Esther Ruelfs
Bilder des Alltags?
Imagining Everyday Life. Engagements with Vernacular Photography, hg. von Tina M. Campt, Marianne Hirsch, Gil Hochberg und Brian Wallis, Göttingen: Steidl, 2020 (Konferenzschrift Columbia University, 2018). Mit Beiträgen von Ariella Azoulay, Geoffrey Batchen, Ali Behdad, Elspeth Brown, Marianne Hirsch, Lily Cho, Nicole Fleetwood, Sophie Hackett, Patricia Hayes, Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Thy Phu, Leigh Raiford, Shawn Michelle Smith, Drew Thompson, Laura Wexler und Deborah Willis, 432 Seiten, 17 x 24,5 cm, 360 Abb. in Farbe, broschiert, englisch, 45 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021
Die Alltagsfotografie ist eine von Kunstgeschichte und Museen vernachlässigte fotografische Praxis, der erst seit Anfang der 1990er Jahre vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es waren Künstler*innen, die mit der Wende zum Digitalen vermehrt gefundene, private Fotografien, wie Bilder aus Familienalben, von Versicherungsfirmen oder Pressebilder, appropriiert haben; Kunstmuseen begannenn sich in Ausstellungen dem Schnappschuss anzunehmen, und die Fotogeschichtsschreibung – allem voran Michel Frizots Nouvelle histoire de la photographie (1994, dt. 1998: Neue Geschichte der Fotografie) – hat den Blick auf zuvor häufig übersehene Praktiken gelenkt. Artur Walther, der Ende der 1990er Jahre zu sammeln begann, integrierte die Alltagsfotografie in den letzten zehn Jahren sehr umfangreich in seine Sammlung. Schon für die Eröffnungsausstellung der Sammlungsräume in Neu-Ulm/Burlafingen hatte er 2010 einen außergewöhnlichen Denker und Theoretiker – Okwui Enwezor – engagiert. Daran anschließend vereint auch die neue, hier besprochene Publikation renommierte wie vielversprechende Wissenschaftler*innen vornehmlich US-amerikanischer Universitäten und Museumsleute wie Ariella Azoulay, Geoffrey Battchen oder Clément Chéroux, die das „neue“ Sammelgebiet diskutieren. Ausgangspunkt und Materialgegenstand sind die von Walther zusammengetragenen Bestände, aus denen die Vortragenden schöpfen und die das Buch reich bebildern. Als Konferenzschrift geht die Publikation auf eine Tagung im Jahr 2018 an der Columbia University zurück.
Die Diskussion und die Publikation gehen von dem Begriff der vernakulären Fotografie aus, der sich vor allem im angelsächsischen Sprachraum als vernacularphotography etabliert hat. Ein Teil der etymologischen Herleitung verweist auf das Gewöhnliche oder mit dem alltäglichen Leben Verbundene und schließt damit die künstlerische Fotografie aus. Der Bildteil der Publikation vereint sehr unterschiedliche Fotografien: Er zeigt Porträtaufnahmen mitsamt Rahmungen, die auf ihren Gebrauch hinweisen, ein Porträt als Fotopuzzle, Architekturaufnahmen von Tankstellen, Schnappschüsse, die Passant*innen auf der Straße zeigen, mit Porträts versehene Firmenausweise von Mitarbeiter*innen, Porträtaufnahmen einer Versicherungsgesellschaft oder Bilder aus Passbildautomaten. Der Bildteil umfasst aber auch Objektaufnahmen aus Musterbüchern, wissenschaftliche Fotografien einer Sonnenfinsternis, medizinische Aufnahmen, forensische Fotografien von Tatorten – Bilder, von denen man keineswegs sagen kann, dass sie den Alltag oder das Alltägliche zeigen. Im Deutschen würde man sie als Gebrauchsfotografien oder Fotografien aus angewandten Kontexten bezeichnen, die eher außergewöhnliche Szenen zeigen. Aus diesem Gegenstandsbereich sticht wiederum die Reise- und anthropologische Fotografie heraus, im 19. Jahrhundert in Afrika angefertigte sogenannte „Typenporträts“ europäischer Fotograf*innen oder Stereokarten eines amerikanischen Fotografen, der etwa den Abbau in Diamantminen zeigen. Den Rahmen für diese sehr unterschiedlichen Fotografien bildet der Begriff des „Vernakulären“, der aber auch aufgrund des ausgewählten Materials schon im ersten Kapitel an seine Grenzen gerät.
