Evelyn Runge
Mechanismen der Kriegsfotografie
Sophie-Charlotte Opitz: Bilderregungen. Die Produktionsmechanismen zeitgenössischer Kriegsfotografie, Ilmtal-Weinstraße: Jonas Verlag, 2020, 342 Seiten, 17 × 24 cm, 62 Abb., davon 27 in Farbe, kartoniert, 42 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021
Sophie-Charlotte Opitz untersucht in ihrem Buch Bilderregungen in fünf Hauptkapiteln die Produktionsmechanismen zeitgenössischer Kriegsfotografie. Im Zentrum stehen die FotografInnen Christoph Bangert, Shai Kremer, Paula Luttringer, Susan Meiselas und Simon Norfolk. Geboren zwischen 1948 (Meiselas) und 1978 (Bangert), befassen sie sich mit zu ihrer jeweiligen Schaffenszeit aktuellen Konflikten und Kriegen. Ihre Arbeitsweisen unterscheiden sich – manche sind biografisch motiviert (Luttringer, Kremer) – und werden von Opitz als ein Analyseaspekt genutzt. Opitz führte mit allen FotografInnen leitfadengestützte Interviews (S. 15), die persönliche Zugänge zur Fotografie an sich und den forschungsrelevanten Projekten freilegen. Als Teil einer komplexen visuellen Kultur sei die „Deutungshoheit über Bilder von Kriegs- und Konfliktereignissen“ immer politisch dimensioniert, so die Autorin (S. 13). Ihr Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, wie „die ästhetischen Konzeptionen von Kriegs- und Konfliktfotografie beeinflusst werden und beeinflussen, und hierdurch neue Bewegungen angestoßen werden, die stetig das Verständnis von Welt und Bild – sich selbst eingeschlossen – und die sich hierin eröffnenden Wirklichkeiten formen“ (S. 13). Dies ist wegweisend, da sich Opitz damit von der gängigen Dichotomie FotografIn versus RezipientIn abgrenzt und ein inklusiveres Modell für Folgeforschung etabliert.
Opitz konzentriert sich auf die Verortung der FotografInnen in der Welt und ihre Interaktion mit jenen, die sie fotografieren, und den Rezipierenden: „Statt der klaren Trennung in Produzent_in und Rezipient_in eröffnen die Untersuchungen der ästhetischen Konzeptionen und Dynamiken von Kriegs- und Konfliktfotografie eine reziproke Beziehung, die die Grenzen dieser Zuordnungen von der Person, die erstellt, und der Person, die erblickt, auflöst.“ (S. 252) Dieser Punkt ist unabhängig von digitaler Fotografie: In dieser wird die Hybridität der ProsumentInnen (nach Alvin Toffler) oder ProduserInnen (nach Axel Bruns) zwar offensichtlicher als im analogen Zeitalter. Vor allem aber geht es darum, das eigene Bewusstsein dafür zu schärfen, dass RezipientInnen und FotografInnen in Beziehung treten über die fotografischen Werke. Zu Recht führt Opitz aus, dass auch Rezipierende Verantwortung tragen und diese nicht auf FotografInnen abwälzen können. Obwohl Opitz es nicht direkt thematisiert, ist es doch noch immer außergewöhnlich, dass weibliche Fotografinnen in das Sample einbezogen sind.
Manche der FotografInnen sind in Kriege und Konflikte als BürgerInnen einbezogen gewesen, so entstand Paula Luttringers fotografisches Werk in Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit: Sie wurde als junge Frau während der argentinischen Militärdiktatur von der Junta entführt, an geheimen Orten gefangen gehalten und gefoltert (S. 67ff.). Lange konnte sie nicht über diese Zeit sprechen; ihre fotografische Arbeit kann als visuelle autoethnografische Recherche bezeichnet werden, in der sie andere Opfer interviewt und deren Erfahrungen und Wissen wiederum in ihre Fotografie einfließen lässt. Opitz befasst sich unter anderem mit Luttringers Serie aus Schlachthöfen. Gestalterische Mittel wie Unschärfe der Konturen, Dunkelheit, ungewohnte Perspektiven evozieren Beklemmung. In der hier reproduzierten unteren Abbildung ist Luttringers Schatten zu sehen: Sie schreibt sich selbst in ihr Werk ein, das ihre eigenen traumatischen Erfahrungen des ‚Verschwindens‘ projiziert (vgl. S. 73)
Ein verbindendes Element in den Arbeiten der von Opitz untersuchten FotografInnen ist die Beschäftigung mit dem Sehen und dem Nicht-Sehen-Wollens sowie deren Sichtbarmachung: Sie fordern damit die Rezipierenden heraus und deren Sehgewohnheiten sowie internalisierte Berufsethik – etwa welche Kriegsbilder in journalistischen Medien als druckbar gelten und welche nicht. Beispielhaft – und in der fotografisch interessierten Öffentlichkeit vielfach diskutiert – steht dafür Christoph Bangerts Fotobuch War porn: Bangert publizierte Fotografien, „die zumeist äußert brutale Kriegssituationen zeigen und weder von ihm persönlich noch von der Presse bisher veröffentlicht wurden“ (S. 43). Einige Seiten sind am äußeren Rand nicht durchtrennt; wer diese Aufnahmen betrachten möchte, muss aktiv die Seiten durch Schneiden oder Reißen öffnen. In Anlehnung an Bangerts Eigeninterpretation versteht Opitz diese Art der Unsichtbarmachung als auf mehreren Ebenen verlaufende Selbstzensur – der FotografInnen, der RezipientInnen und der Presse. Opitz selbst widersteht der Versuchung, einzelne Bilder einem Close Reading zu unterziehen – was bedeutet, dass die Lesenden von Opitz‘ Buch eben auch keine genaue Vorstellung des Bild-Horrors haben können.
