Patrick Rössler
Die Hygiene des Optischen
Enzyklopädisches von László Moholy-Nagy
Jeannine Fiedler (Hg.): Moholy Album, Göttingen: Steidl, 2019, 25 x 31,4 cm, 352 S. mit über 1.000 S/W-Abbildungen, gebunden, 68 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 154, 2019
„ich habe fast nie einen vorbedachten plan bei meinen fotos, sie sind aber auch nicht zufallsergebnisse. ich habe – seitdem ich fotografiere – gelernt, eine gegebene situation rasch zu erfassen. wenn mich dabei die verhältnisse von licht und schatten stark beeindrucken, fixiere ich den am günstigsten erscheinenden ausschnitt.“ Mit diesen Worten ließ sich László Moholy-Nagy vor 90 Jahren in dem populären Unterhaltungsmagazin Uhu aus dem Ullstein Verlag zitieren – in einem Beitrag, in dem es um die Fotografen als eine „neue Künstler-Gilde“ ging.[1] Die Ergebnisse dieser Vorgehensweise lassen sich nun in einer bemerkenswerten Monografie studieren, einem aus fotohistorischer Sicht herausragenden Beitrag zum hundertsten Bauhausjubiläum 2019: Der über 300 Seiten starke, mit mehr als 1.000 Abbildungen illustrierte Band setzt – so viel sei vorweg verraten – Maßstäbe in der systematischen Aufarbeitung eines fotografischen Nachlasses; und er widerlegt eindrucksvoll die vorschnelle Auffassung, man könne zum Bauhaus im Allgemeinen und über Moholy im Speziellen nichts Neues mehr entdecken.
Über Jahre hinweg hat sich Jeannine Fiedler, seit ihrem Standardwerk Fotografie am Bauhaus von 1990 die ausgewiesene Spezialistin auf dem Gebiet, mit dem schwarz-weißen Bildmaterial auseinandergesetzt, das sich in dem durch die Zeitläufte arg gebeutelten Nachlass des Bauhausmeisters erhalten hat. Die Überlieferung besteht in ihrem Kern aus 73 nummerierten Bilderkartons, auf die üblicherweise neun thematisch zusammengehörige Kontaktabzüge im Format von etwa 6 x 9 cm als Quadrat aufgeklebt und mit Kleinbuchstaben nummeriert wurden. Wie die Rekonstruktion schlüssig nachweist, ist dies der Torso eines mindestens weitere 136 Tafeln umfassenden Konvoluts; damit existiert also noch ein knappes Drittel der fast 2.000 anzunehmenden Kontaktabzüge, die der Band in exzellenter Druckqualität annähernd im Originalformat reproduziert. Ergänzt wird dieses Kernkonvolut durch rund 350 weitere Motive, die als lose Kontakte oder spätere Modern Prints den Nachlass ergänzen, den Moholys Tochter Hattula in den USA über viele Jahre gepflegt und nun Jeannine Fiedler zur erstmaligen Auswertung überlassen hat.
Die Tafeln wurden allem Anschein nach zwar auf Moholys Veranlassung, aber nicht von ihm selbst hergestellt und montiert; zumindest weisen die Beschriftungen von fremder Hand darauf hin, dass hier AssistentInnen am Werk waren, wie Hattula Moholy-Nagy in ihrem Vorwort erläutert. Da ihr Vater bekanntlich auch keine Dunkelkammerarbeiten ausführte, dokumentiert das nun vorliegende Moholy Album die zwischen 1924 und 1937 entstandenen Kamerafotografien (also keine Fotogramme und auch nicht die Farbaufnahmen aus seiner späteren amerikanischen Phase, die bereits an anderer Stelle aufgearbeitet wurden)[2] des künstlerischen Autodidakten, ob dessen Umtriebigkeit bereits seine Bauhaus-Kollegen spotteten, er sei mehr lautstarker Publizist denn genialischer Schöpfer. Dass wir ihn heute als Vorreiter des multimedialen Ausdrucks und Pionier der visuellen Avantgarde feiern, verleiht auch der Kollektion seines fotografischen Ausgangsmaterials einen speziellen Stellenwert. Der im Untertitel versprochene „Perspektivwechsel auf den Fotostrecken der Moderne“ besteht denn primär in der Abkehr von der Betrachtung ikonischer Einzelwerke – zugunsten von deren Entstehungskontexten. Die Fotoserien verdeutlichen erstmals die (oft banalen) Hintergründe wohlbekannter Motive; zumeist Reisen, in denen Moholy (getreu der einleitenden Bemerkung) einen „günstigen Ausschnitt fixierte“.
