschickte, leitete jedoch einen Teil der anthropologischen Einsendungen irrtümlich an das Anatomische Institut unter Wilhelm Waldeyer weiter. Dagegen intervenierte Luschan „citissime“: Angesichts des „ausnehmend hohen Werthe[s] dieser Sammlung ist es nöthig, dass sofortig und energisch reclamirt wird“.[13] Am Ende teilten Waldeyer und Luschan die von Fülleborn aus Ostafrika eingesandten menschlichen Überreste untereinander auf. Die Anatomie behielt „eine Reihe von Gehirnen und anderen nassen Präparaten, Köpfen mit den Weichtheilen usw. [...] ferner zwei trockene Schädelkappen, die anscheinend zu den Köpfen und Gehirnen gehören“, sowie „zwei Skelette“.[14] Zu dem in der Berliner Anatomie verbliebenen „Leichenmaterial“ zählte, wie Fülleborn bald darauf festhielt, u.a. der Kopf eines Mhehe, bezeichnet als „Unterhäuptling Manamssawangu“.[15] Darüber hinaus schweigen die Quellen über Manassisanangu (bzw. Manamssawangu[16]). Da Fülleborn ihn als „Unterhäuptling“ (sub-Chief) bezeichnete, ist anzunehmen, dass Manamssawangu eine lokale oder gar regionale politische Autorität unter den Hehe war. Mit dieser Angabe unterstrich der Schutztruppenarzt den Trophäen-Charakter des Kopfes. Sehr wahrscheinlich kam Manassisanangu im Widerstand gegen die Deutschen zu Tode; möglicherweise gehörte er als sub-Chief gar zu Chief Mkwawas Gefolge. Dafür spricht, dass Fülleborn den Namen und die soziale Position Manassisanangus kannte und dass er seinen Kopf bald nach dem Tode präpariert haben musste. Darüber hinaus wissen wir so gut wie nichts über das Leben und Wirken, das Alter, die Familie und die Angehörigen dieses Menschen sowie über den Tag, den Ort und die Umstände von Manassisanangus Tod. Für Fülleborn waren lediglich Körpergröße, Schulterbreite, Wadendicke und Hirngewicht einer Notiz wert. Die einzigen Informationen über Manassisanangu stammen aus der militärischen und wissenschaftlichen Bürokratie, also jenen Institutionen, die an diesem und vielen anderen Menschen vor allem als „Leichenmaterial“ interessiert waren.
In der Berliner Anatomie
Die Fototafeln sind Belege für die Gewalt, die diesen und unzähligen weiteren Menschen in der Kolonie Deutsch-Ostafrika nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch noch über ihren Tod hinaus ihren Leichnamen angetan wurde. Die Tatsache, dass die vom Körper abgetrennten Köpfe später in Berlin fotografiert wurden, stellte nicht nur einen massiven Eingriff in die Würde eines Menschen dar, so dass einem derartigen Abbilden eines Toten heute keinesfalls gefolgt werden kann. Eine solche Abbildungsweise multipliziert auch das Othering der abgebildeten Personen, die „Darstellung von machtlosen ‚Anderen‘ gemäß den Interessen der Mächtigen“[17]. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommene Postmortem-Porträtfotografie, die der Erinnerung an verstorbene Personen diente, verlor, wie Isabel Richter rekonstruierte, gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Bedeutung, vor allem wegen hygienischer Bedenken. Nur im Bereich von Kriminalistik, Krieg und „im Dienst der medizinischen Dokumentation“ blieb sie erhalten.[18] Die Köpfe der Afrikaner befanden sich hingegen, als sie 1906 fotografiert wurden, im Status von Objekten, die der Repräsentation ethnischer Gruppen von Kolonisierten dienten. Dem Ziel einer möglichst authentischen Darstellung nicht der individuellen Menschen, sondern der Gruppen, die sie vermeintlich repräsentierten, diente die nachträgliche Kolorierung der Gesichtspartien auf einigen der Fotos, zählte doch die Hautfarbe zu den markantesten distinktiven „Rassemerkmalen“.
