Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Sophia Gräfe

Das operative Bild
Bildlektüren im Fotoarchiv der Stasi

Philipp Springer: Der Blick der Staatssicherheit. Fotografien aus dem Archiv des MfS, hg. von dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Dresden: Sandstein Verlag, 2020, 328 Seiten, 25,5 x 19 cm, 335 teils farbige Abb., Klappenbroschur, 29 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021

 

Noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands hält die Suche nach einem erinnerungspolitischen Umgang mit der DDR-Zeit an. Während sich eine verstärkte Beschäftigung mit den sozialpsychologischen Nachwirkungen von SED-Diktatur und Wende in der gesamtdeutschen Forschungs- und Bildungspolitik in Reaktion auf gesellschaftliche Spannungen abzeichnet, erfährt die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) eine entscheidende Transformation. Im Sommer 2021 werden ihre MitarbeiterInnen und Bestände dauerhaft dem Bundesarchiv unterstellt. Auf einem „Campus für Demokratie" am Ort der ehemaligen Zentrale des DDR-Geheimdienstes in Berlin-Lichtenberg soll die Aufarbeitungs- und Bildungsarbeit des wohl beispiellosen Archivprojektes in neuer Nachbarschaft zu den Beständen der im Besitz des Bundes befindlichen Unterlagen zur staatlichen Verwaltung der DDR und der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) weitergehen. Die Robert-Havemann-Gesellschaft, welche das „Archiv der DDR-Opposition“ verwaltet, ist bereits 2017 auf dem Gelände eingezogen.  Mitten in diese Entwicklungen trifft ein spektakuläres Editionsprojekt. Der Historiker Philipp Springer, seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter der BStU, hat einen umfangreichen Bildband zu Fotografien aus dem Archiv des MfS erarbeitet. Mit Der Blick der Staatssicherheit will er das Spektrum der in Wissenschaft und Gesellschaft bekannten Bilder des MfS erweitern und neue Erkenntnisse zur Fotopraxis und -theorie des Geheimdienstes zu Tage bringen. 335 weitere Fotografien aus der Ablage der Stasi werden so öffentlich.

Es ist methodisch klug, dass Springer in einem einleitenden Aufsatz sogleich den wesentlichen Singular seines Titels, den Blick der Staatssicherheit, in mindestens zweifacher Hinsicht relativiert.[1] Zunächst fand er eine Vielzahl unterschiedlicher Verwendungsweisen der Fotografie in den Akten des Geheimdienstes vor. Neben Observationsaufnahmen, Fotografien zur Vorhersage von potentiellen Feindeshandlungen, Tatort- und Häftlingsfotografien lassen sich u.a. Mitarbeiterporträts und gestellte Aufnahmen von Höhepunkten des MfS-Alltages sowie beschlagnahmte Fotografien der DDR-Bevölkerung finden. Zudem geht auch er von einer interpretativen Offenheit des fotografischen Bildes aus, was eine Unterteilung des Bestands in distinkte Kategorien vereitelt. Springers Selektion aus den über 1,85 Millionen überlieferten Aufnahmen resultiert entsprechend nicht aus einer Statistik, sondern der persönlichen Einschätzung eines kundigen Mitarbeiters des Archivs. In dessen Tektonik ist Springer spätestens seit seiner Rolle als Ko-Autor der Publikation Das Gedächtnis der Staatssicherheit (2015) über die zentrale Kartei des MfS bestens eingearbeitet.[2]

Nach zwei Jahren der Recherche im Berliner Hauptarchiv und den Nebenarchiven der ehemaligen MfS-Bezirksverwaltungen hat sich eine offene Reihe von „Fototypen“[3] ergeben, die Springer nun in den sieben Unterkapiteln seines Buches porträtiert. Das Textformat kommentierter Fundstücke, bisweilen Kuriosa, hatte Springer bereits 2017 gemeinsam mit Kollegen der Archivabteilung der BStU in seiner letzten Monografie Verschluss-Sachen. Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit[4] erprobt. Für eine eingehendere Analyse der historischen Entwicklung der Bildverwendung des MfS zieht er ergänzend zu Fotografien, Personal- und Fallakten vor allem Schriftgut aus dem Kontext der Ausbildung der Geheimdienstler an der Juristischen Hochschule Potsdam zurate, allen voran das interne „Lehrbuch Kriminalistische Fotografie und ihre Verwendung in der politisch-operativen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit“ (1979)[5]. Dieses, auch theoretisch argumentierte, Wissen über die Rolle und Funktionsweise geheimdienstlicher Fotografien fließt nun in die kurzweiligen Bildkommentare des Bandes ein.

