Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Maxie Fischer, Erdmut Wizisla

„Wir müssen imaginieren“

Ein Gespräch über Bertolt Brecht, Michael Schmidt und die Arbeit mit Archivmaterialien

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021

 

1955 wurde Bertolt Brechts Kriegsfibel erstmals in der DDR veröffentlicht. 1996 erschien Michael Schmidts Künstlerbuch Ein-heit im wiedervereinten Deutschland. Beide Publikationen setzen sich mit der deutschen Geschichte, insbesondere des Zweiten Weltkrieges, auseinander und untersuchen anhand von Medienbildern die Aussagekraft von Fotografie. Prof. Dr. Erdmut Wizisla und Maxie Fischer haben im August 2020 ein Gespräch über die Bücher und die wissenschaftliche Arbeit mit Archivmaterial geführt.

Maxie Fischer: Die Idee unseres Gesprächs ist, ein Buch mit einem anderen Buch zu lesen, sie also miteinander interagieren zu lassen, um neue Einblicke zu gewinnen und das Eine mit Hilfe des Anderen zu verstehen. Als ich anfing, mich näher mit Brechts Kriegsfibel auseinanderzusetzen, war ich erstaunt, dass die Kriegsfibel als Stiefkind der Forschung bezeichnet wurde. Im Vergleich zur Auseinandersetzung mit Schmidt oder fotografischen Publikationen im Allgemeinen, erschien mir die Kriegsfibel zumindest immer wieder Thema der wissenschaftlichen Diskussion zu sein. Anhand der Jahreszahlen der jeweiligen Publikationen ist jedoch ersichtlich, dass sich die Forschung erst in den letzten Jahren der Kriegsfibel zuwandte. Was glauben Sie, woran das liegt?

Erdmut Wizisla: In den letzten 20 Jahren ist besonders viel zur Kriegsfibel publiziert worden: Ich denke an Arbeiten von Georges Didi-Huberman, Tom Kuhn, Saskia Fischer, Kristopher Imbrigotta, Grischa Meyer oder an die faszinierende künstlerische Reaktion auf das Buch von Adam Broomberg & Oliver Chanarin: War Primer 2. Natürlich gibt es etwa zur Dreigroschenoper sehr viel mehr Artikel, Aufsätze und Bücher, sie gehen in die Hunderte. Verglichen damit, ist die Kriegsfibel nicht so beleuchtet. Das gegenwärtige Interesse an der Kriegsfibel ist meiner Meinung nach verbunden mit einer allgemeinen Zuwendung zum Bild. Im Brecht-Archiv ist das Material in den ersten Jahrzehnten vor allem über Inhalte begriffen worden, eine aus heutiger Sicht einseitige, ja fast paradoxe Perspektive. Fotos wurden auf ihre Bildinformationen hin untersucht. Dass wir in den Sammlungen des Archivs Abzüge haben, die als Objekte zum Teil einen ungeheuren Wert darstellen, ist in den ersten Jahrzehnten der Archivarbeit nicht beachtet worden. Es war eine Pionierzeit, in der es darum ging, die Sachen überhaupt erst einmal zu sichten. Nehmen wir etwa die Modellbücher oder die Kriegsfibel, da interessiert heute auch die Materialität. Was liegt da genau vor? Welche Formate und welches Material hat man verwendet? Was ist das für ein Karton, mit dem Brecht gearbeitet hat?

