Die Magie der Fotografie
Ein Gespräch mit der Ethnologin Heike Behrend
Erschienen in: Fotogeschichte 162, 2021
Ende 2020 erschien Heike Behrends autobiografischer Band Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung bei Matthes & Seitz. Schon einen Monat später schaffte es das Buch auf Platz eins der renommierten Sachbuch-Bestenliste, die von 30 Kritikerinnen und Kritikern von ZDF, Deutschlandfunk und DIE ZEIT zusammengestellt wird. Im Frühjahr 2021 wurde es für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert, wenig später gewann es den Preis der Leipziger Buchmesse. Das glänzend geschriebene Buch, das inzwischen weit über die Fachszene hinaus große Anerkennung gefunden hat, ist mehr als die intellektuelle Autobiografie einer renommierten Ethnologin und Afrikanistin. Die Autorin wirft auch einen spannenden Blick hinter die Kulissen der ethnologischen Praxis und Theorie der letzten Jahrzehnte. Aus Missverständnissen und Fehlern, so sagt Behrend, habe sie oft mehr gelernt als aus strikten theoretischen Vorgaben. Den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift Fotogeschichte ist Heike Behrend bestens vertraut. Immer wieder hat sie in den letzten Jahren über die Themen Fotografie und Ethnologie geschrieben. Einige zentrale Überlegungen ihrer jüngsten Publikation kreisen um das Medium Fotografie. Da diese Gedanken nicht nur für die visuelle Ethnologie bzw. die Medienanthropologie, sondern für die gegenwärtige Fotoforschung insgesamt überaus anregend sind, haben wir Heike Behrend zum Gespräch gebeten.
Anton Holzer: Sehr geehrte Frau Behrend, fotografieren Sie selbst?
Heike Behrend: Ja, ich habe auch fotografiert, aber sehr wenig, so wenig, dass mein Sohn sich beklagt hat, dass er als Kind zu wenig fotografiert worden sei. Für ihn war das Fotografiertwerden eine Form, Aufmerksamkeit zu erhalten und geliebt zu werden. Ich muss gestehen, dass ich an einen solchen Zusammenhang damals nicht gedacht habe. Im Gegenteil, ich stand den Positionen von Hartmut Bitomsky und Harun Farocki näher, die zur Zeitschrift Filmkritik gehörten und die Ansicht vertraten, dass es bereits genug Bilder auf der Welt gäbe. Beide haben großartige Filme hergestellt, indem sie zum Beispiel die Bilder von Überwachungskameras übernahmen, das fremde Filmmaterial schnitten und dazu einen kritischen, essayistischen Kommentar verfassten. Obwohl ich während meiner ersten ethnografischen Forschung oft eine Minox bei mir trug, habe ich in Afrika „im Feld“ nur selten fotografiert. Die aufgenommenen Fotos hatten eher den Status von Erinnerungshilfen oder Notizen, die mir das spätere Schreiben erleichtern sollten. Ich hatte nie den Anspruch „schöne“ Fotos zu machen. Aber ich hatte das Glück, dass großartige Künstler mich „im Feld“ besuchten, so die Kamerafrau und Fotografin Hille Sagel in den Tugenbergen in Kenia und der Videokünstler und Fotograf Armin Linke in Westuganda. Ihre Bilder haben eine ganz andere Qualität. Einmal habe ich auch mit einer Polaroid Kamera gearbeitet, weil sie mir erlaubte, die fertigen Fotos sofort als Geschenk an die Fotografierten zu geben.
Kann man Sie als Sammlerin, als Fotosammlerin bezeichnen?
