Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Joachim Sieber

Fotografie im Kontext

Medien und Orte zeitgenössischer Fotografie in Zürich 1970–1990

Dissertation, Universität Zürich, Kunsthistorisches Institut, Prof. Dr. Wolfgang Kersten, Prof. Dr. Bettina Gockel, Abschluss voraussichtlich: 2022, Art der Finanzierung: Privat, Kontakt: joachim.sieber(at)uzh.ch

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 161, 2021

 

Die jüngere fotohistorische Forschung zeigt ein zunehmendes Interesse an den Entwicklungen der Fotografie und den unterschiedlichen Fotoszenen der 1970er- und 1980er-Jahren, die bis vor wenigen Jahren ein polymorphes Desiderat darstellten.[1] Die hier vorgestellte Dissertation reiht sich in dieses Bestreben ein und untersucht die Neuerungen in Produktion, Distribution und Rezeption von zeitgenössischer Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren anhand bereits bestehender wie auch neuer Medien und Orte der Fotografie in Zürich.

Als größte Schweizer Stadt wartet Zürich spätestens seit der Entwicklung des Photochromdruckverfahrens vom Zürcher Steindrucker Hans Jakob Schmid (1856–1924) und der anschließend 1889 vom Artistischen Institut Orell Füssli gegründeten Gesellschaft Photochrom mit einer fotohistorisch relevanten Geschichte auf.[2] In der Zwischenkriegszeit wurde Zürich zu einer wichtigen Adresse für Grafik und Typografie, in diesen Kreisen 1932 auf Initiative von Hans Finsler die Fotoklasse der Kunstgewerbeschule entstand.[3] 1941 gründete sodann Arnold Kübler die auf Fotoreportagen spezialisierte Kulturzeitschrift Du. Zudem wurde die schweizerische Fototradition von der bereits 1922 gegründeten Fotozeitschrift Camera in der nahegelegenen Innerschweizer Stadt Luzern genährt, wo 1952 auch die Weltausstellung der Photographie stattfand.[4]

Das Jahrzehnt nach 1970 wird in Zürich und in der Schweiz allgemein als teils befreites „Nach-68“ empfunden, in der jedoch der Kalte Krieg omnipräsent war und ab 1972/1973 mit der Ölkrise wirtschaftliche Stagnation und eine Rezession Einzug hielten. Jean-Christoph Ammann, damaliger Kurator und Direktor des impulsgebenden Kunstmuseum Luzern, resümiert rückblickend, dass der Einfluss von Amerika und der amerikanischen Kunst, die Europa von 1945 bis 1973 stark geprägt habe, sank.[5] Für die kulturelle Befindlichkeit in der Schweiz stand 1970 Paul Nizon’s Buch Diskurs in der Enge, worin die Durchschnittlichkeit der Schweiz und das Fehlen eines großstädtischen Kulturzentrums bemängelt wird, was in der Konsequenz dazu führte, dass Kunstschaffende der provinziellen und peripheren Kunstszenen die Schweiz verlassen mussten, um sich führenden künstlerischen Bewegungen anschließen zu können.[6]

Die Publikation traf den Nerv der Zeit und so erstaunt nicht, dass die städtische Kulturförderung ab den 1970er-Jahren die Förderung von Atelierstipendien im Ausland intensiv zu fördern begann – ab 1975 wurden zunehmend auch die Fotografieschaffenden berücksichtigt. Dies war jedoch auch dem umfangreichen Wandel im Umgang mit der Fotografie geschuldet, welcher sich aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen ab den 1970er-Jahren ereignete. So kamen nach der Selbstbehauptung gegenüber der Malerei an der Wende zum 20. Jahrhundert und der Hochblüte des Fotojournalismus in den 1960er-Jahren entscheidende Impulse für eine Erneuerung der Fotografie aus der zeitgenössischen Kunst. Dies führte erst zu starken Spannungen, da sich zwei Lager der Fotografie bildeten, zum einen die FotografInnen, die überwiegend eine praktisch-kommerzielle Ausbildung absolviert hatten und die KünstlerInnen, die das fotografische Medium zumeist als Amateure verwendeten. Das Herausarbeiten dieser unterschiedlichen, jedoch auch durchlässigen Fotografieszenen – deren Wahrnehmung sowie die damit verbundene Diskursivierung – stehen im Zentrum der hier vorgestellten Dissertation.

Mit einer kritischen Analyse des Betriebssystems[7] Fotografie sollen diese Neuerungen in den beiden Hauptkontexten Medien und Orte sowie deren Wechselspiel mit wichtigen Akteuren der Fotografieszenen beispielhaft thematisiert werden. Die zu untersuchenden Medien reichen von Fotobüchern, die ab den späten 1970er-Jahren einen umfangreichen Boom erlebten (Urs Lüthi, 1978, Edition Stähli; Robert Franks The lines of my hands, 1972/1989/2017, Verlag Der Alltag/Scalo; Hans Danusers In Vivo, 1990,Beat Streulis Rom–Paris, 1990, Verlag Lars Müller Publisher),[8] über Foto-, Kunst- und Kulturzeitschriften, die auch nach ihrem Verlust als tonangebendes visuelles Leitmedium ein wichtiges Publikationsorgan für FotografInnen blieben (Du, Camera, Photographie, Nikon News, printletter, Der Alltag).[9] Auch die damals zahlreicher werdenden Ausstellungen in zumeist neugegründeten Fotoinstitutionen und Fotogalerien werden als Medien im Fokus stehen. Die zu untersuchenden Orte umfassen zudem (Foto-)Galerien und Gemeinschaftszentren (Nikon Galerie, Galerie 38/Photo Forum Zürich, Work Gallery, Galerie zur Stockeregg), Kabinette in öffentlichen Museen (Photo-Galerie am Kunsthaus Zürich) und Fotoklassen in Bildungseinrichtungen (Fotoklasse der Kunstgewerbeschule/Schule für Gestaltung, F+F Schule für experimentelle Gestaltung).

