Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune
Protestfotografie
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte 154, 2019
Entschlossen geht eine Gruppe mit Fahnen voran: Die jungen Menschen – Parka, ‚Palästinensertuch‘, Hosen, Gummistiefel, lange Haare – sind am 3. Mai 1980 auf dem Weg zur Besetzung des Bohrgeländes, auf dem das Atommülllager Gorleben vorbereitet werden soll. AtomkraftgegnerInnen aus der ganzen BRD kommen dort zusammen und errichten ein Hüttendorf, das sie als Republik Freies Wendland proklamieren. Die Urheberschaft dieser Fotografie ist anonym, vermutlich stammt sie von einem mitdemonstrierenden Amateur. Gruppenformation, Fahnen, Transparente und ein Bewegungssymbol (Atomsonne) – das sind demonstrationstypische Merkmale, die das Bild als Protestfotografie charakterisieren. Aber gibt es die eine Form der Protestfotografie?
Das Kompositum im Titel dieses Themenhefts ist erklärungsbedürftig. Protest wird in der historischen und soziologischen Forschung als kollektives Handeln zur Artikulation von Widerspruch verhandelt. Darunter werden in der Regel Protestereignisse verstanden, wie Demonstrationen oder Mahnwachen. Fotografien, wie die vom Protestzug der AtomkraftgegnerInnen, entsprechen diesem ereigniszentrierten Protestverständnis. Unser Begriff von Protestfotografie geht darüber hinaus und bezieht auch Fotografien ein, die im Kontext der jeweiligen Protestbewegungen entstehen. Da werden z. B. beklagte Zustände oder zwischenmenschliche Situationen abgebildet, die Gefühle oder Wahrnehmungen von Körper und Umwelt ausdrücken.
Unsere Betrachtung beginnt in den 1970er Jahren, die für das Bild von ‚Protest‘ nach wie vor prägend sind. Im Anschluss an die Studentenbewegung entstehen zu dieser Zeit Protestbewegungen, die in Abgrenzung zur Arbeiterbewegung, als Neue Soziale Bewegungen bezeichnet werden: Anti-AKW-Bewegung, Ökologie-, Frauen-, Schwulen- und Lesbenbewegungen. Diese Bewegungen etablieren neue Bildmotive, fotografische Praktiken und Gebrauchsweisen: Es entstehen z. B. Plakate, Collagen, (Wand-)Zeitungen und Bücher, die zur Dokumentation, Mobilisierung und Erinnerung eingesetzt werden. Die Abbildungen in diesem Heft zeigen, dass die Möglichkeiten zur Reproduktion oft beschränkt waren. Fotografien wurden z. T. grob gerastert fotokopiert oder hektografiert. In dieser Form verbreitet, machen Fotografien den Protest sichtbar, dokumentieren ihn als öffentliches Ereignis und fangen Protest-Narrative symbolisch ein. „Archive von unten“[1] sammeln und bewahren diese visuellen Artefakte. Bei neueren Protestbewegungen ist der fotografische Korpus nur digital abrufbar. In den letzten Jahren haben sich leistungsstarke Kameras verbreitet und Protestakteure können selbst mit Smartphone-Kameras Fotografien in hoher Qualität aufnehmen. Verbreitet werden sie aber in z. T. hochgradig komprimierten Versionen, die sich in sozialen Netzwerken oder über Messengerdienste teilen lassen. Deshalb sind auch die in diesem Heft verwandten digitalen Vorlagen von sichtlich minderer Qualität.
Mit digitalen Technologien hat sich der Gebrauch der Fotografie im Kontext von Protest radikal verändert. Bilder im Internet sind in Distributions- und Sammlungsinfrastrukturen eingebettet[2], in denen spezifisch digitale Formen der Protestfotografie sichtbar werden. Akteure integrieren sich z. B. mit Protest-Selfies in einen größeren virtuellen Protestzusammenhang. Über die Betrachtung des Netzaktivismus kann man wiederum zu einer Neu-Sichtung jener Medienpraxis gelangen, die sich mit Fotoalben und Stellwänden, kurzum mit der Materialität des analogen Fotozeitalters befasste.
Angesichts der gut dokumentierten visuellen Kultur des Protests ist es erstaunlich, dass die sozial- und kulturwissenschaftliche Protestforschung den fotografischen Praktiken in diesem Kontext bisher wenig Aufmerksamkeit widmete. Anhand exemplarischer Einblicke in Proteste ab den 1970er Jahren ermittelt das Themenheft Protestfotografie die Bedeutung von Fotografien für das Protestereignis, den ästhetischen Ausdruck, die Protesterinnerung und -archivierung. Die AutorInnen aus Kunst-, Kultur- und Mediengeschichte, Kulturanthropologie und Soziologie nehmen die Perspektive der Amateure der jeweiligen Bewegung ein und untersuchen die Herstellung, Gestaltung, Verbreitung und Tradierung von Protestfotografien.
Simon Teune zeigt in seinem Beitrag, wie zwei Protestereignisse über Fotografien konstruiert und in die Erinnerung der Anti-AKW-Bewegung eingeschrieben werden. Der Beitrag von Susanne Regener und Dorna Safaian untersucht die (historiografische) Dokumentation lebensweltlicher Entwürfe als aktivistische Praxis in der zweitenSchwulenbewegung in Deutschland und Dänemark. Wie unter repressiven Bedingungen u. a. Textbotschaften in den Fokus der Fotografie rücken, zeigt Ulrich Keller zur Fotopraxis der DDR-Opposition. Mit der Untersuchung von Protest-Memes und zugehörigen partizipativen Praktiken beleuchtet Kathrin Fahlenbrach aktivistische Remix-Kultur im Internet. Klaus Schönberger zeigt, wie sich User in einer Netzgemeinschaft mittels Selfies in ein Protestereignis fotografisch einschreiben. Wolfgang Ullrich schließlich beschäftigt sich mit der Bildpolitik der Identitären Bewegung. Er beschreibt Protestfotografien, die nicht den vorhersehbaren Strategien eines Hassbildes folgen, sondern vormoderne Zukunftsvisionen von Heimat inszenieren. Protestfotografie ist also ein Begriff, der in Bezug auf Bildmotive, Bildkonventionen, Bildpraktiken und Gebrauchsweisen von Fotografien in der heutigen Zeit eine vielschichtige, für die Forschung herausfordernde Bedeutung bekommt.
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[1] Einen Überblick über Bewegungsarchive geben Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände, Neu-Ulm 2003 und die Webseite http://www.bewegungsarchive.de/ (Zugriff: 5.9.2019).
[2] Siehe Winfried Gerling, Susanne Holschbach, Petra Löffler: Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018.
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