Anja Schürmann, Steffen Siegel
Neue Perspektiven der Fotobuchforschung. Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 159, 2021
Ob in Paris, Amsterdam oder London – selbst der flüchtigste Besuch auf einer der in diesen Städten ausgerichteten Fotomessen wird es vor Augen führen: Fotobücher sind eines der wichtigsten Medien der Fotokunst unserer Gegenwart. Längst schon haben sich nicht allein zahlreiche Verlage auf ihre Produktion spezialisiert, darüber hinaus bieten Fotobuchmessen seit Jahren schon eine ganz eigene Plattform für Künstler*innen, Sammler*innen und überhaupt alle am Fotobuch Interessierten. Nicht zuletzt aber unterstreicht die inzwischen kaum noch überschaubare Fülle an Fotobuch-Kompendien die Lebendigkeit dieses Mediums. Sieht man einmal von wichtigen Vorläufern wie Lucien Goldschmidt und Weston J. Naef ab,[1] so dürften vor allem die Überblickswerke von Andrew Roth einerseits sowie von Martin Parr und Gerry Badger andererseits einen Trend angestoßen haben, der sich seither ungebremst entfaltet.[2] Historische wie zeitgenössische Fotobüchern sind begehrte und in bestimmten Fällen inzwischen auch kaum noch erschwingliche Sammlungsobjekte geworden.
In aller Abkürzung lassen sich drei verschiedene Orte unterscheiden, an denen wir heute fotografischen Bildern begegnen können: an der Wand, auf dem Bildschirm und auf der gedruckten Seite. Dass aber ausgerechnet in unserer eigenen Zeit, die doch so unverkennbar durch elektronische Medien dominiert wird und damit vor allem dem Screen als Ort des Fotografischen zuarbeitet, das Fotobuch eine solche Popularität erfährt, ist erklärungsbedürftig. Dies stimmt auch gerade deshalb, da zur selben Zeit wie das Fotobuch auch Magazine und Illustrierte – und damit eine andere Form der gedruckten Fotografie – begannen, eine erneute Aufmerksamkeit zu erhalten.[3] Natürlich liegt es auf der Hand, gerade in der Popularität des Digitalen auch einen Grund für die sich hiervon abhebende Zuwendung zu analogen Medien zu suchen. In jüngerer Zeit hat etwa Michael Hagner in eben diesem Sinn argumentiert – mit Blick auf das Buch im Allgemeinen wie auch auf das Fotobuch im Besonderen.[4]
Es ist gewiss angemessen, in der gegenwärtigen Popularität des Fotobuchs eine Antwort zu suchen, die auf die Omnipräsenz des fluiden Bildes und seiner nicht minder verflüssigten Gebrauchsweisen in dialektischer Weise bezogen ist.[5] In Büchern lassen sich die Präsenz und die Wirkweise fotografischer Bilder weit stärker bestimmen und steuern, als dies im Internet der Fall sein kann. Mit Fotobüchern werden andere, von der Rezeption digitaler Darstellungsformen grundlegend unterschiedene Aneignungs- und Erfahrungsweisen entfaltet. So ist zum Beispiel offenkundig, wie groß jene Rolle ist, die die Haptik eines Buches spielt (ganz davon abgesehen, dass nicht wenige Bücher, allemal druckfrische, ihren ganz eigenen Geruch entfalten). Zuletzt aber wird mit Blick auf das Buch vor allem bedeutsam sein, was Hagner als die eigentliche „Sache des Buches“[6] bestimmte: Mit ihm halten wir eine mediale Organisationsform in der Hand, die auf sehr spezifische Weise ihre Inhalte strukturiert. Bücher stiften ihre ganz eigene Ordnung und erlauben vielfältige Zugangs- und Gebrauchsweisen.
