Christina Natlacen
Aenne Biermann: Genaue Blicke auf die Welt
Simone Förster, Thomas Seelig (Hg.): Aenne Biermann. Fotografin, Zürich: Scheidegger & Spiess, 2020. Mit Texten von Simone Förster, Olivier Lugon, Stefanie Odenthal, Rainer Stamm, Katharina Täschner und Anna Volz, Monografie erschienen anlässlich der Ausstellung „Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen“ der Stiftung Ann und Jürgen Wilde in der Pinakothek der Moderne, München, 12. Juli bis 13. Oktober 2019, und im Museum Folkwang, Essen, 21. Februar bis 1. Juni 2020, 184 Seiten, 28 x 21 cm, 68 Abb. in Farbe und 35 Abb. in S/W, broschiert, 38 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021
Aenne Biermann (1898–1933) zählt zu jenen FotografInnen der Weimarer Republik, deren Werk sich aufgrund seiner Vielseitigkeit einer einfachen Etikettierung entzieht. Es setzt sich aus Nahaufnahmen von Pflanzen und Gesteinen, Porträts und Aktdarstellungen, Stillleben und Objektfotografien, Blicken auf die urbane und die Natur-Landschaft sowie zahlreichen Fotografien von Kindern zusammen. Aus der Amateurfotografie hervorgegangen und im Kontext des Neuen Sehens angesiedelt, beinhaltet es gleichermaßen Experimente der Avantgarde, stille Beobachtungen im privaten Umfeld, wissenschaftliche Aufnahmen sowie einzelne Werbefotografien. Bezeichnend für ihre Arbeiten ist ein Komponieren mit starken Schwarz-Weiß-Kontrasten, die aus dem Einsatz von Licht als elementarem Gestaltungsmittel hervorgehen. Obwohl ihr Œuvre im großbürgerlichen Umfeld der thüringischen Stadt Gera entstanden ist, muss Biermann den Vergleich mit FotografInnen, die in Großstädten, allen voran der Metropole Berlin, oder im Umfeld des Bauhauses tätig waren, nicht scheuen. Die innerhalb nur weniger Jahre – nämlich zwischen 1925 und 1933 – entstandenen Fotografien wurden zu ihren Lebzeiten national und international ausgestellt und wiederholt in Zeitschriften publiziert. Nur ein kleiner Teil an Originalabzügen konnte von ihrem zur Emigration gezwungenen Ehemann nach Palästina gerettet werden und bildet mit jenen Werken, die bereits zu Lebzeiten in öffentliche Sammlungen aufgenommen wurden oder sich in privaten Nachlässen erhalten haben, den heutigen Bestand.
Mehr als dreißig Jahre sind bereits vergangen, seit 1987 die erste Aenne Biermann gewidmete posthume Einzelausstellung im Museum Folkwang stattfand. 2020 wurde erneut in Essen eine Retrospektive dieser Fotografin gezeigt, die aus einer von Simone Förster 2019 für die Pinakothek der Moderne in München kuratierten Schau hervorging.[1] Sie stützte sich maßgeblich auf Bestände der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, die Werke der Fotografin unter anderem über den Nachlass von Franz Roh in ihre Sammlung integrierte, sowie auf die Bestände des Museums Folkwang Essen und wurde ergänzt um Werke aus weiteren öffentlichen und privaten Sammlungen. Die zur Ausstellung erschienene Monografie ging aus der Zusammenarbeit der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, der Pinakothek der Moderne München und dem Museum Folkwang Essen hervor. Sie stellt mit ihren sechs Textbeiträgen die bislang umfassendste Publikation zu Biermann dar und besticht zudem gleichermaßen durch die großformatigen Abbildungen von fast siebzig Werken sowie die äußerst sorgsame grafische Gestaltung. Es ist auf überzeugende Weise gelungen, in Wort und Bild Substanzielles über das Werk der jung verstorbenen und bis heute vorwiegend in Fachkreisen bekannten Fotografin zu vermitteln. Mit seinem Konzept, Bildstrecken und Aufsätze alternierend in eine rhythmische Abfolge zu setzen, hat das Buch sowohl als wissenschaftliche Fachpublikation als auch als fotoessayistischer Band Bestand. Während sich die Textbeiträge einerseits der historischen Rekonstruktion von Leben und Werk von Aenne Biermann unter besonderer Berücksichtigung ihrer Veröffentlichungs- und Ausstellungspraxis widmen und andererseits thematisch ausgerichtet sind, zeichnen sich die Bildstrecken durch das Prinzip einer motivischen und chronologischen Durchmischung aus. In diesem Gestaltungsansatz zollt die Grafikerin Nicola Reiter dem historischen Kontext Tribut, während es ihr gleichzeitig gelingt, einen neuen Zugang zu den Fotografien zu erproben.