Als Beispiel hierfür mag man sich etwa die Kontakttafel Nr. 127d „vorfrühling (baumbeschnitt)“ näher betrachten, die neun Aufnahmen aus dem Berlin des Jahres 1930 versammelt (vgl. Abb.). Sie zeigen eine für das „Neue Sehen“ der Zwischenkriegszeit typische Vogelschau, die Straßenelemente als charakteristische Diagonalen angelegt, Spuren auf den verschneiten Fahrbahnen, der flache Stand der Sonne sorgt für die beliebten „langen Schatten“ der Passanten auf dem Straßenpflaster. Diese Motivkonstellation, aus zeitgenössischen Veröffentlichungen auch von anderen Lichtbildnern wohlbekannt, belegt in der seriellen Anordnung den tatsächlich alles andere als zufälligen Gestaltungswillen des ungarischen Konstruktivisten. Aus dem ausführlichen Kommentar der Herausgeberin zu diesem Blatt erfahren wir nicht nur, dass eines der Motive – gemeinsam mit einer negativen Vergrößerung – 1936 in das Moholy-Sonderheft des tschechischen Magazins Telehoraufgenommen wurde. Fiedler rekonstruiert aus diesem Beispiel außerdem die Entstehungszeit der Tafeln um 1935, sie identifiziert den Aufnahmeort als das „Flachdach des Hans-Scharoun-Apartmenthauses am Kaiserdamm, Ecke Königin-Elisabeth-Straße bzw. rückwärtig hin zur Fredericiastraße in Berlin-Charlottenburg“. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit schließlich noch, dass Moholy in letzterer Straße, Nr. 27, seit 1929/30 sein gebrauchsgrafisches Atelier eingerichtet hatte, und daneben alle seine weiteren Wohnadressen in Berlin, von der Vor-Bauhaus-Zeit bis zur Emigration nach London.
Dies sei hier deswegen so detailliert wiedergegeben, weil es die unglaubliche Akribie der Herausgeberin verdeutlicht, mit der sie sich jedem einzelnen Motiv gewidmet hat, um selbst bei wenig bekannten und scheinbar trivialen Bildserien noch die letzten Hintergründe auszuleuchten. Sie scheut sich auch nicht davor, eine „konventionelle Urlaubsaufnahme“ als solche zu benennen (Kontakt Nr. 223) oder konstatiert angesichts einer Serie von Berglandschaften, die aus dem übrigen Werk herausfallen, „es muss ein Rätsel bleiben, was Moholy bewogen haben mochte, jene Berge nach Hause zu tragen“ (Tafel Nr. 55/Kontakt 116). Häufiger sind freilich Fiedlers kunsthistorisch intensive Diskussionen auch von bislang unbekannten Werken wie der „Zwei Damen beim Kaffee“ (Abb. 2), abgelichtet vermutlich 1925 im französischen Versailles: Im Mittelpunkt steht die „geniale ‚Leerstelle‘“ des Klappstuhls im Vordergrund, die „von der Abwesenheit einer Person erzählt“, was „von Moholy als komplexe Anlage erfasst und in die Komposition erfasst worden“ ist (Kontakt Nr. 99). Es sind zuvorderst die Hunderte solcher kundigen Bildkommentare, die diesen Band zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk und Vorbild für künftige Werkübersichten machen.
Angesichts dieser Mammutaufgabe erscheint es auch lässlich, wenn der Band nicht jede letzte Verästelung identifiziert: Etwa nennt das verdienstvolle Verzeichnis der Fotopublikationen bei Moholys Beitrag „Katze“ zur Jahresschau Das deutsche Lichtbild von 1930 (Nr. 53) nur den Abdruck im zugehörigen Sammelband, aber nicht die prestigeträchtige Verwendung einer gekonterten Fassung dieses Motivs als Coverabbildung des amerikanischen Fachmagazins Advertising Arts (Mai 1931).[3]Unerklärlich bleibt freilich, weshalb dem Lektorat des angesehenen Verlages mehrere Tipp- und Satzfehler entgangen sind – auch in dem kenntnisreichen einleitenden Essay Fiedlers, der die Kamerafotografien Moholys in dessen Gesamtwerk einordnet. Aber im Mittelpunkt steht ohnehin der Einblick in die Fotowerkstatt des unentwegt Reisenden, des neugierigen Flaneurs, des großen Theoretikers des „Iconic Turn“ László Moholy-Nagy, der schon in seinem eigenen Hauptwerk über Malerei, Fotografie, Film (1925) prognostizierte: „Langsam sickert die Hygiene des Optischen, das Gesunde des Gesehenen durch.“[4] Ganz in diesem Sinne war es längst überfällig, diesen ungehobenen Schatz aus dem Nachlass eines zentralen Vordenkers der Medienkünste für die Öffentlichkeit zu erschließen.
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[1] Vgl. das Digitalisat des Heftes auf der Plattform „Illustrierte Magazine der klassischen Moderne“; www.arthistoricum.net/werkansicht/dlf/73535/40/0/.
[2] Vgl. Renate Heyne & Floris Neusüss (Hg.): Moholy-Nagy. The Photograms. Catalogue Raisonné. Ostfildern: Hatje Cantz, 2009. – Jeannine Fiedler & Hattula Moholy-Nagy (Hg.): László Moholy-Nagy. Color in Transparency. Photographic Experiments in Color 1934–1946. Göttingen: Steidl, 2006.
[3] Zuletzt präsentiert in der Ausstellung „Bildermagazin der Zeit“ im Angermuseum Erfurt, 29.8. bis 17. November 2019; ein gleichnamiger Begleitband als Konstruktion des 15. Bauhausbuchs ist im Gebr. Mann Verlag erschienen (mit Abbildung des Motivs auf S. 136).
[4] László Moholy-Nagy: „Typofoto“; in: ders., Malerei, Fotografie, Film. 2. Auflage, München: Albert Langen, 2007, S. 36-38, hier S. 36.
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