Maxie Fischer: Das ist ein sehr interessanter Punkt, da künstlerische Arbeiten wie Ein-heit von Schmidt, Zeitungsfotos von Thomas Ruff und Die Toten von Hans-Peter Feldmann in eben dieser Zeit des Iconic bzw. Pictural Turn entstanden sind. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass die erneute Auseinandersetzung mit Bildmaterial aus Medienkontexten in den 1990er Jahren mit genau dieser Hinwendung zum Bild in der Wissenschaft zusammenfällt. Brechts Kriegsfibel könnte durchaus als ein historischer Vorläufer betrachtet werden. Auch er beschäftigt sichmit professionellen, für die massenmediale Verbreitung hergestellten Bildern, die  in den Medien und Publikationen jener Zeit als Information und Propaganda gleichermaßen zirkulierten. In einigen von Brechts 69 Bild-Text-Montagen wird der Publikationskontext bewusst lesbar gehalten und wir können den Namen des Fotografen, der Bildagentur, der Zeitung oder Zeitschrift sowie die Bildunterschrift und weitere paratextuelle Elemente erkennen. Schmidt hingegen findet einen anderen Umgang mit den fotografischen Bilddokumenten, indem er genau diese Informationen verwehrt. Etwa ein Drittel der 161 Fotografien in der Werkgruppe Ein-heit sind bereits veröffentlichte Bilder, die Schmidt mit eigenen Aufnahmen kombiniert. Durch den Mangel an Informationen im einzelnen Bild wird die eindeutige Zuordnung von Zeit und Ort erschwert. Wo sonst eine Bildunterschrift Bedeutung stiftet, verweigert Ein-heit jegliche textuelle Interpretation und wirft uns allein auf das Sichtbare zurück.

Das Archiv Michael Schmidt verfügt über einen Teil der Druckerzeugnisse, die Schmidt als Material für die Erstellung der abfotografierten Bilder in Ein-heit dienten. Im Nachlass des Fotografen finden sich Zeitschriften, Publikationen der VEB-Kollektive, Propagandaschriften, Politikerbiografien, die in der BRD und der DDR zwischen 1957 und 1982 veröffentlicht wurden. Weitere Motive lassen sich aus den Kontaktbögen rekonstruieren und den historischen Fotografien der Werkgruppe Ein-heit zuordnen. Darüber hinaus befinden sich im Archiv die Arbeitsabzüge der Werkgruppe, verschiedene Stadien von Buchentwürfen sowie die finalen Druckvorlagen. Dieses Material eröffnet Einblicke in die Arbeitsweise von Schmidt, die den Prozess von der Konzeption einer Werkreihe bis hin zur Gestaltung der Publikation und Ausstellung zumindest partiell nachvollziehbar machen. Welche Bilder hat er ausgewählt und welche verworfen? Wie hat er den Bildausschnitt in Abweichung von der Vorlage erarbeitet? Lassen sich Kriterien für seine Entscheidungen ausmachen? Wie kann man sich die Arbeit im Bertolt-Brecht-Archiv und den Materialkorpus im Kontext der Kriegsfibel vorstellen?