Methodisch arbeitet Opitz mit Intra- und Intermappings. Damit werden Bezüge innerhalb des Werkes eines Fotografen hergestellt (Intramapping über Arbeitsweisen, Interessengebiete und Projekte; S. 36ff.) sowie in einem zweiten Analyseschritt zwischen den untersuchten FotografInnen (Intermappings der ästhetischen Dispositive in Ausstellung, ‚offener‘ Fotografie, Fotobuch und Internet; S. 137ff.). Dieses Verfahren erlaubt es, das Bild selbst als Ausgangspunkt zur Erörterung von Bildformeln zu nehmen und die visuellen Strukturen von Fotografien zu untersuchen. Ziel der Autorin ist es, durch dieses bildzentrierte Crossmapping (S. 30ff.) einen Raum zu kreieren, in dem „mediale, zeitliche, räumliche, kulturelle, politische und soziale Bezüge zur untersuchten Fotografie hergestellt werden können“ (S. 32) – Opitz charakterisiert Fotografien als fragmentarisch, multiperspektivisch und multinarrativ. Fotografie kann ein (re-) aktivierendes Medium sein: Auch Erinnerungen an Katastrophen verfallen mit der Zeit (S. 246). Die Komplexität kultureller Erinnerungen (S. 164) und das Spannungsfeld lokaler Bildproduktion und globaler Bildrezeption (S. 166) sind zwei der roten Fäden, die Opitz verfolgt. Als Leitmetaphern arbeitet sie den Körper über Infektion, Verletzung und Empfindung sowie die Kinetik als Stillstand und Bewegung heraus (S. 235ff.). Der Titel Bilderregungen verweist darauf in seiner Doppellesbarkeit: „Bilder-Regungen“ bezeichnet „Vorgänge, in denen Bilder etwas bewegen und etwas durch sie bewegt wird“ (S. 10). „Bild-Erregungen“ untersucht die Formgebungen der Bilder als das, was das Bild bewegt.
Dazu gehören auch technische Neuerungen: Was das Internet für Herausforderungen an FotografInnen stellt, arbeitet Opitz heraus am Vergleich von Susan Meiselas‘ frühem Web-Archiv akaKurdistan (ab 1998; S. 104ff., 174ff.), das aus ihrem Projekt Kurdistan: In the Shadow of History hervorging, und neueren plattformbasierten Arbeiten etwa des syrischen Fotokollektivs Lens Young Homsi (2012–2017; S. 182ff.). Opitz adressiert, dass Plattformen wie Facebook zwar einfachere Uploadmöglichkeiten und schnellere Zirkulation der Bilder unter einem potenziell globalen und diversen Publikum erreichen als eine von FotografInnen selbst gepflegte Webseite. Allerdings ist die Veröffentlichung auf Plattformen den Richtlinien der jeweiligen Betreiber unterworfen: „Sichtbarkeit im Kontext sozialer Netzwerke bedeutet folglich gelenkte und beherrschte Sichtbarkeit.“ (S. 185)
Opitz‘ Buch ist überaus elegant geschrieben. Umfangreiche und plurale Theorien spiegeln die Multiperspektivität der fotografischen Ansätze in Opitz‘ Forschung und deren buchförmige Aufbereitung selbst. Theoretische Anleihen bei Hans Magnus Enzensberger, Walter Benjamin, Susan Sontag, Ariella Azoulay, Anna Reading, Vilem Flusser, W.J.T. Mitchell und vielen mehr sind passgenau in die Argumentation eingefügt. Auch streut die Autorin immer wieder selbstreflektierende Passagen ein, etwa wenn sie auf die Leserichtung des Buches und damit scheinbar chronologische Abfolge verweist (S. 252) – die keineswegs dazu geeignet ist, den fragmentarisch-fluiden Charakter von Fotografie abzubilden und deshalb ebenso reflektiert werden muss: Es ist eine Stärke des Buches, diese so offensichtlichen und doch selten hinterfragten Aspekte auszusprechen. Die Ergebnisse werden ergänzend in Tabellen zusammengefasst, um etwa Bild-Ereignis (S. 206) oder Form-Inhalt (S. 234) darzustellen.
Sophie-Charlotte Opitz hat ein Werk vorgelegt, das bisherige Forschungsdesiderate aufgreift: In ihrem Buch kommen PraktikerInnen zu Wort. Sie prüft kritisch die gängigen fototheoretischen Annahmen: „So haben die hier verhandelten Projekte Sehgewohnheiten hinterfragt, Fragmente und Lücken zugelassen, multiperspektivische Sichtweisen integriert und aktiv Widersprüchlichkeiten erzeugt.“ (S. 257) Auch wenn die oft simultan verlaufenden Dynamiken für den Menschen nicht eindeutig und einmalig zu erfassen sind, sieht Opitz hierin vor allem Chancen statt Hindernisse: „Die Begegnung zwischen Blick und Fotografie, die auf das Vergangene im Gegenwärtigen gerichtet ist, kann Zukünftiges mitdenken und Bewegungen initiieren, die helfen, nicht mehr ausschließlich die Schrecken des Krieges zu sehen, sondern Wege zum Frieden zu erkennen.“ (S. 257) Mit diesem Plädoyer steht Opitz in einer Reihe mit neueren fototheoretischen Texten wie jenen von Robert Hariman und John Louis Lucaites, die Fotojournalismus als eine transformative Kraft zu einer besseren Gesellschaft verstehen.
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