So zeigen die von Springer unter der Nummer 2/64–67 aufgeführten Fotografien eine in die Latzhose eines MfS-Mitarbeiters für seine Abschlussarbeit an der Juristischen Hochschule Potsdam eingebaute Fotokamera nebst Testaufnahmen. Das unter 3/15 aufgeführte Bild eines gewöhnlichen Ostseestrandes mit Dünen und Strandkörben weist eine kreuzförmige Markierung in der Mitte der sich brechenden Wellen auf. Diese verzeichnet den „Ereignisort eines Fluchtversuchs zweier Männer über die Ostsee“ im September 1976. Abbildung 3/22 stellt eine auf Distanz geschossene Fotografie eines Begräbnisses dar. Aus dem Text und den weiteren Bildern ist zu entnehmen, dass es sich hier um die Beschattung einer Trauerfeier für ein bei der gemeinsamen Flucht über die innerdeutsche Grenze in einem Kofferraum verstorbenes Kindes handelte, dessen Eltern nach Entdeckung des Fluchtversuches observiert wurden. Auch wenn sich in Springers Band vor allem Aufnahmen finden lassen, die auf den ersten Blick teils gewöhnliche, fast banale Motive zeigen, so hat er diese in Hinblick auf das in ihnen wirkende Spannungsfeld von ruhiger Oberfläche und geheimdienstlicher Gewalt ausgesucht. Diese Vorgehensweise grenzt die Ästhetik des Bandes entschieden von den zwei bis dato bekannten Fotobänden zum MfS ab. Die künstlerischen Collagen von Arwed Messmer im Bildband Reenactment MfS[6]warteten 2014 mit vergleichsweise expliziten Gewaltdarstellungen auf. Die Zusammenstellung des Künstlerbuches von Simon Menner, Top Secret: Bilder aus den Archiven der Staatssicherheit (2013), wiederum enthält einige, heute als ikonisch geltende Aufnahmen, wie die Verkleidungsfotos aus der Ausbildungspraxis der verdeckt agierenden Beobachter des MfS.[7] Der vorliegende Band fällt ungleich stiller aus.[8]

Dabei kommt dem Projekt zugute, dass Springer mithilfe seines Zugangs zur Archivdatenbank der BStU nicht nur frei in der zu 79 Prozent erschlossenen Bildsammlung (Stand 2018), sondern auch nach etwaigen Vermerken zu Fotografien im Schriftgut des Archivs recherchieren konnte. Dieser exklusive Blick quert den erfahrungsgemäß auf einzelne Fallbeispiele, konkrete Personen und spezifische Orte fokussierten Blick der wissenschaftlichen Befragung des Stasiunterlagensarchivs und erlaubt die strukturelle Befragung des geheimdienstlichen Bildes. Die Bandbreite seiner Darstellung, schreibt Springer, „(...) ließ sich vor allem dadurch gewährleisten, dass nicht ein zuvor festgelegtes Themenkorsett die Recherchewege vorgab.“[9] Bedauerlicherweise wird mit dieser Aussage zugleich ein blinder Fleck in Springers vornehmlich kritischen Auseinandersetzungen mit den bisherigen Veröffentlichungen zum Thema berührt. Seit 2004 gelten vor allem die geschichtswissenschaftlichen Publikationen von Karin Hartewig und KollegInnen (z.B. Das Auge der Partei und Die DDR im Bild, beide 2004[10]) sowie Annette Vowinckel (Agenten der Bilder, 2016, und gemeinsam mit Michael Wildt und Jan-Holger Kirsch Fotografie in Diktaturen, 2015[11]) als Orientierungshilfe für fotohistorische Forschungen in Staatssicherheit und DDR. Ihnen wirft Springer eine wacklige Datengrundlage und unsaubere Einteilung der fotografischen Kategorien (Hartewig), gar eine Einengung des Verhältnisses von Fotografie und Diktatur auf den Aspekt der Propagandafotografien (Vowinckel/Wildt/Kirsch) bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Bedeutung der MfS-Fotografie für eine Analyse von Gewaltherrschaft vor. Diese im Genre einer Abgrenzung zum bisherigen Forschungsstand verfassten Passagen wären zu vernachlässigen, deuteten sie nicht auf einen vom Autor weitgehend konservierten Singular hin – das Archiv. So existieren sowohl für die mediale Öffentlichkeit als auch für die von der Arbeit des MfS betroffenen Privatpersonen, für externe WissenschaftlerInnen oder die Angestellten der BStU aus ethisch nachvollziehbaren Gründen des Datenschutzes unterschiedliche Zugänge zum Archiv, von dem allenfalls im Plural zu sprechen wäre. Im kollektiven Bildgedächtnis ist das Erbe des MfS längst in Archive zersplittert.