Erdmut Wizisla: Hier im Archiv wird eine Arbeit verzeichnet, registriert, sozusagen erkennungsdienstlich erfasst, und damit festgestellt. Der lebendige, künstlerische Prozess kann dabei aus dem Blick geraten, weil er sich gegen jede Rubrizierung wehrt. In genau dieser Spannung arbeiten wir jedoch, und wenn sich alle dessen bewusst sind, kann Archivarbeit eine enorm künstlerische Dimension entfalten. Wir arbeiten im Bertolt-Brecht-Archiv zunächst mit Arbeitskopien. Das sind die Kopien, die Ende der 50er Jahre für die Forschung gemacht worden sind. Die sind aufschlussreich, weil sie etwas anderes zeigen als das fertige Buch, gerade im Fall der Kriegsfibel. Das große Problem bei diesen Kopien ist, dass sie nicht farbig und im Format nivelliert sind, nämlich auf A5. Die Vorlagen sind bei Manuskripten oft A4. Brecht verwendete jedoch häufig auch andere Formate: ein amerikanisches, das etwas breiter und dafür nicht so hoch ist, sowie ein dänisches, das ist etwas schmaler und höher. Im Falle der Kriegsfibel hat das eigentliche Original – die Originalmontage – ein Format von 30 × 44 cm. Wir bewahren diese Originalmontage in von Restauratoren angefertigten speziellen Archivkästen auf; sie sind 1998 im Zuge der Restaurierung des gesamten Materials zur Kriegsfibel angefertigt worden. Die Einzelblätter der Originalmontage befinden sich auf schwarzem Karton. Die ausgeschnittenen Pressefotos, manchmal Reproduktionen, und die Vierzeiler, ebenfalls ausgeschnitten aus Originaltyposkripten, wurden daraufgeklebt. Das ist ein deutlicher Schritt vor der eigentlichen Publikation. Wir haben im Grunde drei Hauptgruppen von Materialien: die eben beschriebene Originalmontage, die als Vorlage für den Verlag diente, und ein Exemplar im Postkartenformat. Ein solches Exemplar im Postkartenformat hat Brecht an Karl Korsch geschickt – das ist auch in der Literatur bekannt. Es handelt sich um eine Reproduktion, aber es ist keine Reproduktion der Originalmontage – die es m. E. Mitte der vierziger Jahre in den USA noch gar nicht gab –, sondern ein Exemplar ist für Korsch und mindestens ein zweites zum Verbleib bei Brecht hergestellt worden. Es zeigt, zumindest aus meiner Sicht, dass es nicht nur das eine Format gibt, in dem die Kriegsfibel letztlich erschienen ist. Ob Brecht sich hätte vorstellen können, die Kriegsfibel im Postkartenformat zu drucken? Dazu gibt es keine überlieferten Aussagen. So weit würde ich auch nicht gehen – aber es ist faszinierend, das kleine Format zu betrachten und sich das als Buch vorzustellen. Die dritte Gruppe bildet das gesamte Material, was im Arbeitsprozess entstanden ist. Es gibt mehrere Reproduktionen der Fotos, mehr oder weniger gut. Ich würde sagen, auch Abfälle beim Experimentieren mit dem Reproduzieren. Sie zeigen die Schrift vergrößert, angeschnitten, nicht angeschnitten. Viele dieser Überreste sind aufbewahrt worden, sodass man sich auch den Prozess ihrer Herstellung besser vorstellen kann. Da ist eine Fülle ungeordneten Materials in Form von Originalpressefotos, nicht verwendeter oder Dubletten verwendeter, Reproduktionen der Bilder sowie Typoskripte, Manuskripte sowie Teile derselben, auf denen die Vierzeiler, Anmerkungen oder Übersetzungen der Bildlegenden stehen, auch Reproduktionen der Texte. Es ist doch bemerkenswert, dass das alles überliefert ist. Brecht war immer daran gelegen, den Prozess seiner Arbeit für die Nachgeborenen zu dokumentieren, damit sie studieren können, was er gemacht hat. Eine Haltung, die nicht mit Eitelkeit verwechselt werden sollte, eher mit einer Fürsorge für seine Hinterlassenschaft, geboren aus der Überzeugung, dass er etwas Herausragendes geschaffen hat – was natürlich ohne ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein kaum denkbar war. Aber hat er sich da wirklich geirrt?

Maxie Fischer: Eine Verbindung zwischen Ein-heit und der Kriegsfibel besteht darin, dass Schmidt etwas fotografisch zu fassen versucht, was Brecht unmittelbar erlebt hat. Bemerkenswert ist hierbei, dass beide für ihre Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges auf das gleiche Material zurückgreifen: das gedruckte und publizierte Bild.

In ihrer Entstehung ist die Werkgruppe Ein-heit eng mit dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung verbunden. Statt sich jedoch an den gegenwärtigen Ereignissen abzuarbeiten, sucht Schmidt das Bild der Einheit in der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die fotografische Bildwelt aus den Medien und Publikationen formiert sich ihm zu einer Art universalem Archiv, das Zugang zu historischen Konstellationen ermöglicht. In dieser Hinsicht sind die Bilder zwar Dokument ihrer historischen Bedingungen, es ist jedoch nicht eindeutig, welche Fakten sich in sie eingeschrieben haben. Die Kriegsfibel wiederum ist im Exil entstanden. Für Brecht, der von seinem institutionellen, politischen und sprachlichen Wirkungsbereich getrennt war, fungieren die Bilder einerseits als eine Art Informationsquelle bezüglich des aktuellen Weltgeschehens, bleiben aber andererseits wie die Wirklichkeit in seinem epischen Theater Material, das es zu zerschneiden, anzuordnen und zu kleben gilt. Die ersten Fotoepigramme entstanden von März bis Dezember 1940. Da befand sich Brecht in Schweden und Finnland. Im Dezember 1944 beginnt die Reproduktion der Zeitungsausschnitte in den USA. Es ist erstaunlich, was Brecht in all den Jahren mit sich getragen hat, der Aufwand und die Last, dieses Material während der ganzen Exilzeit zu bewahren und mit sich zu nehmen. Wie viele von Brechts Werken ist auch die Kriegsfibel als ein Ergebnis gemeinsamer Arbeit zu verstehen. Hier spielt insbesondere Ruth Berlau eine wichtige Rolle. Sie hat die Reproduktion der Fotos und der Vierzeiler, also den Prozess der Herstellung der Montagen bis hin zur fertigen Druckvorlage, weitestgehend begleitet.