Der Akt des Fotografierens der Köpfe von Afrikanern war, so erinnerte sich eine Absolventin des Lette-Vereins noch Jahrzehnte später, mit einigem Schrecken verbunden.[19] Und doch war dieser Vorgang kein Einzelfall. Vielmehr gab es auch hier eine Vorgeschichte, ebenso wie ein Nachher. Zur Vorgeschichte der fotografischen Darstellung von Afrikanern und anderen indigenen Menschen gehört das Lehrwerk „National-Physiognomien“ von Johann Gottfried Schadow (1764–1850) von 1835 mitanatomischenZeichnungen en face und en profil von Menschen unterschiedlicher Herkunft, darunter von abgeschlagenen Köpfen und präparierten Schädeln von Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern afrikanischer Abstammung, die in den frühen 1830er Jahren in die anatomische Sammlung der Berliner Universität gelangt waren.[20]
Knapp vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Schadows Werk erhob der Anthropologe Gustav Fritsch (1838–1927) diese Form des Doppelporträts zum Standard der anthropologischen Porträtfotografie. Fritsch wirkte von 1867 an über Jahrzehnte an der Berliner Anatomie, zuvor reiste er von 1863 bis 1866 drei Jahre lang von Kapstadt aus durch den Oranje Vrij Staat, Natal (heute Teile von Südafrika) und das Betchuanaland (Botswana).[21] Von dieser Reise brachte er nicht nur etliche Schädel, Skelette und anthropologische Messdaten von Indigenen in die Berliner Anatomie mit,[22] sondern auch unzählige Porträtfotografien von indigenen Menschen aus dem Süden Afrikas. Ganze Aufnahmeserien fertigte Fritsch von Gefangenen auf der Gefängnisinsel Robben Island an.[23] Abzüge seiner Fotografien befinden sich heute zuhauf in der Fotosammlung der BGAEU, die er 1869 mitbegründete. Seither galt er als Pionier der anthropometrischen Fotografie.
Fritsch postulierte 1871, dass frühere zeichnerische „Abbildungen aussereuropäischer Völker“ unbefriedigend seien, da „allerhand Beiwerk“ die „charakteristischen Formen“ verdecke und „schräge Ansichten […] nur ein unvollkommenes Urtheil über die physiognomischen Verhältnisse erlauben“ würden. Die neue Technik der Fotografie biete hier „ausreichende Abhülfe“ bei Beachtung folgender Grundsätze: „Gerade Projectionen sind für physiognomische Darstellungen unerlässlich, bei den Köpfen muss Vorder- und Seitenansicht gegeben werden; malerischer Effect ist zu vermeiden, Kopf und Brust soll möglichst entblösst sein; die Grösse [solle] nicht unter 1/8 natürlicher Grösse“ sein. [24] Fritsch wies zudem auf den Vorteil hin, den fotografische Darstellungen für anatomische und anthropologische Untersuchungen böten: Sie erlaubten „Messungen […], welche am Lebenden wegen der Beweglichkeit und Verschiebbarkeit der Weichtheile kaum mit der Sicherheit ausgeführt werden können.“[25]
Waren Fritschs Anweisungen von 1871 noch auf Fotografien von lebenden Menschen bezogen und bewegten sich somit im Grenzbereich zwischen Ethnologie und biologischer Anthropologie, hatten die Aufnahmen in der Berliner Anatomie am Beginn des 20. Jahrhunderts diese Grenze überschritten. Fritschs Grundsätze galten nun für Aufnahmen von Köpfen toter Menschen – wenn auch nicht explizit, so doch in der Praxis – vor allem nichteuropäischer Herkunft. Ihnen gegenüber war die Hemmschwelle offenbar niedriger, die neuartigen Möglichkeiten der avancierten fotografischen Technik, die ja immer der Chimäre einer abbildbaren ‚Lebensechtheit‘ nachjagte, breit anzuwenden. Proteste aus den eigenen Reihen waren nicht zu erwarten.