Obwohl der Forderung des Autors nach einer systematischen und notwendig vergleichenden Perspektive auf die fotografische Praxis des MfS – in mehreren Abteilungen und in mehreren Fällen – zweifelsohne zuzustimmen ist (der Autor erwähnt in seiner Einleitung zudem auch das weitgehend fehlende Vergleichsmaterial aus Geheimdienstarchiven des DDR-Auslands), so ist diese in der bisherigen Auslegung der Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in der Praxis wissenschaftlichen Forschens nicht möglich. Da sich Forschungsprojekte zumeist auf bereits bekannte, gar veröffentlichte Archivalien in der Argumentation ihrer Archivanfrage stützen müssen, ergeben sich die vom Autor monierten Auslassungen und Kanonisierungseffekte von ganz allein. Für eine sinnvolle Ausweitung der historischen Bildforschung zum MfS müsste sich der Autor nicht in Konkurrenz, sondern vielmehr in Allianz zur externen Forschung für einen pluralen Ansatz der Visual History begeben. Die Geschichte des Bildgedächtnisses von DDR und MfS beweist, dass sich darin seit Anbeginn Journalismus, Wissenschaft und Kunst in produktiver Dissonanz ergänzen. Der Journalist Siegbert Schefke hatte einst gemeinsam mit Aram Radomski die Bilder der Montagsdemonstrationen in Leipzig an das westdeutsche Fernsehen geleakt. Auch von einem Journalisten stammt das viel später gemeinsam mit der BStU realisierte DVD- und Lehrprojekt FEINDBILDER – Die Fotos und Videos der Stasi (Holger Kulick, 2006)[12], welches neben Bildern aus den Beständen der BStU sogenannte Täterinterviews enthält. Ebenfalls breitenwirksam fiel die öffentliche Projektion von Filmen aus den Beständen der BStU im Rahmen der 2009 von Karin Fritzsche, Dietmar Kammerer und Barbara Wurm kuratierten Filmreihe Kino der Geheimdienste im Zeughauskino Berlin aus. Den oben bereits erwähnten künstlerischen Positionen wären exemplarisch nur zwei aktuelle Ausstellungsprojekte an die Seite zu stellen. Die Gruppenausstellung Artist and Agents (2020) im Dortmunder Hartware MedienKunstVerein bearbeitete die Einflussnahme von Geheimdiensten aus der ehemaligen Ostzone auf die jeweilige Schauspiel- und Performanceszene und stellte selbst Fragen an die Performativität geheimdienstlicher Überwachung. In der Schirn Kunsthalle in Frankfurt eröffnete im Herbst 2020 die Ausstellung WE NEVER SLEEP, welche sich mit der Rolle geheimdienstlichen Handelns für Motive und Konzepte zeitgenössischer Kunst beschäftigt. Erneut war dort die künstlerisch-biografische Serie Auf weitere gute Zusammenarbeit (1993) von Cornelia Schleime zu sehen.