Ja, unbedingt! Nachdem ich 1982 in Kenia in einer Kleinstadt auf dem Weg in die Tugenberge zufällig das „BERLIN Studio“ entdeckt hatte und der Eigentümer Herr Kamau ein Freund wurde, habe ich angefangen, Fotos, die von Studiofotografen in Afrika gemacht worden waren zu sammeln. Tatsächlich war die Beschäftigung mit afrikanischen Fotografen, ihren Bildern und Praktiken zu dieser Zeit innerhalb der Ethnologie nicht üblich. Erst Anfang der 1990er Jahre bildete sich im Rahmen einer Medienanthropologie auch eine neue internationale Ethnografie der Fotografie heraus. Über die Schwierigkeiten meiner Sammeltätigkeit in Kenia habe ich im Buch ausführlich berichtet. Denn durch meinen Versuch, in anderen Studios Fotos, vor allem Porträts, zu kaufen, schloss ich an die problematische koloniale Geschichte des ethnografischen Sammelns an. Ich stieß auf Misstrauen und Ablehnung. Erst wenn ich die Fotografen besser kannte, wenn aus mir, der Fremden, eine Bekannte oder Freundin geworden war, verkauften sie mir meist übriggebliebene, nicht abgeholte Fotos. Meist verkauften sie mir erst dann Fotos, wenn sie mich fotografiert hatten und wir durch einen Austausch von Bildern aneinandergebunden waren. Manchmal bestanden sie auch darauf, mit mir zusammen aufgenommen zu werden. Es war, als ob wir dadurch, dass wir den fotografischen Bildraum teilten, eine Art sozialen Vertrag abgeschlossen hätten. Meine Zustimmung zu einer solchen Fotografie war auch die Zustimmung zur Sichtbarmachung unserer sozialen Beziehung; und erst wenn unsere Verbindung in ein Foto eingeschrieben war, erlaubten sie mir, Fotos von anderen zu erwerben.
Sie berichten in Ihrem Buch, dass Sie sich in ihrer Ausbildung intensiv mit dem Film beschäftigt haben. Die Fotografie nimmt in ihrer Forschung aber eine mindestens ebenso große, wenn nicht sogar größere Rolle wie der Film ein. Stimmt der Eindruck, dass Sie nicht durchs Studium, sondern eher durch Zufälle und durch Begegnungen vor Ort zur Fotografie gekommen sind?
Ja, wie bereits erwähnt, spielte der Besitzer und Fotograf des „Berlin Studio“ in Nakuru eine wichtige, initiierende Rolle. Gleichzeitig trieb mich auch eine gewisse Empörung darüber an, dass Kunsthistoriker und Ethnologen Frauen und Männer in Afrika auf kolonialen Fotos zwar zum Objekt ihrer zum Teil sehr kritischen Forschung gemacht, aber dabei völlig übersehen hatten, dass diese sich längst in Subjekte verwandelt hatten, die die Kamera in die Hand genommen und eigene und höchst eigenwillige fotografische Traditionen erschaffen hatten. Und – sehr wichtig – ich fand in Kollegen und Kolleginnen wie Tobias Wendl, Jean-Francois Werner, Erika Nimis, Kerstin Pinther und Margrit Prussat Gleichgesinnte, die vor allem in Westafrika fotografische Praktiken erforschten, sodass wir zusammen 1998 eine erste Ausstellung organisieren und den Katalog „Snap me One“ veröffentlichen konnten.
Mittlerweise gibt es eine internationale Medienanthropologie und als Teil von ihr eine „Ethnografie der Fotografie“, ein neues Feld des Forschens und Wissens über fotografische Diskurse und Praktiken überall auf der Welt. Diese neuen Forschungen haben dazu beigetragen, den westlichen Diskurs über Fotografie zu relativieren und zu dezentrieren. Dafür war es höchste Zeit. Denn die Fotografie ist nicht nur ein globales Medium, das von Anfang an nationale und kontinentale Grenzen überschritten hat; sie entstand auch durch wechselseitige Aneignungen aus verschiedenen Kulturen. Die Camera Obscura zum Beispiel haben die Chinesen „erfunden“ und über den arabischen Gelehrten Alhazen gelangte sie ins Italien der Renaissance.
Das Faszinierende und Spannende an Ihren Überlegungen zur Fotografie ist, dass Sie viele Gewissheiten der westlichen Fototheorie hinterfragen und oft auch radikal auf den Kopf stellen. Ein Beispiel: Im Westen fokussieren die fotografischen Theorien sehr stark auf die Kraft des Lichts. Sie hingegen haben die Abwesenheit des Lichts, den Schatten als Grundelement des Bildes ins Spiel gebracht.
