Herta Wolf, Clara Bolin
Keepsake / Souvenir
Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870. Editorial
Erschienen in Fotogeschichte, Heft 160, 2021
Naturstudien und die Darstellung von Landschaften waren neben Denkmälern Gegenstand der als Studienobjekte für Künstler und Amateure annoncierten großformatigen fotografischen Alben, die zwischen 1851 und 1855 von der Imprimerie photographique in Loos lez Lille herausgegeben worden sind. Nicht zuletzt, weil sich viele der Sujets dieser Alben auf den Norden Frankreichs beziehen, und weil eines von ihnen von ihrem Herausgeber als Keepsake photographique betitelt worden ist, rufen sie einen kulturellen Horizont auf, der weit über die Konzeption der von Louis Désiré Blanquart-Évrard herausgegeben Bilderkompendien hinausreicht.
Im Oxford English Dictionary wird als keepsake nicht nur ein souvenir, sondern auch ein kleines, meist nicht teures Geschenk – auch token genannt – bezeichnet, das uns von einer Person überreicht wird, damit wir uns ihrer erinnern. Bei diesen Keepsakes handelte es sich allerdings meist um reich mit Stahlstichen illustrierte Bilderbücher, die in der Romantik als wertvolles Geschenk zu den Weihnachts- und Neujahrsfeiertagen überreicht worden sind. Neben Grafiken enthielten diese in hohen Auflagenzahlen publizierten Jahrbücher Gedichte, Kurzgeschichten, aber auch Reisebeschreibungen von bekannten Autoren.[1] So erschien auch Walter Scotts Beschreibung des nach einer Zeichnung von Edwin Landseer angefertigten Stiches seines Lieblingshundes Maida unter dem Titel »A Scene at Abbotsford« im Keepsake for MDCCCXXIX. In Charles Heath’s Jahrbuch, es wurde zwischen 1828 und 1857 publiziert, konnte man auch mit Aquatinta Radierungen nach Zeichnungen von Joseph Mallord William Turner illustrierte Beiträge über Saumur (1831), Le Havre und die Ufer der Seine (beide 1834) finden. Auf einer Schottlandreise im Auftrag von Scotts Verleger schuf er auch die Zeichnungen für die Ausgabe von Walter Scott’s Poetical Works; Turners Verbildlichungen sollten einerseits den Verkauf des Werks des Erfinders des historischen Romans befördern;[2] andererseits präfigurierten seine breit rezipierten ikonografischen Inventionen alle weiteren Beschäftigungen mit Scotts Werk – so auch William Henry Fox Talbots Sun pictures of Scotland, wie Mona Schubert in ihrem Beitrag ausführt.
Neben dem Norden Englands und Schottland zählte auch der Norden Frankreichs zu den historischen Landschaften, die bereist und deren Geschichte(n) erzählt und bebildert werden sollte. Davon zeugen nicht allein die Voyages pittoresques, deren ersten beiden 1820 und 1825 erschienenen Bände der Normandie gewidmet waren (vgl. den Beitrag von Herta Wolf), sondern auch Turners The Rivers of France [the Seine and the Loire] von 1837.[3] Einige der hierin publizierten Aquatinta Radierungen nach Turner waren sowohl in Keepsake-Bänden als auch in Le Landscape Français (1834) erschienen. Der französisch-deutsche Titel des den Städten und Regionen Frankreichs gewidmeten Reisebuches erinnert an ein Bonmot Stendals der in seinen Memoires d’un touriste von 1838 einen die Fortbewegungsmittel des Reisenden gleichermaßen wie die Perzeption der Landschaft betreffenden transnationalen Transfer ausgemacht hatte, wenn er feststellte, dass »wie gute Kutschen und Dampfschiffe auch das Pittoresken von England nach Frankreich gekommen sei«.[4]
Diese auf vielen Ebenen zu beobachtenden, die Jahre nach den Napoleonischen Kriegen bestimmenden transnationalen Kultur- und Technik-Transfers bilden die Grundlagen, auf denen das 1839 publizierte neuen Bildmedium Fotografie aufbauen sollte: Nun waren es nicht mehr avancierte Reisemittel, sondern ein Medium, das ausgehend von Frankreich und England über Europa hinweg Verbreitung fand, wie dies sowohl Clara Bolin als auch Anastasia Khoroshilova in ihren Beiträgen herausgearbeitet haben. Aufbauend auf einer Ikonografie, die von den mit den avancierten Bildtechniken, Stahlstich und Lithografie, illustrierten Bilderbüchern entwickelt worden ist, wurde begonnen, mit und durch das Medium neue bildliche Welten sowie neue merkantile, kulturelle und staatspolitisch motivierte Einsätze zu erobern.