Aenne Biermanns einzige zu Lebzeiten realisierte Buchveröffentlichung erschien 1930 als zweiter Band der von Franz Roh konzipierten Reihe Fototek im Verlag Klinkhardt & Biermann und rangierte damit an vorderster Front der Neuen Fotografie.[2] Bereits in dieser Publikation, für deren grafische Gestaltung sich Jan Tschichold verantwortlich zeichnete, fällt eine Abfolge der Bilder nach dem „Prinzip eines zusammenhanglosen Nebeneinanders“[3] auf, das Olivier Lugon in seinem ursprünglich für die Études photographiques verfassten und nun erstmals ins Deutsche übersetzten Aufsatz dazu veranlasst, Parallelen zu Kinderbüchern, die durch einen Gestus des Zeigens Wissen über die Welt anhand von Bildern vermitteln wollen, zu ziehen. Eine andere Interpretation schlägt hingegen Hans-Michael Koetzle in einem Beitrag vor, der den 2019 erschienenen Faksimile-Reprint von Aenne Biermann: 60 Fotos ergänzt. Er meint, das Besondere dieses Bandes liege darin, dass „eine Autorin mit einem Buch auf sich aufmerksam [mache], das nicht irgendein Thema fotografisch illustrierte, sondern Bilder präsentierte, die – jedes für sich – als ‚Werke‘ überzeugen sollten.“[4] Auch die Tatsache, dass Biermann für Ausstellungen großformatige Abzüge von ihren Negativen erstellte, unterstreicht ihren künstlerischen Anspruch an die Betrachtungsweise der Bilder. Charakteristisch für 60 Fotos, dessen Bildauswahl neben Franz Roh die Fotografin selbst verantwortete, ist darüber hinaus eine fortlaufende Abfolge von einer Abbildung pro Seite. Dadurch ergeben sich auf jeder Doppelseite Bildpendants, deren primäres Merkmal darin auszumachen ist, dass jeweils zwei Motive miteinander kommunizieren. Auch in ihren Ausstellungen zu Lebzeiten wurde die Gruppierung der Fotografien besonders reflektiert. In einer Besprechung der Einzelausstellung im Jenaer Kunstverein im Jahr 1930 wurde erwähnt, „dass nicht inhaltlich, auch nicht formal, sondern wesenhaft Verwandtes zusammengestellt ist“, wodurch „jede ermüdende langweilige Aneinanderreihung ausgeschlossen ist“[5]. Dieses ‚wesenhaft Verwandte‘, so Simone Förster in ihrem Katalogbeitrag, liege „in Struktur, Form oder auch im neuartigen Blick“ und äußere sich als ein „Kompositionsprinzip, das Narrationen eröffnet“[6]. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Franz Roh Schüler und Assistent von Heinrich Wölfflin war, der formale Bildvergleiche zum Grundprinzip seiner kunsthistorischen Methode erhob.
Vor dem Hintergrund dieser Publikations- und Ausstellungspraxis von Aenne Biermann geht Nicola Reiter in der Gestaltung des Essener Katalogs einen eigenen Weg. Die Abbildungen formieren sich zu sieben Bildessays im Umfang von jeweils circa 20 Seiten, wobei nun jedoch Querformate über eine Doppelseite gezogen werden und in vielen Fällen Hochformaten eine Vakatseite gegenübergestellt wird. So wird den Fotografien viel Raum zugestanden und es ist möglich, die Vintageprints in all ihren Details zu betrachten. Als Verweis auf Tschicholds Buchgestaltung versteht sich die Entscheidung, die Abbildungen nicht in ein festes Raster einzufügen, sondern in Bezug auf ihre Positionierung unterschiedliche Möglichkeiten auszuschöpfen. Dadurch erhält das Einzelbild eine bisher in Druckerzeugnissen zu Aenne Biermanns Werk noch nicht gekannte Präsenz, gleichzeitig wird eine große Offenheit hinsichtlich der Interpretation der Bilder in ihrer Zusammenschau geschaffen. Die Publikation Aenne Biermann. Fotografin erweist sich nicht nur in den sorgfältig recherchierten und um zahlreiche Abbildungen der Originalquellen ergänzten wissenschaftlichen Textbeiträgen, sondern auch in Hinblick auf das gestalterische Katalogkonzept als überaus geglücktes Projekt, das Biermanns Werk gleichermaßen historisch Reverenz erweist wie es dieses im Heute verortet.
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[1] Vgl. Simone Förster (Hg.): Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen, München 2019. Diese Publikation begleitete die Ausstellung der Stiftung Ann und Jürgen Wilde.
[2] Vgl. Aenne Biermann: 60 Fotos, hg. und mit einer Einleitung von Franz Roh, Berlin 1930.
[3] Olivier Lugon: Neue Sachlichkeit, neue Pädagogik. Zum Band Aenne Biermann. 60 Fotos, in: Simone Förster und Thomas Seelig (Hg.): Aenne Biermann. Fotografin, Zürich 2020, S. 151-157, hier S. 155.
[4] Hans-Michael Koetzle: „Behutsam fasst sie die Dinge an, die ihre Augen sehen.“ Bemerkungen zum Reprint von Aenne Biermann: 60 Fotos, in: Aenne Biermann: 60 Fotos, erweiterter Neudruck, München 2019, S. 80-86, hier S. 81.
[5] E.C.O., Photo-Ausstellung des Kunstvereins im Prinzessinnenschlösschen, in: Jenaer Volksblatt, 30.6.1930, 41. Jg., 1930, Nr. 129, zit. nach Simone Förster: Das intuitive Erfassen optischer Reize. Bemerkungen zur Fotografin Aenne Biermann, in: Simone Förster und Thomas Seelig (Hg.): Aenne Biermann. Fotografin, Zürich 2020, S. 21-31, hier S. 25.
[6] Förster, (Anm. 5), S. 26.
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