Dass Springer nun gestützt durch eine Herausgeberschaft der BStU neue Schneisen in den Archivbestand der Staatssicherheit schlägt, verbunden mit der Einladung zum weiteren Studium, lässt sich als Zeichen einer sich wandelnden Forschungspolitik lesen. Gemeinsam mit der „Stasi-Mediathek“ auf der Website der BStU[13], dem Citizen Science Projekt „Spurensuche“[14], in dem BürgerInnen bislang fehlende Informationen zu verwaisten Bild- und Filmaufnahmen einreichen können, deutet sich hier ein gesteigertes Interesse der Institution an einer diversen Archiv- und Quellenexpertise an. Ein Nebeneffekt dieser Öffnung könnte eine interdisziplinäre Forschung an den Bildern des MfS sein, in der nicht nur der Bezug zu einer Fallakte oder zu einer registrierten Personalie für die Rekonstruktion der visuellen Logik der geheimdienstlichen Überwachung Gewähr leisten kann. Im Sinne der Wissensgeschichte und Bildwissenschaft als Archiv- und Foto-Objekte[15] verstandene Bilder müssten die Fotografien in einer nächsten Publikation in ihrer tatsächlichen Überlieferung im Archiv, inklusive Nutzungsspuren, Stempeln, Beschriftungen usw., erfahrbar sein. Hier hat Der Blick der Staatssicherheit für allzu glatte Oberflächen gesorgt. Ebenfalls müsste die Archivtektonik und -registratur in die bildliche Darstellung eingehen – auch wenn sich hierdurch Leerstellen in Überlieferung und Erschließung schmerzlich zeigen. Die im Band anklingende Frage Springers nach der historiografischen Güte dessen, was nicht in den Bildern zu sehen oder nicht im BStU-Archiv enthalten ist, kann hierfür maßgeblich sein.

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1] Philipp Springer: Das operative Foto. Entstehung, Funktion und Überlieferung der Bilderwelt des MfS, in: ders.: Der Blick der Staatssicherheit. Fotografien aus dem Archiv des MfS, Dresden 2020, S. 6-31.

[2] Philipp Springer, Karsten Jedlitschka (Hg.): Das Gedächtnis der Staatssicherheit. Die Kartei- und Archivabteilung des MfS, Göttingen 2015.

[3] Springer, (Anm. 2), S. 12.

[4] Philipp Springer, Karsten Jedlitschka, Jens Niederhut (Hg.): Verschluss-Sachen. Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit, Berlin 2017.

[5] Siegfried Siebert: Lehrbuch Kriminalistische Fotografie und ihre Verwendung in der politisch-operativen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit, 2 Bde., [Potsdam 1979]. [BStU, MfS, VVS JHS 001 Nr. 161/79 (BStU-Bibliothek Sign. 90/302 I und II)].

[6] Arwed Messmer: Reenactment MfS, Ostfildern 2014.

[7] Simon Menner: Top Secret: Bilder aus den Archiven der Staatssicherheit, Ostfildern 2013.

[8] Nur die fotografischen Serien von Jens Klein verfolgen ein ähnliches Prinzip, siehe z.B. Jens Klein: Hundewege: Index eines konspirativen Alltags, Leipzig 2013 und ders.: Sunset, Leipzig 2018.

[9] Vgl. Springer, (Anm. 2), S. 28.

[10] Karin Hartewig: Das Auge der Partei: Fotografie und Staatssicherheit, Berlin 2004 und Karin Hartewig: Die DDR im Bild: zum Gebrauch der Fotographie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004.

[11] Annette Vowinckel: Agenten der Bilder: fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016 und dies., Michael Wildt, Jan-Holger Kirsch: Fotografie in Diktaturen, Göttingen 2015.

[12] Holger Kulick: Feindbilder. Die Fotos und Videos der Stasi, DVD, ca. 236 Min., Berlin 2006, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung.

[13] Online-Mediathek der BStU: https://www.bstu.de/suche/stasi-mediathek/  (Zugriff: 22. September 2020).

[14] Citizen Science Projekt Spurensuche der BStU: https://www.bstu.de/archiv/spurensuche/ (Zugriff: 22. September 2020).

[15] Siehe u.a. Elizabeth Edwards und Janice Hart: Photographs Objects Histories: On the Materiality of Images, New York 2004; Costanza Caraffa: Photographic Itineraries in Time and Space: Photographs as Material Objects, in: Gil Pasternak (Hg.): The Handbook of Photography Studies, London 2020, S. 79-96 sowie Julia Bärnighausen, Costanza Caraffa, Stefanie Klamm, Franka Schneider, Petra Wodtke (Hg.): Foto-Objekte. Forschen in archäologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Archiven, Berlin 2020.

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