Steffen Siegel
Stadtbildgeschichten
Catherine E. Clark: Paris and the Cliché of History. The City and the Photographs, 1860–1970, New York: Oxford University Press, 2018, 310 S., 178 Abb. in S/W, 74 US-Dollar
Miriam Paeslack: Constructing Imperial Berlin. Photography and the Metropolis, Minneapolis, London: University of Minnesota Press, 2019, 193 S., 85 Abb. in S/W, 30 US-Dollar
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 154, 2019
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass mit Nicéphore Niépce und William Henry Fox Talbot sogleich zwei Pioniere fotografischer Verfahren fernab aller Metropolen arbeiteten, so bleibt dennoch richtig: Großstädte sind seit den Anfängen der Fotografie das natürliche Biotop dieses Mediums. Nur hier konnten sich die Praktiker auf die nötige Infrastruktur verlassen, und nur hier war ihnen ein hinreichend großes und zahlungskräftiges Publikum erreichbar. Noch für längere Zeit wird sich an diesem Bild nichts ändern. So ist etwa bemerkenswert, dass der Essener Unternehmer Alfred Krupp für sein immer stärker florierendes Unternehmen um 1860 zwar eine eigene fotografische Abteilung einrichten wollte, für die nötige Ausbildung der von ihm zum Werksfotografen ausersehene Hugo van Werden aber erst einmal ins ferne Hannover geschickt werden musste. In Essen wäre man zu dieser Zeit noch nicht fündig geworden.[1] Vor allem aber können uns Daguerres Ansichten vom Boulevard du Temple und überhaupt der Pariser Innenstadt daran erinnern, dass es von Anfang an die Großstadt selbst ist, die sich als ein wesentliches Motiv in die Geschichte des Mediums einschreibt. Umgekehrt aber – dies hat Peter Hales in seiner längst klassischen Studie zu den US-amerikanischen Städten herausgestellt[2] – haben auch Fotografien ihren Anteil am Prozess fortschreitender Urbanisierung, lassen sich mit ihnen doch Ideen von der Metropole modellieren, transportieren und vermitteln.
Im Horizont dieser Fragestellungen bewegen sich zwei soeben erschienene Bücher, die sich mit den beiden Städten Paris und Berlin jeweils sehr unterschiedlichen Fällen zuwenden. Zurecht betont Miriam Paeslack in der Einleitung ihrer Studie Constructing Imperial Berlin, dass jenes Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, für das sie sich vor allem interessiert, kaum angemessen mit London, Wien oder aber eben Paris verglichen werden kann – selbst wenn die Berliner dies seinerzeit gewiss gerne gehört hätten. Denn während die drei anderen genannten Städte über Jahrhunderte hinweg als Zentrum eines Reiches in das Format einer Metropole hineinwachsen konnten, ist Berlin innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten gewissermaßen in die Höhe geschossen. Wenn es überhaupt eines Vergleichs bedarf, dann sollte er mit dem seinerzeit ebenfalls rasant wachsenden Chicago gezogen werden; ein Vorschlag übrigens, der auf den aufmerksamen Berlinbesucher Mark Twain zurückgeht. Solche Beobachtungen mögen sich wie ein stadtgeschichtlicher Akademismus ausnehmen, tatsächlich besitzen sie aber für die fotohistorische Analyse weitreichende Konsequenzen. Bereits im Titel ihrer Untersuchung macht Catherine E. Clark deutlich, dass sie es im Fall der französischen Hauptstadt fortgesetzt mit Fragen der Bildgeschichte zu tun haben wird: Paris and the Cliché of History. Demgegenüber ist die Ikonografie der preußischen und dann deutschen Hauptstadt nicht allein ärmer – im Berlin der Kaiserzeit war, bezogen auf das Stadtbild wie auch seine visuelle Repräsentation, gerade das Neue von besonderem Interesse.
Die beiden Autorinnen wählen für ihre Studien zwar unterschiedliche Ansätze, arbeiten aber beide anhand exemplarischer Einzelstudien. Paeslack führt in ihrem Buch vier Fallstudien zusammen, deren gemeinsamer Fluchtpunkt der beinahe plötzliche Aufstieg Berlins von einer märkischen Stadt mittlerer Größe zur Weltmetropole ist. Dieser in die letzten Jahrzehnte des 19. und die ersten des 20. Jahrhunderts fallende Prozess wird anhand verschiedener Medien nachgezeichnet: der Illustrierten „Berliner Leben. Zeitschrift für Schönheit und Kunst“ (sie erschien zwischen 1898 und 1928), dem Mappenwerk „Neubauten der Stadt Berlin“ (1902 bis 1912), dem photogrammetrischen Archiv der Königlich Preußische Messbild-Anstalt oder einem Albenwerk wie „Das malerische Berlin. Bilder und Blicke“ (1911 bis 1914). Ihnen allen werden konzentrierte Untersuchungen gewidmet, in denen stets gerade jene Spannung deutlich wird, die – und hier wird der Vergleich dann doch fruchtbar – im Paris der Haussmannisierung wenige Jahrzehnte gleichfalls gespürt werden konnte: Mit der neuen Architektur entsteht nicht allein ein neues, repräsentatives, auf Außenwirkung hin angelegtes Stadtbild. Mit diesen Transformationen geht eine Neudefinition des urbanen Lebens einher, auf die wohl kaum eine Berlinerin und kaum ein Berliner eingestellt gewesen sein dürfte. Diese Verwandlung der städtischen Identität und ihre Reflexion im fotografischen Bild ist das eigentliche Thema von Paeslacks Buch. Doch kann das schmale (abzüglich des Anmerkungsteils gerade einmal 150 Seiten starke) Buch solche Fragen bestenfalls streifen. Der Band hält vor allem vier Studien bereit, die als Ausgangspunkt dienen können für eine fortgesetzte Beschäftigung mit der fotografischen Ikonographie einer Stadt im Aufbau.