Es ist bezeichnend genug, dass das „Ende der Gutenberg-Galaxis“ und das „Ende des fotografischen Zeitalters“ nahezu zeitgleich ausgerufen worden sind[7] – längst schon haben sich beide Prognosen als einseitige und zuletzt irreführende Projektionen erwiesen. Betrachtet man diese Mutmaßungen in ihrem Zusammenhang, so wird aber erst recht deutlich werden, wie entscheidend seither beide Medien – Buch und Fotografie – füreinander geworden sind. Gerade deshalb ist es kein Zufall, dass vor allem in jüngerer Zeit nicht allein die Produktion von Fotobüchern eine anhaltende Konjunktur erlebt, sondern dass sich inzwischen auch die Fotobuch-Forschung weit mehr als in vereinzelten Stimmen zu Wort gemeldet hat.[8] Dass dabei gerade die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit erfahren hat, wird kaum überraschen können, waren doch gerade in jener Zeit zum ersten Mal die technischen Bedingungen zur massenhaften Produktion qualitätsvoller Fotobüchern in ganzem Umfang verfügbar geworden.[9] Aus systematischer Perspektive betrachtet, ähneln sich alle diese Untersuchungen in auffallender Weise: In ihrer ganz überwiegenden Zahl werden die Bücher in werk- und themenmonografischer Weise analysiert und dabei insbesondere mit den Methoden der Kunstgeschichte bearbeitet.[10]
Die Produktivität dieses Paradigmas zeigt an, dass es hierfür gute Gründe gibt. Doch so wie vor bald einhundert Jahren Johannes Molzahn ausrief: „Nicht mehr lesen! Sehen!“,[11] so wollen wir heute in programmatischem Sinn auffordern: Weiterblättern! Aus unserer Sicht ist es an der Zeit, die bisher geleisteten Untersuchungen zu historischen wie zeitgenössischen Fotobüchern um weitere Perspektiven zu ergänzen – einzig exemplarisch nennen wollen wir Rezeptionsästhetik, Verlagsgeschichte und Buchwissenschaft. Wir versprechen uns hiervon nicht allein ein noch besseres Verständnis der Potenziale dieser bildnerischen Ausdrucks- und Argumentationsweise. Mit einer solchen Erweiterung geht auch die Chance einher, die Fotobuch-Forschung noch stärker als bislang geschehen in einen interdisziplinären Zusammenhang zu stellen. Der stets zu schmale Umfang eines einzelnen Themenheftes wird es dabei gewiss nicht erlauben, das ganze Spektrum möglicher Perspektiven in den Blick zu nehmen. Die hier versammelten Versuche verstehen sich daher als Vorschläge, denen künftig noch weitere an die Seite zu stellen sein werden.[12] Gerade in diesem Sinn verstehen wir dieses Themenheft als eine Einladung, eine auf die Erforschung des Fotobuchs bezogene Methodendiskussion zu eröffnen.
So zeigt Bettina Lockemann in ihrem Beitrag, wie entscheidend es ist, die sich mit dem Fotobuch entfaltenden Rezeptions- und Verstehensweisen aus einer praxeologischen Perspektive zu betrachten. In diesem Sinn nimmt Anja Schürmann das in den Blick nehmen selbst in den Blick und schlägt vor, mindestens fünf verschiedene Perspektiven zu unterscheiden, die sich mit der Betrachtung eines Fotobuchs eröffnen können. Die Fotokünstlerin Elisabeth Neudörfl diskutiert solche Fragen anhand eines eigenen Werks und macht hierbei nicht zuletzt darauf aufmerksam, wie sehr sich geläufige Definitionen des Fotobuchs zuspitzen lassen, die dem Bild gegenüber dem Text einen höheren, ja dominierenden Rang einräumen. In dem von Neudörfl kommentierten Fotobuch findet sich außerhalb der Bilder selbst kein einziges Schriftzeichen. Sophia Greiff fokussiert in ihrem Beitrag eine andere Schwelle, die gerade in der jüngsten Fotobuch-Produktion große Bedeutung erlangt hat: jene zwischen Kunst und Journalismus. Herausgefordert sind hierbei die geläufigen Annahmen über das Dokument und das Dokumentarische – und mit ihnen die Zeigemöglichkeiten des Fotobuchs. Im Beitrag von Burcu Dogramaci wird die Perspektive vom Buch auf den Verlag geweitet. Anhand der einst in London ansässigen focal press diskutiert sie die Möglichkeiten eines „Hyperbooks“, mit der sie eine sich zwischen verschiedenen Büchern entfaltende Sinnzuschreibung in den Blick nimmt. Steffen Siegel schließlich fragt in seinem Beitrag danach, was eigentlich kein Fotobuch mehr ist. Sein Beitrag versteht sich als ein Plädoyer, den Rändern dieses Mediums besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da sich gerade hier vielfältige Verbindungen zwischen Buch, Skulptur, Installation und Performance Art beobachten lassen.
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[1] Lucien Goldschmidt, Weston J. Naef: The Truthful Lens. A Survey of the Photographically Illustrated Book 1844–1914, New York 1980.