Das ist das Wunderbare an der Ethnologie, dass sie, wie schon Michel Foucault bemerkt hat, westliche Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten auch über das Medium der Fotografie sabotiert. Durch Zufall erfuhr ich, dass die Ältesten in den Tugenbergen in Kenia, mit denen ich in den 1980er Jahren Gespräche führte, Fotografien als „Schatten“ bezeichneten, während die jungen Leute dafür das englische Wort „picture“ benutzten. Ich begann darüber nachzudenken, was das für eine allgemeine Fototheorie bedeuten könnte. Ich kannte bereits Tanizaki Jun’ichiros „Lob des Schattens“, den Entwurf einer japanischen Ästhetik des Schattens. Tatsächlich hatte bereits William Henry Fox Talbot die Fotografie nicht nur als Lichtschrift oder Lichtzeichnung, sondern auch als Skiagrafie, als Schreiben mit dem Schatten, bezeichnet. Doch die schattige Seite der Fotografie wurde im Verlauf der westlichen Geschichte weitgehend vernachlässigt, während Licht und die Vorstellung von Transparenz für die Konzeption analoger Fotografie immer mehr in den Vordergrund traten. Auch die technischen Wissenschaften interessierten sich mehr für das Licht, dem sie das Potential zur Übertragung von Energie und Informationen zusprachen.
Die Konzeption des Fotos als materialisierter Schatten war (in Kenia) Ausdruck einer im Verschwinden begriffenen lokalen Ästhetik (der Ältesten), die weniger Helligkeit und Licht, als vielmehr die Widerständigkeit gegen das Licht ins Zentrum rückte und verschiedene Grade von Dunkelheit und Opazität unterschied. Wie mir der Älteste Aingwo erklärte, waren jedoch die „dunklen Stellen“ nicht nur negativ, sondern positiv konnotiert. Obwohl – wie auch in anderen Regionen Afrikas – das Wort Schatten auch die Ahnen, d.h. die Toten, einschloss, gewährte die Dunkelheit des Schattens Schutz (vor der Sonne), Zuflucht und Kühle. Während der Blick ins Licht eine Blendung hervorrufen kann, bringt der Blick auf den Schatten die Relationen zum Ausdruck, denen er unterworfen ist. Später stieß ich auf Eduard Glissants Forderung (in Poetics of Relations), Schatten, Dunkelheit und Opazität positiv zu bewerten, eine Forderung, die sich mit der Sichtweise der Ältesten in den Tugenbergen traf. Vor diesem Hintergrund wäre ein Foto eben nicht nur als Lichtbild, sondern auch als Schattenbild zu lesen.
„Kameras sind Schachteln für den Transport von Erscheinungen“. Mit diesem wunderbar einfachen und zugleich vielschichtigen Bild hat der englische Schriftsteller und Kritiker John Berger einmal die Fotografie umschrieben. Ausgangs- und Rohmaterialien des Mediums sind für ihn – neben dem Apparat – nur Licht und Zeit. Sie würden diese These, aufgrund Ihrer ethnografischen Forschungen, wohl etwas anders formulieren, nehme ich an. Fotografie sind demnach nicht nur Licht-, sondern auch Schattenbilder.
Das schöne Zitat von John Berger kannte ich nicht. Und Ja, wie Sie vermuten, würde ich dem Schatten und den wechselseitigen Verflechtungen und Verteilungen von Schatten und Licht in der Fotografie mehr Aufmerksamkeit schenken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die sich als modern und global verstehenden jungen Fotografen an der ostafrikanischen Küste wiederum darauf achteten, dass die fotografierten Personen keinen Schatten werfen. Tatsächlich konnte man das Foto zurückgeben, wenn sich ein Schatten auf dem Bild zeigte. Offensichtlich war hier eher eine Vorstellung von Schatten wirksam, die ihn mit dem Tod in einen Zusammenhang brachte. In zahlreichen afrikanischen Sprachen werden Ahnen, die eigenen Toten, wie bereits erwähnt, auch als Schatten bezeichnet. Eine transkulturelle Geschichte über das Verhältnis von Tod, Schatten und Licht in der Fotografie, die diesen Ambivalenzen nachgeht, wäre noch zu schreiben.