Catherine E. Clark schlägt in ihrem Buch einen deutlich weiteren historischen Bogen. In den fünf Kapiteln ihrer Untersuchung nimmt sie die Jahre zwischen 1870 und 1970 in den Blick. Dabei ist das gar nicht so heimliche Zentrum des Ganzen der abschließende fünfte Teil zu einem Projekt, das die Buch- und Medienkette FNAC vor bald einem halben Jahrhundert ausrief: „C’était Paris en 1970“. Anhand eines in Quadrate mit einer Kantenlänge von 250 Metern gerasterten Stadtplans sollten sich Amateurfotografinnen und -fotografen darin versuchen, diesen einen willkürlichen Ausschnitt der Stadt nach selbstgefassten sowie nach vorgegeben Prinzipien fotografisch zu erfassen. Sieht man einmal davon ab, dass es sich für das auch Kameras und Fotozubehör verkaufende Unternehmen FNAC um eine ökonomische Win-Win-Situation handeln musste, bestand der Charme dieses Projekts gewiss nicht zuletzt darin, dem generischen Bild der Stadt Paris etwas anderes, bestenfalls etwas noch nicht Gesehenes entgegenzusetzen. Denn die meisten dieser Raster erfassten nun gerade nicht – von Eiffelturm über den Louvre bis zum Montmartre – die üblichen Verdächtigen der städtischen, allemal durch Touristen immer wieder erneuerten Ikonografie, sondern das, was Besuchern wie Einheimischen gleichermaßen unbekannt gewesen sein dürfte. Was heute, im digitalen Zeitalter und dem massenhaften Gebrauch der Fotografie, keine all zu große Herausforderung darstellen würde, fiel seinerzeit nur sehr begrenzt auf fruchtbaren Boden. Die Zahl an Teilnehmern blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Doch konnten die Veranstalter immerhin 100.000 Aufnahmen entgegennehmen. Dass diese heute aber fast ausnahmslos unkatalogisiert und völlig unbeachtet in der Bibliothèque historique de la Ville de Paris lagern, ist auch ein Teil dieser Geschichte. In diesem Sinn ist Clarks Buch eine willkommene Erinnerung daran, dieses besondere visuelle Gedächtnis der Stadt überhaupt erst noch genauer in den Blick zu nehmen (sie selbst hat sich für ihre Untersuchung auf Stichproben beschränken müssen).
Gegen ein solches Interesse an anderen, nicht auf professioneller Basis entstandenen Fotografien schneidet Clark die übrigen Kapitel ihrer Untersuchung. Auch sie nimmt hierbei den Weg über einzelne Fallstudien, und auch ihre Auswahl ist eher eklektisch. Genauer betrachtet werden von der Autorin der Einzug der Fotografie ins Musée Carnavalet, stadtgeschichtliche Publikationen der 1920er und 1930er Jahre, Bilder von der Okkupation und der Befreiung der Stadt während des Zweiten Weltkriegs sowie die Visualisierungsstategien anlässlich des „Bimillénaire“ von Paris im Jahr 1951. So wenig man hier eine konsistente, auf das „Cliché“ der Metropole zielende, Diskussion finden wird, so sehr wird man aber doch auf konzentrierte Lektüren einzelner Bildkonvolute treffen. Gerade weil es sich bei ihnen fast nie um Bilder und Dokumente handelt, die man in jedem besseren Paris-Buch ohnehin finden würde, ist es nicht allein bedauerlich, sondern schlicht unmöglich, wie nachlässig der Verlag dieses Buch gedruckt hat. Während man von manchen akademischen Verlagen des deutschsprachigen Raums ja ohnehin wenig Gutes gewohnt ist, scheinen nun auch die englischen und amerikanischen Verlagshäuser in einer mangelhaften Ausstattung zum gleichwohl hohen, wenn nicht gar prohibitiven Ladenpreis nachziehen zu wollen. Es bleibt jedenfalls erstaunlich, dass selbst ein so renommiertes Haus wie die Oxford University Press auf Print on demand setzt und damit eine seriöse bildgeschichtliche Argumentation in Buchform nahezu unmöglich macht.
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[1] Manuela Fellner-Feldhaus: Auslöser. Alfred Krupp und Hugo van Werden, in: Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung (Hg.): Krupp. Fotografien aus zwei Jahrhunderten, Berlin, München 2011, S. 70–81.
[2] Peter B. Hales: Silver Cities. The Photography of American Urbanization, 1839–1915, Philadelphia 1984; Albuquerque, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. 2006.
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