Die Dissertation ist eine Weiterführung und Vertiefung des Forschungsprojekts „Die Neuerfindung der Fotografie“ der Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich, das Ende 2014 unter Mitarbeit des Autors erfolgreich abgeschlossen und publiziert werden konnte.[10] Die Dissertation verfolgt nunmehr das Ziel, die unterschiedlichen Medien und Orte, die in der Publikation nur gestreifte werden konnten, genauer zu untersuchen und somit ausgehend vom spezifischen Ort Zürich einen Beitrag zur kunst- und fotohistorischen Diskussion um die Neuerungen der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren zu leisten.

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[1] Vgl. Gisela Parak (Hg.): Die wilde Vielfalt. Zur deutschen Fotoszene der 1970er und 80er Jahre, Fotogeschichte, Jg. 35, Heft 137, 2015; Florian Ebner, Ute Eskildsen, Carolin Förster, Felix Hoffmann, Inka Schube, Thomas Weski (Hg.): Werkstatt für Photographie 1976–1986, Berlin, Essen, 2016; Reinhard Matz, Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.): Wolfgang Schulz und die Fotoszene um 1980, Leipzig: Spector Books, 2019.

[2] Vgl. zur Entstehung von Photoglob: Daniela Wegmann, Marc Walter, Sbine Arqué: P.Z. Photoglob Zürich Jubiläumsbuch 1889–2014. Zürich: Photoglob, 2014; Daniela Wegmann: Artifizielle „Naturwahrheit“ zur Konzeption der frühen Farbfotografie durch die Photochrom-Reiseansichten der Jahrhundertwende (1889–1914), Dissertation Universität Zürich, Zürich: 2016. Online unter: http://www.e-helvetica.nb.admin.ch/directAccess?callnumber=bel-794234 (Stand: 8.5.2020).

[3] Vgl. Richard Hollis: Schweizer Grafik. Die Entwicklung eines internationalen Stils 1920–1965, Basel: Birkhäuser, 2006; Christian Brändle, Karin Gimmi, Barbara Junod, Christina Reble, Bettina Richter (Hg.): 100 Jahre Schweizer Grafik, Zürich: Lars Müller Publishers, 2014; Thilo Koenig, Martin Gasser (Hg.): Hans Finsler und die Schweizer Fotokultur. Werk, Fotoklasse, Moderne Gestaltung 1932–1960, Museum für Gestaltung und Kunst, Zürich: gta Verlag, 2006.

[4] Vgl. Nadine Olonetzky: Ein Amerikaner in Luzern. Allan Porter und ‹camera› – eine Biografie, Luzern: Pro Libro, 2007; Flavia Steiger Kraushaar: Weltausstellung der Photographie 1952. Luzerns Experiment als Fotostadt, in: Geschichte, Kultur, Gesellschaft (Jahrbuch, Bd. 30), Luzern: Historische Gesellschaft, 2012; Hubert Locher: Du, die Kunst und die Fotografie, in: Ingo Herklotz, Hubert Locher (Hg.): Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft (Bd. 40), Weimar/Kromsdorf: Verlag und Geisteswissenschaften, 2013, S. 297-343; Muriel Willi: Die Weltausstellung der Photographie in Luzern 1952. Treffpunkt fotografischer, touristischer und politischer Ambitionen, Dissertation, Universität Lausanne, unpubliziert, Verteidigung: 2019.

[5] Vgl. Gabriel Flückiger, Michael Krethlow, Konrad Tobler: Bern 70. Bern: Edition Atelier, 2017, S. 29–34; Jean-Christophe Ammann, Gabriela Christen, Bice Curiger: Die wilden Sixties in Zürich. Podiumsdiskussionen im Rahmen der Ausstellung „Friedrich Kuhn – der Maler als Outlaw“ im Kunsthaus Zürich, Zürich: Zürcher Kunstgesellschaft, 2011, S. 38–39.

[6] Paul Nizon: Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst, Bern: Kandelaber, 1970.

[7] Zum Begriff des Betriebssystems vgl. Thomas Wulffen (Hg.): Betriebssystem Kunst, in: Kunstforum International, Bd. 125, Ruppichteroth: Kunstforum International, 1994, S. 49ff.

[8] Vgl. Anton Holzer, Ulrich Keller (Hg.): Fotobücher im 20. Jahrhundert, Fotogeschichte, Jg. 30, Heft 116, 2010; Thomas Wiegand: Deutschland im Fotobuch. 287 Fotobücher zum Thema Deutschland aus der Zeit von 1915 bis 2009, Manfred Heiting (Hg.): Göttingen: Steidl, 2011; Peter Pfrunder (Hg.): Schweizer Fotobücher 1927 bis heute. Eine andere Geschichte der Fotografie, Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Baden: Lars Müller, 2012.

[9] Vgl. Bodo von Dewitz & Robert Lebeck, Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage. 1839–1973. A History of Photojournalism, Göttingen: Steidl, 2001, S. 274.

[10] Hans Danuser, Bettina Gockel (Hg.): Neuerfindung der Fotografie Hans Danuser – Gespräche, Materialien, Analysen (Studies in Theory and History of Photography 4), Berlin/Boston: De Gruyter, 2014.

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