Erdmut Wizisla: Soweit man das weiß. Zu Beginn der Reproduktionsarbeiten ging es auch um die Sicherung der Handschriften für das Archiv. Da war Brecht dabei, aber eher als Assistent. Im Journal gibt es einen Eintrag vom 20. Februar 1945, der besagt: „Nachmittags helfe ich R bei der Herstellung des Archivs“.[1] Wie genau die Arbeit an den Montagen verlief und in welcher Arbeitsteilung Brecht und Berlau tätig wurden, das weiß man nicht. Angesichts dessen, was ich weiß, kann ich mir nicht vorstellen, dass Brecht sich nicht darum gekümmert hat. Dazu war es zu wichtig, als dass er das von anderen hätte machen lassen. In jedem Fall war er dabei, wenn es um die Formate und die Gestalt der Kriegsfibel ging. Vielleicht war er nicht bei jeder einzelnen Montage dabei, aber er war in jedem Fall beteiligt. Das weiß man auch wegen der Diskussionen um die Kombination der Dinge. Aber es ist schon so, dass Ruth Berlau sehr viel – gerade handwerklich – gemacht hat. Ein großer Teil davon ist natürlich erst in den 50er Jahren entstanden. Ich nehme nicht an, dass sie in den USA diese ganzen verschiedenen Formen der Reproduktionen machten. Sie haben montiert und das Postkartenformat hergestellt, nicht die vielen nochmaligen Abzüge. Es bleibt trotzdem viel. Wenn sie von Dänemark nach Schweden, Finnland, durch die Sowjetunion, in die USA und dann wieder nach Europa geflüchtet sind, da sind immer Kisten mit Manuskripten dabei gewesen. Es ist natürlich eine Flucht, aber es ist keine Flucht mit dem Rucksack, wo man alles Hab und Gut zurücklässt. Auf der anderen Seiten kann, was überliefert ist, nicht alles sein – ungeachtet der Fülle.

Maxie Fischer: Ich würde gern nochmal auf den spezifischen Umgang mit dem fotografischen Material zurückkommen. Brecht wie auch Schmidt arbeiten mit jener Methode, die Georges Didi-Huberman als „Demontage“ bezeichnet.[2] Durch ihren Umgang mit den Bildern bzw. Bild und Text unterbrechen und zerlegen sie die Kontinuität historiografischer Narrative und schärfen den Blick für die Konstruktion historischer und gegenwärtiger Realitätsordnungen. Brecht und Schmidt beziehen sich zwar auf die vielfach als archivarisch beschriebene Eigenschaft der Fotografie, etwas Reales zu berühren. Ihre Bearbeitung und Zusammenstellung von Medienbildern dekonstruiert aber diese vermeintliche Darstellung der Wirklichkeit und thematisiert die vielfältigen Wirkungsprozesse innerhalb der fotografischen Bilderstellung und -verbreitung. Auch wenn Brecht und Schmidt Fotografien aus Medienkontexten verwenden, gibt es doch grundlegende Unterschiede im Umgang mit diesem Material.

Brecht war es wichtig, die Fotografien neu zu kontextualisieren. Die Pressefotos sollten dabei als Reproduktion bereits reproduzierter und publizierter Bilder sichtbar bleiben. In der Kriegsfibel wurden die Pressebilder auf eine schwarze Fläche montiert und so aus ihrer ursprünglichen Erscheinungsform herausgelöst. Sie sind aber jederzeit als etwas Ausgeschnittenes, als intakter Ausschnitt aus einer Zeitung oder Zeitschrift erkennbar. Brechts Auseinandersetzung mit der Fotografie zielt auf die Analyse der sozialen und materiellen Diskurse und weniger auf die spezifischen Darstellungsweisen des fotografischen Mediums. In seinen Fotoepigrammen verdeutlicht er die Verbindung von Pressefotografie mit Informationen und dem impliziten Anspruch auf Objektivität. Die von ihm montierten Zusammenstellungen von Bild und Text zeigen jedoch, dass die Fotografie das Produkt eines abstrakten Codierungsprozesses ist und unklare Beziehungen zu dem aufweist, was sie darstellt.