Neben dem Licht und der Zeit gibt es, so lernen wir aus Ihren Überlegungen, noch andere Elemente, die beim Bildermachen eine Rolle spielen, etwa das Moment der Berührung, die Magie, das Wunder …
Ich habe mich intensiv mit dem Verhältnis von Fotografie und Magie beschäftigt, nicht nur in Afrika, sondern auch bei uns. In Kenia wurden fotografische Porträts spätestens seit 1950 in Praktiken des Heilens und Schadens integriert, insbesondere in Praktiken des Liebeszaubers. Es war mir wichtig, die simple koloniale Opposition „westliche Wissenschaft versus afrikanische Magie“ aufzulösen. Deshalb las ich Reise- und Forschungsberichte über Afrika aus dem 19. Jahrhundert, um mehr über die sozialen Bedingungen zu erfahren, unter denen westliche Reisende das Medium der Fotografie eingesetzt hatten. Es stellte sich heraus, dass sie oftmals die Kamera weniger als wissenschaftliches Gerät zur Aufzeichnung der lokalen Verhältnisse und Menschen benutzten. Stattdessen stellten sie in dramatischen kolonialen Szenen medientechnischer Überlegenheit sich selbst als Magier und Zauberer dar, die die Kamera als Seelenklaumaschine oder Schattenräuber einsetzten. Sie konvertierten Technik in Magie und ließen sich scheinbar auf eine magische Welt ein, an die sie nicht mehr glaubten.
In diesem Zusammenhang kommen Sie auf Roland Barthes zu sprechen …
Auch westliche Fototheoretiker wie zum Beispiel Christian Metz und Roland Barthes haben der Fotografie eine magische Qualität zugesprochen. Überhaupt gibt es (meines Wissens) keinen Autor, der sich so intensiv und ausführlich mit der (kolonialen) Gewalt und der Magie der Fotografie beschäftigt hat wie Roland Barthes. Es ist bezeichnend, dass er für seine theoretischen Überlegungen über das Medium nicht die Position des Fotografen einnahm, sondern die des Fotografierten. Er verwandelte sich, wie ich gezeigt habe, in einen „Wilden“, der zum Objekt wird und die Fotografie erleidet. Damit rehabilitierte er all diejenigen, die vor der Kamera in Angst und Schrecken versetzt davongelaufen waren. Und er gab der scheinbar neutralen Technik der Kamera die Macht und Magie zurück, die aus dem dominanten westlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen worden war.
Fotografie hat also mit Macht, oft auch mit Gewalt zu tun. Sie erwähnen, dass das Recht am Bild auch in Europa ursprünglich beim Porträtierten lag und nach und nach auf den Fotografen übergegangen ist.
Erst als die Fotografen in Europa für sich in Anspruch nahmen, Künstler zu sein, konnten sie durchsetzen, dass das Bild ihnen gehörte (ich folge hier Bernhard Edelman). Während indische Studiofotografen aus der Diaspora in Kenia sich auch als Künstler sahen und ihre Autorschaft stark machten und zum Beispiel die Negative bei sich behielten und archivierten, haben populäre einheimische Straßenfotografen und Studiofotografen sich eher als Dienstleister gesehen, die auf den Knopf drücken und eine automatische Inskription auslösen. Doch nachdem zwei populäre Fotografen aus Kenia in Europa 2001 mit der westlichen Kunstszene und dem entsprechenden Markt konfrontiert worden waren, begannen auch sie, ihre Autorschaft stark zu machen und ihre Fotos sogar zu signieren. Als sie nach Kenia zurückkehrten, gaben sie das Signieren wieder auf, weil ihre Kunden keinen Wert darauf legten. Wenn man mit Michel de Certeau Autorschaft als eine Form der Abstraktion ansieht, die den Beitrag von anderen „vergisst“, dann haben die populären Fotografen in Kenia (und nicht nur dort) die Beziehungen zu anderen nicht gekappt, sondern im Gegenteil sich und ihre Arbeit in einem Netzwerk verortet und ihre Schuldigkeit anderen gegenüber sehr viel stärker anerkannt. Das wiederum bestätigt die These, dass Fotografie hier vor allem als eine relationale Praxis gesehen wird.