Hiervon zeugen, neben den hier besprochenen Fotografien Marie Kundts vom Lette-Verein, weitere, teils damals publizierte Aufnahmen. Christian Fetzer, Doktorand am Berliner Anatomischen Institut, erhielt vom dortigen Privatdozenten Paul Bartels die Aufgabe, die Gesichtsmuskulatur der Köpfe von Nama zu untersuchen und mit der von Europäern zu vergleichen. Die Menschen, denen die Köpfe zuvor gehörten, waren während des deutschen Kolonialkrieges in Deutsch-Südwestafrika gegen Herero und Nama 1904–1908 in einem Konzentrationslager auf der Haifischinsel interniert und infolge der katastrophalen Lebensbedingungen verstorben. Im Lazarett des Lagers hatten deutsche Militärärzte die Köpfe von den Leichen abgenommen, in Formalin konserviert und für „rassenanthropologische“ Forschungszwecke an die Berliner Anatomie versandt. Zur Untersuchung Fetzers gehörte, dass zuerst „jeder Kopf zweimal photographiert [wurde], im Profil und en face (in halber natürlicher Größe). Diese Photographien ließ mir Herr Geheimrat [Hans] Virchow im Atelier des Anatomischen Instituts […] herstellen.“[26] Es entstand eine Serie von mindestens 13 Doppelfotografien auf 13 x 18-Glasplatten, von denen drei in einem Artikel Fetzers von 1913/14 erschienen. Die aus ihnen sprechende vorausgegangene Gewalt und objektifizierende Brutalität steht der der von Marie Kundt angefertigten Porträts in nichts nach.
Wie Bartels und Fetzer interessierte sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts auch Hans Virchow dafür, ob sich „Rassenunterschiede“ in der Gesichtsmuskulatur feststellen ließen. Für die Untersuchung dieser Frage hatten koloniale Netzwerke mittlerweile einiges „Material“ aus den deutschen Kolonien und anderen Teilen der Welt in das Anatomische Institut gelangen lassen. In diesem Forschungskontext entstanden 1906 in Kooperation zwischen der Berliner Anatomie und dem Lette-Verein jene Bildtafeln, die sich nun im Ethnologischen Museum befinden. Virchow publizierte im Anschluss mehrfach über die „Rassenmerkmale“ in der Gesichtsmuskulatur; für seine letzte diesbezügliche Publikation von 1927 präparierte er u.a. den Kopf von Sub-Chief Manassisanangu und lobte hierbei Fülleborn: „Es ist dies einer von mehreren Ost-Afrikaner-Köpfen, welche Herr Fülleborn, als er Arzt in der Schutztruppe war, übersendet hat. Wie alle Köpfe dieser Herkunft war er vorzüglich konserviert und hatte eine kräftige feste Muskulatur. Ich hebe das besonders hervor, denn die präparatorische Aufgabe, mit der wir es hier zu tun haben, ist von solcher Feinheit, daß sie nicht nur eine weit größere Sorgfalt erfordert, als gewöhnlich auf Gesichtsmuskeln verwendet zu werden pflegt, sondern auch vorzüglich vorbehandeltes Material. Die Muskeln müssen einen gewissen Grad von Steifigkeit, von Trockenheit haben, so daß sie in ihren Formen, in ihrer Lage stehenbleiben, denn es kommt sozusagen auf Feintopographie an.“ [27] Von einem gleichen Forschungskontext zeugt eine weitere Serie von 16 Glasnegativen mit ganz ähnlichen, wenngleich einzelnen „Porträts“, die zwischen 1910 und 1913 entstand und kürzlich in der Berliner Anatomie „wiederentdeckt“ wurde. Sie zeigt im Prozess der Präparation befindliche Köpfe von Menschen aus China, Kamerun, Namibia sowie von nicht näher bezeichneten Afrikanern. Zu letzteren zählt ein Kopf, der eine große Ähnlichkeit mit Manassisanangu aufweist. Als Präparator wurde mehrfach Gustav Fritsch notiert, einmal ein „Herr Witte“. Fotos von präparierten Köpfen von Europäern sind hingegen nicht überliefert.