Schmidt knüpft auf gewisse Weise daran an, jedoch auf einer anderen Ebene, indem er die selbst gewählten Ausschnitte aus bestehenden Fotografien zu gänzlich neuen Bildern formiert. Er nennt das „Re-Fotografie“ und meint damit die Aneignung fremden Bildmaterials durch Ausschnitt und Vergrößerung, zum Teil bis an die Grenzen des Sicht- und Identifizierbaren. Im Unterschied zu den Reproduktionen Brechts sieht er darin die subjektive Bedeutungsverschiebung mit fotografischen Mitteln. Eine besondere Rolle spielt dabei die Materialität der bereits publizierten und abfotografierten Bilder. Durch das Vergrößern der Bildausschnitte arbeitet Schmidt die den gedruckten Fotografien zugrundeliegenden Raster – also den Halbtonverlauf des Druckvorgangs – heraus. Die groben Punkte des Rasterverlaufs brechen mit der vermeintlichen Unmittelbarkeit der fotografischen Erscheinung. Sie abstrahieren den Bildgegenstand und zeigen den technisch-mechanischen Charakter der Fotografie als produziertes Bild. Fotografie wird hier zum Analyseinstrument und macht die Fähigkeit des Mediums, Reales gleichermaßen codieren wie decodieren zu können, sichtbar. Nun war Schmidt aber Fotograf und hat sich der Auseinandersetzung mit dem Bildmaterial fotografisch genähert. Brecht hingegen war Dramatiker und Lyriker, für ihn spielte die Beziehung von Bild und Text eine wichtige Rolle. In der Forschungsliteratur zur Kriegsfibel finden sich verschiedene Formulierungen für die Beziehung von Bild und Text. Es ist von „Konfrontation“, „Einheit“ oder „Kombination“ die Rede. Welches Konzept würden Sie zur Beschreibung von Brechts Fotoepigrammen ansetzen?

Erdmut Wizisla: Die Kriegsfibel ist einerseits ein einfaches Buch mit einer klaren Botschaft: „Nie wieder Krieg!“ Andererseits ist es in seiner Form ein sehr kunstvolles Werk. Brecht und Ruth Berlau, mittelbar auch Peter Palitzsch und Günter Kunert, haben sehr genau überlegt, welches Motto man nimmt und wie man es einsetzt. Ich würde daher für den Begriff der „Konstellation“ plädieren, weil hier im Sinne einer günstigen Stellung der Gestirne etwas zusammentrifft. Es gibt den Hinweis von Anya Feddersen, die die These, dass die Vierzeiler die Bilder zum Sprechen bringen, für einen gängigen Interpretationsfehler hält.[3] Damit hat sie recht, wenn sie meint, dass Brecht die Bilder erläutert, dass er Bildern im Sinne einer erläuternden Unterschrift einen Text beigibt, durch den man sie besser verstehen kann. Man kann sagen, dass Bild und Text zusammengehören, aber es gibt jedes Mal andere Konstellationen zwischen ihnen. Es gibt viele Rätsel. Einige Bilder zeigen nicht das, was die Bildunterschrift sagt. Ein Beispiel dafür ist das Foto einer Meeresbrandung: „Achttausend liegen wir im Kattegatt. / Viehdampfer haben uns hinabgenommen. / Fischer, wenn dein Netz hier viele Fische gefangen / Gedenke unser und laß einen entkommen.“ Das ist das Musterbeispiel für Verfremdung. Erinnern Sie sich an den Text zum Verfremdungseffekt in den Bildern des Malers Pieter Breughel.[4] Da beschreibt Brecht den Sturz des Ikarus und sagt: Auf einem großen Bild mit Landleben an einem Meer oder See kann man ganz viel entdecken, viele Menschen, und irgendwo im Hintergrund, ganz klein, stürzt ein Mann ins Wasser und das ist Ikarus. Weil das Bild diesen Titel hat, fängt man an, Ikarus zu suchen. Diesen Vorgang wird man nicht mehr vergessen – und das ist Verfremdung. Wenn Ikarus frontal im Bild zu sehen wäre, würde man direkt damit konfrontiert werden. Das kann auch eine Wirkung haben, das will ich gar nicht kleinreden. Etwas verbergen und dadurch besonders sichtbar machen, das erkenne ich wieder in diesem Meeresfoto in der Kriegsfibel.