Wir haben gelernt, dass die Fotografie eine Form des Zeigens ist, des Offenlegens. Demgegenüber betonen Sie, dass es auch andere Traditionen des Bildes gibt, solche in denen das Bild nicht ausgestellt, sondern entzogen wird, bis hin zu radikal ikonoklastischen Positionen, mit denen Sie sich auch beschäftigt haben.
Jedes Bild gibt etwas zu sehen und entzieht gleichzeitig etwas der Sichtbarkeit. Als ich an der ostafrikanischen Küste in einem eher muslimisch geprägten Milieu über fotografische Praktiken arbeitete, wurde ich mit einem visuellen Regime konfrontiert, das Bildern eher misstraute und einer Ästhetik folgte, die ich als “Ästhetik des visuellen Entzugs“ bezeichnet habe. Vor dem Hintergrund eines Islamischen Revivals und einer Aktualisierung des „Islamischen Bilderverbotes“ fanden heftige Debatten darüber statt, was in Videos, auf Fotos oder in der Malerei zu sehen gegeben werden sollte und was nicht. Ich wurde mit vielfältigen, zum Teil sehr kreativen Versuchen konfrontiert, fotografische Sichtbarkeit zu unterlaufen, indem z.B. Fotos übermalt oder ornamentalisiert wurden. Sie zeigten, dass sie etwas nicht zeigten. In einer Zeit, in der das Medium der Fotografie ubiquitär geworden ist, haben sich soziale Räume herausgebildet - übrigens nicht nur unter Muslimen - in denen das Fotografieren eingeschränkt oder sogar ganz verboten wurde.
Fotografische Bilder sind oft nicht stabil, sie verändern sich, auch im Blick der Betrachter. Ist nicht schon die Entstehungsweise der analogen Fotografie, die auf einem Negativ und einem Positiv beruht, und die erst im Entwicklerbad hervorgebracht wird, eben erscheint, ein erstes starkes Zeichen dieser labilen Erscheinungshaftigkeit?
Unbedingt. Was Sie beschreiben, hat ein Fotograf mit einem ambulanten Studio in Mombasa im Namen seines Studios zum Ausdruck gebracht. Er nannte sein Studio „Photo Doctor“; er sah sich als Arzt oder Heiler des liminalen, schwachen oder kranken Negativs, das er in ein gesundes Positiv verwandelte. Und in verschiedenen Situationen habe ich erlebt, wie zum Beispiel eigentlich abgelehnte, koloniale und erzwungene Fotoporträts in einer neuen Rahmung auf dem „Familienaltar“ zu dem verehrten Bild einer Ahnin oder eines Ahnen wurden.
Fotografie ist, aus westlicher Sicht, sehr stark ein Repräsentationsapparat. Sie aber haben auf ganz andere Aspekte des Fotografischen hingewiesen, etwa auf die performativen Seiten des Bilder Machens und des Umgangs mit Bildern.
Ich habe bereits auf den starken relationalen Aspekt von Fotoporträts hingewiesen. Es sind weniger ästhetische Aspekte, sondern die Sichtbarmachung sozialer Beziehungen, die auf vielen Fotos im Zentrum steht. In ihrem wunderbaren Buch mit dem Titel Shine. The visual economy of light in African diasporic aesthetic practice hat Krista Thompson gezeigt, wie die Performanz des Fotografiert-Werdens für eher arme junge Leute auf den Bahamas wichtiger ist als das Foto. Sie lassen sich in dicken (geliehenen) Autos vor Hotels mit rotem Teppich fahren, steigen aus, um vor dem Eingang gesehen zu werden, wie sie – wie Stars oder andere VIPs – fotografiert werden. Es ist der Akt des Fotografiert-Werdens, der wichtiger ist und ihnen die Aufmerksamkeit und Wertschätzung gibt, die die Lebensverhältnisse ihnen eher verweigern. Und je mehr Kameras anwesend sind und je mehr die Blitzlichter blitzen und flackern desto besser.
