Reiner Hartmann
Life und die Macht der Fotografie
Katherine A. Bussard, Kristen Gresh (Hg.): Life Magazine and the Power of Photography, New Haven and London: Yale University Press, 2020, 22,9 x 3,8 x 32,4 cm, 331 Seiten, 245 Abb., gebunden, 60 Dollar
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021
„Life magazine and the power of photography”, das klingt nach einer weiteren emphatischen Nacherzählung des mittlerweile schon überstrapazierten Mythos vom Höhepunkt des amerikanischen Bildjournalismus. Schließlich wurde das Erscheinen des Life-Magazins schon 1972 eingestellt. Es gab Best-of-Decade-Bildbände, Jubiläumshefte, Werke über und von Luce, Wainwright, Elson, Longwell, Hicks und eine Unzahl wissenschaftlicher Abhandlungen. Hat sich das Thema nicht erschöpft?
Bei weitem nicht! Die Herausgeberinnen Katherine A. Bussard und Kristen Gresh können sich auf den erstmalig unbeschränkten Zugang zu dem in 2015 von Time Inc. an die New-York History Society übergebenen Archiv berufen. Das vorliegende Fotobuch erhebt den Anspruch, einen neuen, unverstellten Blick auf die Magazinarbeit und deren Interaktion mit der amerikanischen Öffentlichkeit zu richten. Es ist gleichzeitig auch der Katalog zu einer Ausstellungskooperation des Princeton University Art Museum und des Museum of Fine Arts Boston.[1] Und es will sich nicht mit der einfachen Dokumentation des Gezeigten begnügen. Neben den großzügig abgebildeten Titelbildern, Originalseiten, Kontaktabzügen und Verlagsdokumenten sind 17 der insgesamt 28 Essays von MedienwissenschaftlerInnen verfasst. Autorinnen wie Erika Doss, Dolores Flamiano, Alissa Schapiro, Mary Panzer, um nur eine Auswahl zu nennen, greifen dabei auf ihre langjährige Wissenschaftsarbeit zum Life-Journalismus zurück. Und dieser Gemeinschaft gelingt es, die legendäre Zeitschrift über vielfältige und sonst nur über Forschungsliteratur zugängliche Blickwinkel zu durchleuchten.
In ihrem Einführungsbeitrag wird Life von Bussard und Gresh recht nüchtern verortet: „Life war beliebt, aber als Produkt gebildeter Eliten war es entschieden bürgerlich und half dabei, die Normen, Werte und Geschmäcker dieser Klasse oder derjenigen, die danach streben, zu definieren. … Meistens verstärkten die Seiten des Magazins die Geschlechtsnormen, ethnischen und rassistischen Vorurteile und die Heteronormativität der Kernfamilie – alles Aspekte einer weißen amerikanischen Mittelklasse, die sich als zusammengehörig verstand.“[2] Der Bildjournalismus mit Amateuraufnahmen, wöchentlichen Zusammenfassungen von Nachrichtenfotos und schließlich gut geplanten Fotoessays stand von Beginn an im Dienst dieses Auftrags. Und es soll eben gerade darum gehen, wie gut man dieses Handwerk beherrschte.
Der erste Essay zum „Making Life Magazine“ gibt überraschende und neue Einblicke in die Frühphase des Magazins. Der Fotohistoriker Thierry Gervais vom Ryerson Image Centre, Toronto, berichtet von einem fast vergessenen Urheberprozess nach der Gründung des Magazins, klärt über die entscheidende Einflussnahme der Verlobten von Henry Luce, der Journalistin Clare Boothe Brookaw, auf und zeigt schließlich zwei wiederentdeckte Zeitschriftendummies aus der Hand von Kurt Szafranski. Die Mock ups sind Montagen aus Silber-Gelatine-Abzügen mit handgezeichneten und maschinengeschriebenen Beschriftungen und Kommentaren. Die Beiträge der deutschen Emigranten Kurt Korff und Kurt Szafranski zu Life werden damit über die historische Erwähnung hinaus überaus anschaulich.