Nachgeschichte
Zur Nachgeschichte derartiger Porträts gehört aber auch die Aneignung des kolonialen Bildmaterials durch Gemeinschaften im postkolonialen Afrika, beispielsweise der Herero und Nama in Namibia. Im Diskurs um politische Teilhabe innerhalb Namibias, aber auch in der Auseinandersetzung mit Deutschland um den Umgang mit den Folgen des Völkermords vermochten sie, die objektifizierende Bildsprache über die Opfer des Genozids umzudrehen und die aus den Porträts sprechende Klage gegen ihre Urheber zu richten. Seit etwa 2004 forderten Herero- und Nama-Gemeinschaften immer lauter zunächst die Rückgabe der menschlichen Gebeine ihrer Angehörigen[28], damit zusammenhängend die Öffnung der deutschen Archive und Sammlungen, sowie von der deutschen Regierung eine Entschuldigung und Entschädigung für den Völkermord. Zugleich eigneten sie sich eine eigene Deutungshoheit über die Relikte der kolonialen Vergangenheit an. Als namibische NGOs ihre Forderungen nach Berlin trugen, wurden die Porträts der toten Nama aus Fetzers Publikation zu ikonografischen Evidenzen für den Genozid der deutschen Kolonialmacht an den Herero und Nama. Die trotz der Brutalität aus den Porträts hervorscheinende Individualität der Afrikaner verhinderte die endgültige Objektifizierung der Fotografien zu anatomischen Anschauungsmaterialien. Die Opfer des kolonialen Völkermords bekamen ein Gesicht.
In der Debatte um einen angemessenen Umgang mit dem Kulturgut aus kolonialen Kontexten in den deutschen und europäischen Museen stellen die vorgestellten Porträts eine Herausforderung dar. Das Gebot zur Öffnung der Depots kreuzt sich hier mit dem Gebot des sensiblen Umgangs. Die sich in den Aufnahmen manifestierende Objektifizierung von individuell erkennbaren Menschen verbietet u.E. die Reproduktion der Porträts. Daher verzichten wir auf die vollständige Wiedergabe dieser Fotografien und beschränken uns auf historisch relevante Details am Rand einer Fototafel, die den Kontext erschließen. Für andere Hinterlassenschaften der kolonialen Sammelwut mögen andere Lösungen angemessen sein. Die Herausforderung wird dabei sein, bislang eingeübte, meist hierarchisierende Perspektiven zu überwinden und nicht länger die Verfügungs- und Deutungshoheit zu reklamieren. Auch Bilder können bestattet werden.
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[1] Richard Neuhauss (1855–1915), Arzt, Anthropologe, 1894–1907 Herausgeber der Photographischen Rundschau, 1904–1915 Kustos der Fotosammlung der BGAEU, Förderer der Fotografie. Siehe Markus Schindlbeck: Neuhauss, Richard Gustav, in: Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, S. 128f.
[2] Christian Andree: Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869–1969, in: Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869–1969, T. 1, Berlin 1969, S. 131; Vorwort, in: Findbuch Korrespondenz zum Bildarchiv / zu Fotografien der BGAEU von 1880 bis 1943, Bd. XIV, T. 3, Berlin 2000.
[3] Laut dem von Neuhauss angelegten „Verzeichnis der Photographien der Berliner Anthropologischen Gesellschaft“, T. II (Ethnologisches Museum Berlin) handelte es sich um eine Serie von ursprünglich elf Tafeln. Die drei hier fehlenden Tafeln zeigten Köpfe von Ostafrikanern.
[4] Alison Redmayne: Mkwawa and the Hehe wars, in: Journal of African History, vol. IX/3, 1968, S. 409-436, hier S. 410; Ernst Nigmann: Geschichte der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, Berlin 1911, S. 32.
[5] Redmayne, (Anm. 4), S. 411–414.
[6] Martin Baer, Olaf Schröter: Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika. Spuren kolonialer Herrschaft, Berlin 2001, S. 49–60.
[7] Bettina Brockmeyer, Frank Edward, Holger Stoecker: The Mkwawa complex: A Tanzanian-European history about provenance, restitution, and politics, in: Journal of Modern European History, 18(2), 2020, S. 117–139.
[8] Friedrich Fülleborn: Über seine Reisen im Nyassa-Gebiet, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1900/7, S. 371.
[9] Adolf Engler, Karl Möbius, Franz E. Schulze, Oskar Hertwig, Wilhelm Waldeyer, Simon Schwendener, Rudolf Virchow an das Kuratorium der Wentzel-Heckmann-Stiftung, 1.6.1897, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Archiv, Historische Abteilung, Abschnitt II, Heckmann-Wentzel-Stiftung, II-XI, 48.
[10] Friedrich Fülleborn: Beiträge zur physischen Anthropologie der Nord-Nyassaländer. Anthropologische Ergebnisse der Nyassa- und Kingagebirgs-Expedition, Berlin 1902, S. 1.