Wenn man die Fotografie als Wahrnehmungsprozess sieht, der in erster Linie von der Kamera, aber auch vom Fotografen, der Fotografin ausgeht, kommt man, wenn ich Sie richtig verstehe, zu einem recht eindimensionalen Modell der Fotografie. Sie schlagen vor, diese Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Bild und Gegenstand, viel komplexer zu denken. Die Fotografierten, so könnten man sagen, blicken intensiver zurück, schreiben sich mehr und anders ins Bild ein, als wir oft wahrhaben wollen …
Gerade vor dem Hintergrund der postkolonialen Theorie haben Elizabeth Edwards und Chris Pinney auf kolonialen Fotos nach Spuren von Handlungsmacht und Widerstand bei den Fotografierten gesucht und auch gefunden. Und noch während der Kolonialzeit waren die Fotostudios in Ostafrika Orte, die erlaubten, gegen koloniale und anthropologische (Zwangs-)Fotografie das eigene Bild zusammen mit dem Fotografen zu entwerfen. Der südafrikanische Fotograf Santu Mofokeng machte geltend (und ich gebe ihm recht), dass gerade die kommerzielle Studiofotografie eine Kritik auch an der (politischen) Dokumentarfotografie übe, weil erstere den Fotografierten die Möglichkeit eröffne, sich so darzustellen, wie sie es gerne wollten.
Als Sie 1990 in Ostafrika zu forschen begannen, stießen Sie auf eine Tradition der kommerziellen Fotografie, über die bis dahin in der internationalen Fotoforschung sehr wenig bekannt war, die lokale Studiofotografie.
Tatsächlich galt die Beschäftigung mit Studiofotografie als eher unpolitisch und hatte lange Zeit keinen hohen Stellenwert. Es dauerte eine ganze Weile (etwa bis 2010), bis auch das politische Potential der Studiofotografie verstanden wurde, dass in den schönen Idealbildern gerade die Defizite, Verwerfungen und Ausschließungen zum Ausdruck brachte, denen die Fotografierten im Leben ausgesetzt waren.
Sie sprechen an einer Stelle in Ihrem Buch im Kontext dieser Studiobilder von „hybrider Moderne“. Was meinen Sie damit genau?
In den 1990er Jahren gab es innerhalb der Ethnologie eine heftige Debatte über das Verhältnis von Tradition und Moderne. Die normative teleologische Konstruktion einer westlichen Moderne sowie die hegemoniale Position Europas wurden infrage gestellt und stattdessen versucht, den Kontinent zu provinzialisieren. Es wurde erkannt, dass Afrika, das als Gegenbild zur westlichen Moderne herhalten musste, spätestens mit dem transatlantischen Sklavenhandel Teil dieser Moderne geworden war, die den Westen bereicherte und Afrika in weiten Teilen verarmen ließ. Globalisierungsprozesse, die Afrika miteinschlossen, haben eben nicht nur zu einer allgemeinen Entzauberung, Nivellierung und Homogenisierung geführt, sondern auch zu neuen Verzauberungen, Fragmentierungen und Differenzierungen. Vor diesem Hintergrund begannen Ethnologen von einer Vielfalt von hybriden Modernen zu sprechen. Die (Wunsch)Bilder von dieser Moderne stellten Fotografen in ihren Studios und in Collagen her.
