Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Sophie Junge

Fotografie und Kolonialismus. Editorial

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 162, 2021

 

Fotografie und Kolonialismus – das ist ein weitgestecktes Forschungsfeld. Die postkoloniale Forschung hat die Wechselwirkungen von Fotografie und Kolonialismus umfassend thematisiert: Die repressive Kraft fotografischer Aufnahmen, die Menschen stereotypisieren und soziale Konflikte verschleiern, Land kartografieren und sich dadurch zu eigen machen, ist vielfach aufgedeckt worden.[1] Dennoch sind genau diese Fotografien in westlichen Archiven für foto- und kunsthistorische, ethnologische und anthropologische Forschungen grundlegende Materialsammlungen. Oftmals sind sie die einzigen Quellen; nur durch die Linse europäischer FotografInnen bleiben ehemals kolonialisierte Orte sichtbar, auch wenn Kenntnisse über den Entstehungskontext der Aufnahmen in den meisten Fällen verloren gegangen sind.

In den aktuellen Debatten über die Restitution von Kulturgütern aus europäischen Museumssammlungen spielen Fotografien dennoch nur eine untergeordnete Rolle und das, obwohl sie ein wichtiger Bestandteil derselben Sammlungen sind und bis heute zur Dokumentation und Klärung von Provenienzen genutzt werden. Mit Blick auf die Fotografie als ein reproduzierbares und simultan zirkulierendes Medium muss man die Forderungen aus der Translokationsforschung umformulieren.[2] Fragen nach der Ikonografie, Provenienz, nach historischen und aktuellen Besitzverhältnissen müssen anders gestellt werden: Welche Auswirkungen hat die zunehmende digitale Verfügbarkeit von Sammlungen auf die Deutung der Bilder und die abgebildeten Personen? Dürfen Fotografien, die in einer traumatischen und gewaltvollen Aufnahmesituation entstanden sind, öffentlich zur Schau gestellt werden oder müssen sie institutionell geschützt bleiben? Welche politische Verantwortung geht mit der Erforschung und Sichtbarmachung von Fotografien ehemals kolonialisierter Menschen, Länder und Regionen einher? Und wie können wir in den Blick nehmen, was Archive nicht bewahren und Fotografien nicht abbilden?[3]

Diese Fragen haben sich alle AutorInnen des Bandes gestellt. Sie plädieren für eine Deutung kolonialer Fotografiebestände als eigenständiges kulturelles Erbe. Während ihre Beiträge auf den ersten Blick vielstimmig und heterogen erscheinen, verbindet sie das Bestreben, die eigene Interpretation, die Wirkungsmacht und die politische Verantwortung europäischer Archive kritisch zu hinterfragen. Sie sind versiert im Aufdecken kolonialer Bildstrategien; aber sie legen ihren Fokus weniger auf die kolonialen Bildgeschichten einzelner Regionen und Länder, sondern widmen sich der (Un-)Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Deutungshoheit in Sammlungsbeständen und Ausstellungen. In allen Beiträgen spiegelt sich dabei der Wunsch, binäre Deutungsmuster aufzubrechen und die Fotografien nicht nur auf ihren kolonialen Gehalt zu reduzieren. Der Dialog mit zeitgenössischen KünstlerInnen, die Dekonstruktion institutioneller Wirkungsmacht oder der Blick auf die digitale Zirkulation historischer Fotografien ermöglicht, diese Deutungsmuster zu erweitern und das zu erproben, was Ariella Azoulay als eine „potential history“ bezeichnet: eine vielstimmige Geschichte, die Fotografien aus ihrer rein kolonialen Lesart herauslöst und neue – belegbare, fiktive oder potentielle – Geschichtsnarrative schafft.[4]

