
Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)
Fotoalben im 19. Jahrhundert
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 161, 2021
Alben sind ein vernachlässigter Teil der Fotografiegeschichte und wurden von vielen Volten der Forschung und den Turns der Fotohistoriographie links liegen gelassen. Man widmete sich der „Vernacular Photography“, entdeckte die Knipser und Amateure, kümmerte sich um die wissenschaftliche und selbst um die Theater- und Tanzfotografie, schenkte aber Alben kaum Beachtung. Das hat sich erst in den letzten Jahren, im Fahrwasser des Material Culture-Turns und einer neuen Aufmerksamkeit für die konkreten materiellen Voraussetzungen des fotografischen Archivierens, Sammelns und Kommunizierens ein wenig geändert. Aber nach wie vor ist eine der komplexesten Überlieferungsformen fotografischer Bilder ein von der Fotografiegeschichte weitgehend unbeschriebenes Blatt. Dieses Themenheft vermag sie wohl nicht gänzlich aus dem Dornröschenschlaf erwecken, in dem sie sich seitens der Forschung noch befinden, aber es will zumindest versuchen, ihre Geschichte, einige ihrer Spielformen und auch wichtige Aspekte und theoretische Überlegungen vorzustellen. Das Spektrum der Beiträge reicht dabei von privaten und Firmenalben mit Carte de Visite-Fotografien bis hin zu Postkartenalben. Viele weitere wären natürlich vorstellbar: Alben mit wissenschaftlichen Aufnahmen, Reisealben oder ethnographischen Alben. Das ganze reiche Spektrum der Gebrauchsweisen der Fotografie im 19. Jahrhundert spiegelt sich letztlich auch in verschiedenen Formen von Alben wider.
Die Forschungsvergessenheit hat auch durchaus ihre höchst materiellen Gründe. Fotoalben sind Objekte, die man in Ausstellungen selten oder nur ausschnitthaft zu Gesicht bekommt und die bis heute zumeist ein Schattendasein in Archiven fristen. Doch auch dort nimmt sich kaum jemand die Zeit, sie zu öffnen, in ihnen zu blättern und nach den Geschichten, die sich in ihnen verbergen, zu suchen. Fotoalben sind, und das zeigt sich auch in diesem Themenheft, in vieler Hinsicht sperrige Objekte: Sie sind schlecht zu zeigen, da man Umblättern muss, um sie zu betrachten, häufig sehr persönlich in der Auswahl und somit voller unbekannter Geschichten und nicht zuletzt ein wenig homogenes Medium mit vielfältigen Erscheinungsformen.
Bereits ein einziges Fotoalbum ist ein Medium im Plural, da es zumeist zahlreiche Bilder enthält, die auf mehr oder weniger komplexe Weise miteinander verbunden sind. Es ist eine Überlieferungsform medial sedimentierter Geschichte, dank derer Gedächtnis und Erinnerung als kulturelle Praxis in Bildern montiert werden. Das Arrangieren und Befüllen, Montieren und Zusammenkleben von Alben ist eine kulturelle Praxis, deren Geschichte in vielfacher Hinsicht höchst aufschlussreich ist. Nicht selten kommt es in Fotoalben zu einer Verschränkung der Familiengeschichte mit jener des Landes, der Epoche oder des Zeitalters. Alben führen Fotogeschichten im Wortsinn vor Augen und speisen sich im 19. Jahrhundert doch zumeist aus der oralen Tradition, da ein Album ohne erzählte Geschichte und Geschichten rasch zu einem nahezu unlesbaren Relikt der Vergangenheit wird. Diese Erfahrung wird jeder machen, der ein komplex montiertes Familienalbum aus der Jahrhundertmitte aufschlägt, bei dem Bezeichnungen und Namen fehlen. Auch bei Alben braucht es eine „Beschriftung“, um einen Begriff Walter Benjamins aufzunehmen, da ansonsten die Sprache der Bilder unentzifferbar zu werden droht und die Fotos zu erratischen Relikten der Vergangenheit werden.
Weiterhin beschränken sich Fotoalben keineswegs auf Fotografien, sondern gehen Verbindungen mit anderen medialen Formen ein. Es sind hybride, polymediale Objekte, die noch dazu häufig eine komplexe Geschichte haben, da die einzelnen Seiten oft aus unterschiedlichen Zeitschichten und pluralen Autorschaftsverbünden stammen, was ihre Lesbarkeit weiter verkompliziert. Damit einher geht auch eine gewisse Unabschließbarkeit, denn Alben präsentieren meist keine stabilen Ordnungen und fertige Systeme. Vielmehr zeichnen sie sich durch nicht-lineare und immer wieder erneuer- und austauschbare Ordnungsprinzipien aus. Zugleich bilden Ordnungsformen Narrative aus, erzählen Geschichten und verwandeln Einzelbilder in eine Folge, die etwas vor Augen führen soll. Mal geht es um Konstellation oder Tableaus, mal um Wahlverwandtschaften oder Vergleiche, mal aber auch um eine Genealogie oder ein Itinerar. Alben erfordern ein vergleichendes und konstellatives Sehen und üben auch in ein solches ein.
Aufgrund dieser vielfältigen Charakteristika macht es wenig Sinn, von „dem“ Fotoalbum zu sprechen oder nach einer bestimmten allgemeingültigen Funktion oder Organisationsform zu suchen. Dennoch lässt sich ein Spannungsfeld abstecken, in dem sich das Album im 19. Jahrhundert bewegt: zwischen Norm und Form, zwischen Standardisierung und einer persönlichen Gestaltung, zwischen allgemeiner gesellschaftlicher Lesbarkeit und inszenierter Individualität, zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Auf der einen Seite folgen die Alben den normierten Vorgaben, die sich bereits in der Zeit um 1860 als Standards herausgebildet haben, auf der anderen versuchen sie jedoch nicht selten in diesem mehr oder weniger engen Rahmen eigene ästhetische Inszenierungsformen zu entwickeln. Dass es heute eine Fülle von überlieferten Fotoalben gibt, verdankt sich den Normen, die rasch die Bildproduktion geprägt haben. Das gilt für Carte de Visite-Aufnahmen ebenso wie für Postkarten. Diese formal normativen Vorgaben fordern aber, wie viele Beispiele zeigen, die Kreativität nachgerade heraus. Aus der Geschichte der Kunst und Literatur wissen wir, dass Einschränkungen und strenge Vorgaben mitunter enorm produktiv sein können.
Dieses Themenheft, dem im kommenden Jahr ein zweites über die jüngere Geschichte des Fotoalbums folgen wird, widmet sich ausgewählten Aspekten des Fotoalbums im langen 19. Jahrhundert. Normierte Einsteckalben werden ebenso in den Blick genommen wie individuell gestaltete Alben, in denen ein Narrativ erst performativ zum Ausdruck kommt. Aus fotografie- und kunsthistorischer, kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive geht es darum, nach der spezifischen Alben-Dynamik im Zusammenspiel mit den einzelnen versammelten Bildern zu fragen und dadurch die zentrale Bedeutung von Alben als einem der wichtigsten Medien und Kommunikationsformen der Fotografiegeschichte zu erörtern.
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