Ihre Überlegungen zur performativen Rolle der Fotografie haben Sie am Beispiel der Studiofotografie sehr schön ausgeführt. Sie fordern ein fest verankertes Dogma der Fototheorie heraus, dass nämlich fotografische Bilder im Kern einen dokumentarischen Anspruch haben. Sie plädieren dafür, das Bildermachen aus einer anderen Perspektive zu betrachten, etwa als Akt der Wunscherfüllung oder als Versprechen, als eine Art von Montage, als Bricolage, als Recycling und Neuzusammensetzen von populären Bildern …
Ja, Roland Barthes Credo der Fotografie „So ist es gewesen“ ließe sich im afrikanischen Kontext umschreiben in „So könnte es sein“ oder „So wünsche ich es mir“; die Studiofotografie als eine Wunschmaschine und potentielle Prophezeiung. Und die der Fotografie als Medium der Inskription zugesprochene „Wahrheit“ wird auch in Afrika mobilisiert, um die Ideal- oder Wunschbilder umso stärker einzufordern.
Nicht der Fotograf allein macht also die Bilder, sondern er setzt Wünsche des Kunden um, das Studiobild ist eigentlich ein Gemeinschaftswerk?
Ja, es wird etwas ausgehandelt und je nach Machtposition, bestimmt mal mehr der Kunde und mal mehr der Fotograf das Bild.
Man könnte diesen interessanten Gedanken auch auf die westliche Fototradition anwenden. Die Atelierfotografie des 19. Jahrhunderts war auch eine Art Bühnenkunst. Der Körper und das Gesicht des Porträtierten wurde in ein Arsenal von Bühnenelementen eingebaut. Nicht der dokumentarische Aspekt steht hier im Mittelpunkt, sondern die soziale Zuordnung, die familiäre Einordnung, vielleicht auch die Wunscherfüllung.
Ja! Dem würde ich unbedingt zustimmen. Sozialer Aufstieg, Verschönerung zum Beispiel durch Retusche und Wunscherfüllung sind auch in der westlichen Studiotradition zu finden, bis heute zum Beispiel in Hochzeitsfotos.
Kommen wir nun auf die Rolle der Fotografie im ethnologischen Forschungsprozess zu sprechen. Fotografische Bilder haben, so schreiben Sie in Ihrem Buch an einer Stelle, eine große subversive Kraft. Sie fallen Texten in den Rücken, fordern diese heraus …
In meinem Buch Contesting Visibility. Photographic Practices on the East African Coast von 2013 habe ich versucht, durch das Layout von Bild und Text nicht nur das eine durch das andere zu bestätigen, sondern beide auch gegeneinander auszuspielen. Der Leser/Betrachter erhält die Möglichkeit die medialen Differenzen produktiv ins Spiel zu bringen und vor allem auch die Kontingenz der Fotografie zu nutzen, um sie gegen den Text zu wenden.
Die semantische Instabilität der Fotografie, von der Sie sprechen, wurde ihr oft als Defizit ausgelegt. Sie sehen diese jedoch als Stärke.
Aber es ist doch wunderbar, wenn sich ein Foto nicht erschöpft, sondern immer wieder neue Aspekte in ihm entdeckt werden können, zum Beispiel durch Verfahren wie die Vergrößerung oder durch technische Medien wie die Lupe. Denken Sie an den Film „Blow up“.
Sie beschreiben sehr schön, wie sich die Rolle der Bildmedien in der Ethnologie mehrmals radikal veränderte. Sie erwähnen Malinowski, der einerseits den Schnappschuss, das ungestellte Foto, für wertvoll befand, weil es Szenen sichtbar machen kann, die sonst unsichtbar geblieben wären. Zugleich aber hat er die Fotografie zum Hilfsmittel gemacht und ihre Rolle gegenüber der Schrift abgewertet.
Malinowski, so schreibt Michael Young, hasste die Fotografie und die technischen Probleme, mit denen er auf den Trobriand Inseln kämpfen musste. Die Feldforschung war für ihn eine Flucht aus der Moderne in eine andere, archaischere Welt, in der technische Medien eigentlich keinen Platz hatten. Als Vertreter der sogenannten funktionalen Anthropologie interessierte er sich vor allem für die eher abstrakte soziale Organisation, Verwandtschaftsverhältnisse und Institutionen und die bieten sich der Fotografie als Medium nicht eben an.