So diskutieren Liesbeth Ouwehand und Alexander Supartono im Gespräch mit Sophie Junge die digitale und analoge Verfügbarkeit von Fotografien in europäischen Sammlungen und deren anhaltende Entscheidungsmacht über die (Un-)Sichtbarkeit kolonialer Bildbestände. Nanina Guyer reflektiert die Vielstimmigkeit in der von ihr ko-kuratierten Ausstellung Fiktion Kongo im Museum Rietberg Zürich. Sie zeigt, wie der Dialog zwischen zeitgenössischen KünstlerInnen aus dem Kongo und den historischen Fotografien des deutschen Ethnologen und Kunsthändlers Hans Himmelheber postkoloniale Deutungen erweitert. Einen Dialog führen auch Aimée Bressire, Halfan Hashim Magani und Erin Hyde Nolan als KuratorInnen zweier Ausstellungen in Minneapolis und Dar es Salaam. Ihr Beitrag widmet sich den Deutungspotenzialen der 2017 wiederentdeckten Fotografien des US-Fotografen Todd Webb, die der Fotograf 1958 auf einer Afrikareise im Auftrag der UN aufnahm. Jagoda Kamola nimmt den Transfer von Leni Riefenstahls Nachlass in die Staatlichen Museen zu Berlin zum Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten zwischen der deutschen Kolonialvergangenheit und dem Nationalsozialismus. Anhand Riefenstahls Fotoprojekten zu den Nuba und Unterwasseraufnahmen von Korallenriffen zeigt Kamola, wie koloniale, rassistische und nationalsozialistische Ideologien in ihren Werken bis in die 1990er Jahre fortleben.[5] Auch Anne D. Peiter verbindet ihre Analyse von Fotografien befreiter SklavInnen im Nationalarchiv der Seychellen mit Deutungsansätzen aus der Holocaust-Forschung. Unter dem Begriff der Patina diskutiert sie die Semantik von sichtbar zerstörten fotografischen Oberflächen. Diese Patina markiert die historische Zeugenschaft der Fotografien, aber sie setzt sie auch der Gefahr aus, auf den ästhetischen Gehalt dieser aus der künstlerischen Praxis bekannten Patina reduziert zu werden, statt die Fotografien als Teil einer Geschichte kolonialer Gewalt anzuerkennen. Abschließend diskutiert Sophie Junge die Deutungshoheit des unwissenden Archivs. Ausgehend von einem Fotoalbum aus Java und Sumatra von 1896, das sich heute im Besitz des Völkerkundemuseums der Universität Zürich befindet, lotet der Beitrag das politische Potenzial dieses Nicht-Wissens aus, das den kolonialen Gehalt von Objekten eher verschleiert als ihn aufdeckt.

Für alle AutorInnen ist die Reflektion der eigenen Begegnung mit dem Bildmaterial, das Offenlegen ihrer Standorte, Forschungskontexte und Privilegien grundlegend – und das betrifft Zugänglichkeiten und die Autorität ihrer Deutung. In dieser Standortbestimmung spiegelt sich eine Bescheidenheit, die für die Auseinandersetzung mit kolonialen Fotografiebeständen zentral ist. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass nicht nur unsere fotohistorische Arbeit, sondern unsere globale Welt bis heute vom europäischen Kolonialismus durchdrungen ist. An den Standorten der AutorInnen – in Berlin, Dar es Salaam, Edinburgh und Leiden, in Portland, St. Denis auf La Réunion und in Zürich – sind die Auswirkungen des Kolonialismus dabei unterschiedlich spürbar. Die Fähigkeit, koloniale Ideologien aufzudecken, ist an allen diesen Standorten relevant ist, um kolonialhistorische Verstrickungen offenzulegen und politische Ikonologien in der uns heute umströmenden Bilderflut zu verstehen.

Das vorliegende Themenheft ist während der andauernden Covid-19-Pandemie entstanden, in der die Zugänglichkeit von Forschungsmaterialien eingeschränkt, die Kreativität durch Lockdowns und berufliche Unsicherheiten gedämpft und die Care-Arbeit massiv zugenommen hat. Dass alle AutorInnen dennoch so profunde Analysen vorlegen, ist bemerkenswert. Ich danke ihnen dafür ganz besonders.

--------------------

[1] Siehe David Bate: Photography and the Colonial Vision, in: Third Text, 7. Jg., Heft 22, 1993, S. 81–91; Elizabeth Edwards: Anthropology and Photography, 1860–1920, New Haven/London 1992; James R. Ryan: Picturing Empire. Photography and Visualization of the British Empire, Chicago 1997; John Tagg: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, London 1988.

[2] Siehe Bénédicte Savoy: Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018.

[3] Patricia Hayes: Empty Photographs, Ethnography and the Lacunae of African History, in: Dies., Gary Minkley (Hg.): Ambivalent. Photography and Visibility in African History, Athens 2019, S. 56–76.

[4] Ariella Aïsha Azoulay: Potential History. Unlearning Imperialism, London 2019.

[5] Kamola greift hier die aktuelle Diskussion um die Kontinuitäten von Kolonialismus und Holocaust auf, die auch im deutschen Feuilleton geführt wird. Siehe Thomas Schmid: Der Holocaust war kein Kolonialverbrechen. Aktivismus und Wissenschaft gehören nicht zusammen. Eine Erwiderung auf Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer, in: Die Zeit, 8.4.2021.

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

173

Fotokampagnen

Bilder im Einsatz

Franziska Lampe (Hg.)

Heft 173 | Jg. 44 | Herbst 2024

 
172

Vermessene Bilder

Von der Fotogrammetrie zur Bildforensik

Mira Anneli Naß, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 172 | Jg. 44 | Sommer 2024

 
171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018