Mary Panzer beschreibt Life als geschickt lancierte Bildillustrierte, flankiert durch die Wochenschau March of Time, an Werbeeinnahmen ausgerichtet, und als ein bebildertes Time-Reprint. Jason E. Hill thematisiert, wie ein wöchentliches Bildmagazin durch geschickte Redaktion und Szenarienplanung neben den Breaking News trotzdem eine eigene Medienwirkung entfalten konnte. Weitere Beiträge behandeln die Abgrenzung zum Konkurrenzmagazin Look und die Wirkung von Life in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre Thesen illustrieren die AutorInnen jeweils mit ausgewählten Titelbildern, Fotostorys oder Fotoessays.
Im zweiten Teil, „Inside The Pages“, häufen sich auf den ersten Blick die ikonischen, aber schon sehr oft gezeigten Bildstrecken: „Women in Steel“ von Margret Bourke-White, „V-J Day Kiss”von Alfred Eisenstaedt, “Nurse Midwife” von W. Eugene Smith und einige mehr. Die zugehörigen Essays offenbaren jedoch neue Einblicke in die Arbeit der FotografInnen und Redaktionen. Die Herausgeberinnen verweisen hierzu auf ein Zitat der Fotohistorikerin Carol Squiers: „Das Zuweisen von Bedeutung ist im Wesentlichen das, worum es beim Fotojournalismus geht. Die Bedeutung von Fotografien ist jedoch schlüpfrig und kompliziert, und jede von ihnen kann auf mehrere Arten definiert werden. Die explizite Interpretation von Fotografien wird hauptsächlich durch den sie umgebenden Diskurs bestimmt.“[3] Und genau diese Diskurse, die Prozesse von Selektion, Layout, Text und Bildunterschriften in den zeitweise sehr großen Redaktionsteams, werden hier rekonstruiert und gedeutet. In diesen Prozessen haben sich charakteristische Muster ausgeprägt, wie Ideen zu Reportagen wurden, wie diese mithilfe von Script-Books geplant und realisiert wurden, wie die Einbettung in Texte und Werbung durchdacht wurde und wie die Endergebnisse in der kollektiven Erinnerung verankert werden konnten. Die AutorInnen erweitern die Lesart der mittlerweile zu Ikonen erstarrten Bilder und ordnen sie wieder als Produkt ihrer Zeit und als Bestandteil eines Magazins ein, ohne ihnen die Bewunderung zu versagen.
Leider geht die Vielzahl der Beiträge auf Kosten von Orientierung und Struktur. Die zugehörige Ausstellung in Princeton ist in drei Sektionen mit sieben bis zehn Stationen gegliedert, die die BesucherInnen mit Untertiteln und Begleittexten durch die Fülle des Materials führen. Im begleitenden Buch müssen sich die LeserInnen diese Struktur selbst erschließen. Die gute Lesbarkeit, die Fülle der Bilder in hoher Druckqualität und das Layout in Life-typischem Weiß, Rot und Schwarz wirken zu diesem Zweck sehr anregend. Die Auseinandersetzung mit einer amerikanischen Bildillustrierten auf diesem Niveau hinterlässt unweigerlich die Frage, wie es in Europa um die Aufbereitung der großen Illustrierten der Vorkriegszeit steht. Die amerikanische Leichtigkeit, wissenschaftliche Forschungsergebnisse in für jedermann lesbare, hervorragend illustrierte Formate zu bringen, wird auch hier in Ausstellungskatalogen gepflegt. Für unsere großen Dokumente des Bildjournalismus, z.B. die Münchner Illustrierte Presse und die Berliner Illustrirte Zeitung, gibt es bisher jedoch weder vollständige Online-Datenbanken, noch gleichrangige Bildbände.
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[1] Princeton University Art Museum, Life Magazine and the Power of Photography, Spring 2020: https://artmuseum.princeton.edu/art/exhibitions/3612 (letzter Zugriff: 19.7.2020).
[2] Katherine A. Bussard, Kristen Gresh (Hg.): Life Magazine and the Power of Photography, New Haven and London: Yale University Press, 2020, S. 18.
[3] Ebenda.
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