In einer Annonce des Album photographique de l’artiste et de l’amateur der Imprimerie photographique von 1851 werden – neben dem Ziel, durch den Band die Anwendungen der Kopieranstalt popularisieren zu wollen – auch die Gegenstände der geplanten, in monatlichen Lieferungen zu veröffentlichenden Bildtafeln genannt: Außer Kunstreproduktionen sollten Monumente und Landschaften aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Zeitaltern ediert werden; mittels einer oder zweier Reproduktionen wollte Blanquart-Évrard auch Gegenstände der Ethnografie oder der Naturgeschichte zeigen.[5]
Die explizite Nennung der Ethnografie im Kontext der Imprimerie photographique mag auf den ersten Blick überraschen. Setzt man sie aber in Beziehung zu Anastasia Khoroshilovas Ausführungen über den Gebrauch ethnografischer Fotografien im Russischen Reich, dann wird deutlich, wie vielfältig die Bildpraktiken sein konnten, die sich unter den Begriff ›ethnografisch‹ subsumieren lassen, aber mehr noch auf welch unterschiedliche Einsatzbereiche diese abzielen konnten. Gleiches gilt für die Erfassung von Heimatlosen wie sie durch Jakob Amiet im Justiz- und Polizeidepartement Bern entwickelt worden ist, die – wie Sara Romani in ihrem Beitrag argumentiert – nicht zuletzt aus binnenkolonialistischen Bestrebungen resultiert. Alle Beiträge des vorliegenden Heftes machen deutlich, dass die zwischen 1841 und 1870 auf Reisen, von Reisenden, Reisezielen und von den Bewohnern der bereisten Länder und Regionen angefertigten Fotografien zwar an eine ästhetische, pittoreske Tradition anknüpfen, dass sie diese aber überschreiten. Dafür sind nicht zuletzt auch jene medienspezifischen Implikationen verantwortlich, die sich über eine andere Bedeutung des Begriffs token erläutern lässt: Nicht mehr auf ein Souvenir oder ein Keepsake (wie Clara Bolin sie beschreibt) zielt die Definition des Token durch Charles Sanders Peirce ab; sondern auf ein einmaliges Ereignis, das nur in einem zeitlichen Augenblick auftritt »limited to that one happpening or Single object or thing which is in some singel place at any one instant of time«.[6] In diesem Verständnis wird Token zu einem Synonym der Fotografie im Moment ihrer Aufnahme; ihre Dauer aber ließe sich mit dem Begriff des Keepsake umschreiben.
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[1] Siehe u. a. Kathryn Ledbetter: Introduction to The Keepsake, in: dies. et. al. (Hg.), L.E.L.'s ›Verses‹ and The Keepsake for 1829, Boulder: Colorado 1998 [= Romantic Circles. A refereed scholarly Website devoted to the study of Romantic-period literature and culture, Bd. https://romantic-circles.org/editions/lel/ksintro.htm], Zugriff vom 3.1.2021. Paula R. Feldman: Introduction, in: Frederic Mansel Reynolds: The Keepsake for 1829, Toronto 2006, S. 7–26.
[2] Gerald E. Finley: J. M. W. Turner and Sir Walter Scott: Iconography of a Tour, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 35. Jg., 1972, S. 359–385.
[3] The Rivers of France [the Seine and the Loire]. From Drawings by J. M. W. Turner, London 1837.
[4] Stendhal: Mémoires d’un touriste, 2. Auflage, 2 Bde., Bd. 1, Paris 1854, S. 87.
[5] Auf dem hinteren Deckblatt von: Louis Désiré Blanquart-Évrard: Traité de photographie sur papier. Avec une introduction par M. Georges Ville, Paris 1851.
[6] Charles Sanders Peirce: Prolegomena to an Apology for Pragmaticism, in: The Monist, 16. Jg, Nr. 4, 1906, S. 492–546, hier S. 506 (dt.: »Ein Einzelnes Ereignis, das einmal geschieht und dessen Identität auf dieses eine Geschehen begrenzt ist, oder ein Einzelnes Objekt oder Ding, das an einem einzelnen Ort oder zu irgendeinem Zeitpunkt existiert ein derartiges Ereignis oder Ding, das bedeutsam nur insofern ist, als es gerade dort und dann vorkommt, wo es vorkommt […] erlaube ich mir, Token zu nennen.«, aus: Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3 1906–1913, hg. v. Christian Kloesel, Helmut Pape, Frankfurt a. Main 1993, S. 146.
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