In den 1980er Jahren hat sich die Bedeutung der Fotografie in der Ethnologie noch einmal radikal geändert, Stichwort Medienanthropologie …
Spätestens in den 1980er Jahren wurden Ethnologen „im Feld“ mit der Tatsache konfrontiert, dass sie nicht mehr allein über technische Medien verfügten, sondern auch die Ethnografierten diese Medien zu eigenen Zwecken zu nutzen begannen. Der „turn“ von der visuellen Anthropologie hin zur Medienanthropologie war sehr wichtig; er war u.a. auch der Versuch, nicht nur die visuellen Medien wie Fotografie, Video und Film in anderen Kulturen zu studieren, sondern auch die Medien mit einzuschließen, die sich anderen Sinnen wie dem Ohr, dem Geruchssinn oder der Taktilität verstärkt zuwandten. Und es ging um die Synästhetik der Sinne, ihr komplexes Zusammenspiel. Außerdem versuchten wir, wie bereits erwähnt, andere Mediengeschichten zu erzählen und den Westen zu dezentrieren.
Ich habe den Eindruck, dass einige der in der Ethnologie seit den 1990er Jahren gewonnen Erkenntnisse nur sehr zögerlich in den Mainstream der internationalen Fotoforschung aufgenommen wurden. Ich denke dabei etwa an Themen wie die Zirkulation von Bildmedien, ihre Handhabung, ihre Berührung, der Tausch und die Weitergabe von Bildern. Ich denke aber auch an eine neue globale Sichtweise auf die Fotografie, auf ein Medium, das Grenzen überschreitet, das wandert und sich auf seinem Weg verändert und mit neuen Bedeutungen anreichert. Sie und andere habe viele dieser Aspekte schon recht früh erforscht. Aber in die Foto- und Kunstgeschichte aufgenommen wurden die Einsichten oft verspätet, oft gar nicht. Wieso ist das so?
Es gab und gibt immer Kollegen und Kolleginnen, die sich eher als Wächter ihrer jeweiligen Disziplin verstehen und einer Öffnung lieber entgegenarbeiten. Aber es hat sich schon einiges getan! Denken Sie zum Beispiel an Hans Belting, der die Kunstgeschichte verändert und geöffnet hat. Die Medienanthropologie ist an deutschen Universitäten wie zum Beispiel in Frankfurt/Main, Köln oder Siegen mit jüngeren Wissenschaftlern wie Rembert Hüser, Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger, Ulrich van Loyen, Anna Brus, Anja Dreschke und vielen anderen sehr gut aufgestellt. Und ich nehme dieses Interview auch als ein Zeichen für eine grenzüberschreitende Öffnung, wofür ich herzlich danke!
Kommen wir zum Schluss: „Es ist skandalös“, schreiben Sie an einer Stelle in Ihrem Buch, „dass westliche Ethnologen und Kunsthistoriker erst zu Beginn der 1990-er Jahre zur Kenntnis nahmen, dass Afrikaner nicht nur fotografiert worden waren, sondern bereits seit etwa 1860 in Fotostudios in West-, Ost- und Südafrika gearbeitet und ihre eigenen hybriden Praktiken und ästhetischen Traditionen erschaffen hatten.“ Frage: Hat sich die Situation inzwischen gebessert? Oder gibt es diesen Skandal immer noch?
Sie hat sich gebessert! Es gibt jetzt zum Beispiel junge afroamerikanische Wissenschaftlerinnen, wie die bereits erwähnte Krista Thompson oder auch Tina Campt, die die eigenen fotografischen Traditionen (und die von Fremden) erforschen.
Sie selbst, sagen Sie, haben viel von Missverständnissen, Fehlern gelernt, also vom Scheitern. Was raten Sie einem jungen Menschen, der sich neugierig mit Fotografie und Ethnologie beschäftigen will? Dass auch er sich aufs Scheitern einlassen soll?
Scheitern lässt sich manchmal sehr produktiv wenden, weil es zum Anlass werden kann, dem bisherigen Denken und Tun eine andere Richtung zu geben.
Vielen Dank für das Gespräch!
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