Maxie Fischer: Ein ähnliches Moment findet sich bei Schmidt, auch wenn ich Brechts Verfremdungseffekt nicht ohne Weiteres auf Schmidt übertragen möchte. Die einzelnen Fotografien in Ein-heit deklinieren die Insignien von Macht und Herrschaft, die Köpfe der Geschichte, Allegorien für Massenverführung und Kontrolle; in der Zusammenschau der Bilder wird die Gleichförmigkeit dieser Symbole als eine universale Zeichenhaftigkeit politischer Systeme sichtbar. In der Kombination der Aufnahmen führte Schmidt die Werkgruppe jedoch an einen Punkt, an dem die Fotografie ihre Abbildfunktion unterläuft und sich bekannte historische Zusammenhänge des deutsch-deutschen Bildgedächtnisses aufzulösen drohen. Wenn wir Ein-heit durchblättern, können wir bei vielen Bildern nicht eindeutig sagen, ob diese aus der Zeit des Nationalsozialismus, der DDR oder der BRD stammen.

Auf einer Doppelseite in Ein-heit habe ich geglaubt, Bertolt Brecht zu erkennen. Ihm gegenüber steht das Porträt einer Frau, scheinbar vom Krieg gezeichnet. Dass jemand wie Brecht, der das Kriegsgeschehen immer wieder zum Thema seiner Werke gemacht und politisch Einfluss ausgeübt hat, bei Schmidtauftaucht, war für mich plausibel. Mein Drang, die Personen zu identifizieren, überdeckte so manche optische und sinnwidrige Abweichung. Nun da ich die Vorlage kenne, weiß ich, dass es sich um einen SS-Brigadeführer handelt, der medizinische Experimente mit Gefangenen in Auschwitz durchführte. Die Frau, die ich für eine übertragene Darstellung der Mutter Courage hielt, ist eine KZ-Ärztin, die nach 1945 weiterhin als Kinderärztin praktizierte. Schmidt fand die Bilder in der Publikation SS im Einsatz. Eine Dokumentation über die Verbrechen der SS, herausgegeben vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR.[5] Die Arbeit im Archiv ist aufschlussreich, aber auch auf eine gewisse Art verführerisch. Das dort verzeichnete Material gibt etwas preis, was in Ein-heit auf ästhetischer Ebene bewusst vermieden wurde. Für einen Großteil der Bilder können die historischen Vorlagen nun nachvollzogen und die Bildausschnitte, Zeichen und Symbole dem jeweiligen politischen System zugeordnet werden. Und dennoch scheint es, als ob das Material den Überblick über das Werk nur suggerieren kann.

Erdmut Wizisla: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir immer nur Bruchstücke kennen und das Archiv nur einen sehr kleinen Teil der Werkgenese erfassen kann. Wenn es um den eigentlichen künstlerischen Prozess geht, so können wir diesen mit Dokumenten kaum erfahren oder rekonstruieren. Wir müssen imaginieren.

Maxie Fischer: Vielen Dank für das Gespräch.

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[1]   Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Dieter Müller, Bd. 27, Berlin, Frankfurt am Main 1995, S. 220.

[2]   Georges Didi-Huberman: Thema der Kunst: Die Welt ist aus den Fugen, in: Bild und Bildkünste bei Brecht, hg. v. Christian Hippe, Berlin 2011, 137-152, hier S. 151; ders.: Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I, München 2011, S. 111-117.

[3]   Anya Feddersen: Kriegsfibel, in: Brecht Handbuch in fünf Bänden, hg. v. Jan Knopf, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, S. 382-397, hier S. 395.

[4]   Bertolt Brecht: V-Effekte in einigen Bildern des älteren Breughel, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bd. 22, Berlin, Frankfurt 1993, S. 271-273, hier S. 271f.

[5]   SS im Einsatz. Eine Dokumentation über die Verbrechen der SS, hg. v. Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR, 4. Aufl., Berlin 1959.

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