[2] Andrew Roth (Hg.): The Book of 101 Books. Seminal Photographic Books of the Twentieth Century, New York 2001. Ders. (Hg.): The Open Book. A History of the Photographic Book From 1878 to the Present, Göteborg 2004. Martin Parr, Gerry Badger: The Photobook: A History, 3 Bde., London, New York 2004, 2006, 2014.
[3] Patrick Rössler (Hg.): Moderne Illustrierte, Illustrierte Moderne. Zeitschriftenkonzepte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998. Robert Lebeck, Bodo von Dewitz (Hg.): Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage, Göttingen 2001. Diethart Kerbs, Walter Uka (Hg.): Fotografie und Bildpublizistik in der Weimarer Republik, Bönen (Westfalen) 2004.
[4] Michael Hagner: Zur Sache des Buches, Göttingen 2015. Ders.: Das Fotobuch, postdigital, in: Texte zur Kunst, Nr. 99, September 2015, S. 102–119. Ders.: Hyperpräsenz und Betrachtung. Das Fotobuch unter digitalen Bedingungen, in: Anne-Katrin Bicher et al. (Hg.): Das Fotobuch in Kunst und Gesellschaft. Partizipative Potenziale eines Mediums, Berlin 2020, S. 407–412.
[5] In diesem Sinn hat zuletzt André Gunthert digitale Bildlichkeit zu bestimmen versucht. Siehe André Gunthert: Das geteilte Bild. Essays zur digitalen Fotografie [franz. Ausgabe: 2015], Konstanz 2019.
[6] Siehe Hagner, (Anm. 4).
[7] Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Band 1, Frankfurt am Main 2002. Dies. (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Band 2, Frankfurt am Main 2003.
[8] Einzig exemplarisch nennen wir an dieser Stelle einige in jüngerer Zeit erschienene Sammelbände: Sigrid Schade, Anne Thurmann-Jajes (Hg.): Buch – Medium – Fotografie, Köln 2004. Margit Kern (Hg.): España a través de la cámara. Das Spanienbild im Fotobuch, Leipzig 2008. Manfred Heiting, Roland Jaeger (Hg.): Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945, Bd. 1, Göttingen 2012; Bd. 2, Göttingen 2014. Burcu Dogramaci et al. (Hg.): Gedruckt und erblättert. Das Fotobuch als Medium ästhetischer Artikulation seit den 1940er Jahren, Köln 2016.
[9] Almut Klingbeil: Die Bilder wechseln. Meereslandschaften in deutschen Fotobüchern der 20er bis 40er Jahre, Hamburg 2000. Daniel H. Magilow: The Photography of Crisis. The Photo Essays of Weimar Germany, University Park (Pennsylvania) 2012. Pepper Stetler: Stop Reading! Look! Modern Vision and the Weimar Photographic Book, Ann Arbor 2015. Mareike Stoll: ABC der Photographie. Photobücher der Weimarer Republikals Schulen des Sehens, Köln 2018. Steffen Siegel: Fotogeschichte aus dem Geist des Fotobuchs, Göttingen 2019.
[10] Siehe zum Beispiel die Beiträge im Themenheft „Fotobücher im 20. Jahrhundert“, das von Anton Holzer und Ulrich Keller herausgegeben wurde und das im Sommer 2010 als 116. Heft im 30. Jahrgang dieser Zeitschrift erschienen ist.
[11] Johannes Molzahn: Nicht mehr lesen! Sehen!, in: Das Kunstblatt, 12. Jg., 1928, S. 79–81.
[12] Siehe hierzu auch Peter Pfrunder: Fragen an das Fotobuch. Gedruckte Fotografie – eine unterschätzte Dimension der Fotogeschichte, in: Fotogeschichte, 32. Jg., Heft 124, 2012, S. 42–49. Manfred Heiting, Roland Jaeger: Vom foto-auge zum buch-auge. Publikationen, Probleme und Perspektiven der Fotobuchforschung, in: dies. (Hg.): Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945, Bd. 2, Göttingen 2014, S. 6–12. Steffen Siegel: Drucksachen. Vorbemerkungen zu einer künftigen Fotobuch-Forschung, in: Burcu Dogramaci et al. (Hg.): Gedruckt und erblättert. Das Fotobuch als Medium ästhetischer Artikulation seit den 1940er Jahren, Köln 2016, S. 22–33.
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