[11] Friedrich Fülleborn: Das Deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, Berlin 1906, S. 535.
[12] Fülleborn, (Anm. 10), S. 1. Die Provenienz eines Teils dieser menschlichen Überreste wurde 2018/19 am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité erforscht; ihre Rückführung nach Tansania wird gegenwärtig vorbereitet. Der Verbleib der fotografierten Köpfe bzw. der von ihnen präpartierten Schädel konnte jedoch nicht geklärt werden.
[13] Luschan an die Direktion des Museums für Völkerkunde, 19.12.1898, in: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ethnologisches Museum, Archiv (SMB-EM), I/MV 720, E 1120/98, Bl. 156.
[14] Luschan an Waldeyer, 16.1.1899, in: ebd., Bl. 159.
[15] Fülleborn, (Anm. 10), S. 15.
[16] Lokale Namen oder Ortsbezeichnungen wurden in zeitgenössischen Notaten von meist sprachunkundigen Europäern oft nur lautmalerisch wiedergegeben. Bei der Übertragung dieser Begriffe in andere Medien und Sammlungsverzeichnisse entstanden weitere Varianten. Abweichende Schreibweisen von indigenen Namen waren daher nicht ungewöhnlich.
[17] Andre Gingrich: Othering, in: ders., Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll (Hg.): Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011, S. 323.
[18] Isabel Richter: Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010, S. 291.
[19] Charlotte Winkler: Geheimrat Prof. Dr. Hans Virchow †, in: Die technische Assistentin, 7. Jg., 1940, S. 69-70.
[20] Johann Gottfried Schadow: National-Physiognomien, oder Beobachtungen über den Unterschied der Gesichtszüge und die äußere Gestaltung des menschlichen Kopfes, Berlin 1835, Tafeln III und VIII, in: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke; Bénédicte Savoy: National-Physiognomien, in: Wilhelm und Alexander von Humboldt [Ausstellungskatalog], hg. von David Blankenstein, Bénédicte Savoy, Raphael Gross, Arnulf Scriba, Berlin 2019, S. 204.
[21] Gustav Fritsch: Drei Jahre in Süd-Afrika. Reiseskizzen nach Notizen des Tagebuchs zusammengestellt, Breslau 1868.
[22] Gustav Fritsch: Die Eingeborenen Süd-Afrika’s. Ethnographisch und anatomisch beschrieben, Breslau 1872.
[23] Keith Dietrich, Andrew Bank (eds.): An eloquent picture gallery. The South African portrait photographs of Gustav Theodor Fritsch, 1863-1865, Auckland Park/South Africa 2008.
[24] Gustav Fritsch: Die Bedeutung physiognomischer Darstellungen, in: Zeitschrift für Ethnologie, Jg. 4, 1872, Verhandlungen, S. (11)-(12). – In Paris führte 1891 der Kriminalist Alphonse Bertillon (1843–1914) für die Aufnahmen en face und en profil von Delinquenten eine maßstabsgetreue Verkleinerung im Verhältnis 1:7 ein.
[25] Ebd. Siehe auch Michael Hagner: Mikro-Anthropologie und Fotografie. Gustav Fritschs Haarspaltereien und die Klassifizierung der Rassen, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 252–284; Michael Hagner: Das Fritsch-Projekt. Anthropologische Fotografie und kulturelles Gedächtnis, in: Fotogeschichte, H. 112, 2009, S. 57-54.
[26] Christian Fetzer: Rassenanatomische Untersuchungen an 17 Hottentottenköpfen, in: Zeitschrift für Morphologie und Anatomie, Jg. 16, 1913/14, S. 95 f.
[27] Hans Virchow: Die Anomali des Mittelgesichts, in: Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, Bd. 84, 1927, H. 5–6, S. 555–596, hier S. 569 f.
[28] Rückgaben an Namibia 2011, 2014 und 2018, darunter die von Fetzer untersuchten Gebeine; vgl. Holger Stoecker, Andreas Winkelmann: Skulls and skeletons from Namibia in Berlin. Results of the Charité Human Remains Project, in: Human Remains and Violence, Volume 4: Issue 2, DOI: https://doi.org/10.7227/HRV.4.2.2. 2018.
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