Der erste Teil des Buchs versammelt Beiträge, die den im Jahr 2000 von Geoffrey Batchen eingeführten Begriff zu definieren versuchen und dessen Potential und Grenzen als methodisches Instrument für eine heutige Analyse von Alltags-/Gebrauchsfotografien diskutieren. Nachdem Batchen gleich zu Anfang vorschlägt, ihn entweder nach zwanzig Jahren wieder abzuschaffen oder auf alle fotografischen Bilder anzuwenden, formulieren vor allem Ariella Azoulay und Patricia Hayes starke Einwände, die gegen dessen Gebrauch als Instrumentarium im kunstwissenschaftlichen und fotohistorischen Kontext sprechen. Beide Texte geben spannende Impulse zu dieser Debatte. Die Autorinnen argumentieren, jenseits der Diskussion um das Vernakuläre, aus postkolonialer Perspektive, und widmen sich Bildern aus kolonialen Kontexten, die von südafrikanischen und europäischen Fotograf*innen aufgenommen wurden. Sehr anschaulich untersucht Azoulay die Rolle der Fotografie und deren ontologische Gewalt anhand einer Reihe von Fotografien eines Basutu-Jungen. Erst die Recherchen zu den Bedingungen der Produktion machen ihn als Sklaven sichtbar. Die Fotografie habe Teil an der „Plünderung“ des visuellen Reichtums Südafrikas, sei damit eine Verlängerung imperialer Macht und mitverantwortlich für die Ausbeutung von „menschlichen Rohstoffen“. Mit Blick auf die Sammlungsbestände Walthers, dessen Länderschwerpunkt ihn zu einem der größten Privatsammler „afrikanischer Fotografie“ macht, stellt sie die Forderung nach Restitution in den Raum, nicht weil diese unrechtmäßig erworben worden sind, sondern weil die Fotografie per se ein geraubtes Bild sei. Sie wirft damit die Frage auf, wer diese Bilder heute „besitzen“ darf und wie man sie zeigen kann und darf. Batchen hatte in seinem Aufsatz als Teil des Vernakulären die Verbindung zum Lokalen und damit zur „Volkskunst“ gesehen und neben den Bildern von Knipser*innen und Amateur*innen, die wir nah am Körper tragen, den Daguerreotypien und Tintypes oder dem Fotoschmuck auch Beispiele einer Vielzahl vernachlässigter indigener Praktiken hinzugefügt, wie etwa vergoldete Albuminabzüge der Ureinwohner Amerikas oder mexikanische Fotoskulpturen. Die ethnografische Fotografie oder die Reisefotografie als vernakulär zu bezeichnen, kritisiert Ali Behdad in der Diskussion zu Recht. Gleichzeitig problematisiert er, dass der Begriff in den letzten zwanzig Jahren bis zur Bedeutungslosigkeit erweitert wurde, was sich auch in der übervollen Auswahl an Bildbeispielen niederschlägt.
Ein weiterer Aspekt, den Batchen in seinem Aufsatz betont, berührt die Rolle der Alltagsfotografie, die als oppositionell zu der praktizierten Fotogeschichtsschreibung zu verstehen sei. Diesem widerständigen Moment gehen im Kapitel zur Performance und Transformation verschiedene Essays nach, die sich persönlichen Fotografien als Mittel der Selbstrepräsentation widmen. So etwa der Beitrag Sophie Hackerts, die das fotografische Netzwerk der Crossdresserin Bobbie aus den 1960er Jahren behandelt, oder Elspeth H. Browns Aufsatz, der die Bodybuilding-Fotografie der amerikanischen Physiques-Szene der Nachkriegszeit untersucht. Verschiedene Beiträge diskutieren die Auffassung von Fotografie als Instrument der politischen Veränderung oder der persönlichen Selbstvergewisserung der eigenen Identität; gleichzeitig thematisieren sie in der Tradition Allan Sekulas das „Schattenarchiv“ mit seinen rassistischen und einschränkenden Implikationen. Auch wird in dem Kapitel deutlich, wie essentiell die gesammelten Informationen über die Hersteller*innen der Fotografien und die Kontexte der Fotografien für die Lesbarkeit der Geschichten sind. Diese persönlichen Geschichten hinter den Bildern werden auch anhand eines Beispiels in der Kapiteleinleitung von Gil Hochberg deutlich, einer Aufnahme, die sie selbst als Kind zeigt und auf berührende Weise die Fotografie als Werkzeug des Empowerment beschreibt. Während der überwiegende Teil der Beiträger*innen ihre Bildbeispiele aus der Sammlung Walther wählen, nutzen sie und zwei weitere Beiträger*innen persönliche Bilder, die aus ihren eigenen Archiven stammen. Nicole R. Fleetwood untersucht Bilder, die im Gefängnis von ihren inhaftieren Cousins entstanden sind, und fragt nach dem Alltäglichen im Zustand der Gefangenschaft und der Funktion der von den Gefängnissen zur Verfügung gestellten Fotostudios und deren meist handgemalten Hintergründen. Ali Bahdad zieht sein Familienarchiv heran und verfolgt die Auslöschung der weiblichen Familienmitglieder in der iranischen fotografischen Praxis. Die Frage, ob das Vernakuläre heute noch ein brauchbarer Begriff sei, ist am Ende zugunsten der vielen Fallstudien weit in den Hintergrund gerückt. Viel wichtiger scheint die Frage, wie man eine Sprache entwickeln kann, die von den Objekten anders als in einem rein künstlerischen und ästhetischen Sinne spricht.
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