Philipp Ramer, Christine Weder
Fotografie und Text um 1900. Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 153, 2019
Die Kombination von Fotografie und Text ist in der multi- und intermedialen, zunehmend von digitalen Inhalten geprägten visuellen Kultur des 21. Jahrhunderts in lebensweltlich-medialen Kontexten ebenso wie in der künstlerischen Praxis Alltag. Dem war nicht immer so: Fotografische Verfahren im engeren Sinne gibt es zwar seit bald 200 Jahren, doch erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die technischen Voraussetzungen für die Reproduktion von Vorlagen in Printmedien erfüllt. Im Laufe der 1890er Jahre, mit der Ablösung des Holzstichs durch den Rasterdruck, stellte die illustrierte Presse ihre Bildberichterstattung nach und nach auf Fotografie um. Ab 1900 erschienen vermehrt fotografisch illustrierte Bücher sowie neuerdings – und bald in beispielloser Fülle – fotografische Bildpostkarten. Im Rahmen dieser (und ähnlicher) Formate entwickelte sich um die Jahrhundertwende eine Vielzahl an Formen und Spielarten von Foto-Text-Kombinationen und -Dialogen.
Wenn Walter Benjamin Mitte der 1930er Jahre in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ behauptet, die illustrierten Zeitungen hätten die Beschriftung von Fotografien „zum ersten Mal obligat“ gemacht, da die Leserschaft „Direktiven“ zu deren Verständnis bräuchte, antizipiert er die später breit geführte Diskussion um die Polysemie fotografischer Bilder. „Die Photographie – als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher, was den Sinn angeht –“, schreibt dann etwa John Berger in „Erscheinungen“ (1982), „erhält Sinn erst durch Worte“. „Und die Worte, die für sich allein nur eine allgemeine Aussage sind“, so fährt er fort, „erhalten eine spezifische Authentizität durch die Unwiderlegbarkeit der Photographie. Zusammen sind die beiden sehr machtvoll; eine offene Frage scheint zur Gänze beantwortet zu sein.“ Letzteres trifft allerdings längst nicht immer zu, wie sich an unterschiedlichsten Foto-Text-Ensembles zeigt, von der kommentierten Pressefotografie oder der literarischen Bildgeschichte über das Gedicht auf eine Porträtaufnahme bis hin zur fotografischen Romanillustration: Im produktiven Wechselverhältnis von Wort und Bild, von Narrativität und Visualität, entstehen komplexe kulturelle Artefakte, deren konstitutive Ambiguität nach Interpretation verlangt.
Die Beiträge des vorliegenden Themenhefts, zum Teil entstanden im Rahmen eines internationalen Studientags der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik im März 2018 an der Universität Genf, nehmen ausgewählte Beispiele aus diesem Spektrum in literatur- und kulturwissenschaftlicher, in kunst- und fotohistorischer Perspektive in den Blick.
Anton Holzer eröffnet das Heft mit einem Überblicksbeitrag zum Einzug der Fotografie in die illustrierte Presse und dem zunächst zögerlichen, bald aber umso wirkmächtigeren Dialog von fotografischem Bild und Zeitungstext, der um die Jahrhundertwende zur Ausbildung einer ‚fotografischen Öffentlichkeit‘ führte. Mit den An- und Herausforderungen einer gesteigerten visuellen Publizität sahen sich insbesondere Schriftsteller konfrontiert, wie Leo A. Lensing in seinem Beitrag aufzeigt: Am Beispiel von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Karl Kraus dokumentiert er die Möglichkeiten individueller, bisweilen experimenteller Zugriffe auf das Genre Autorenfoto um 1900. Persönliche, unkonventionelle Formen des Umgangs mit Fotografie und Text thematisieren auch die Verantwortlichen für die Konzeption dieser Heftnummer: Christine Weder widmet sich Marie von Ebner-Eschenbachs fotografisch bebildertem Zeitschriftenbeitrag „Meine Uhrensammlung“ (1896), der sich als inhaltlich-mediale Mischform zwischen den Gattungen Erzählung und Ausstellungskatalog bewegt, ja eine Art öffentliche Ausstellung der Privatsammlung auf Papier veranstaltet. Philipp Ramer untersucht schließlich zwei Foto-Text-Kombinationen des Architekten und Kulturpublizisten Adolf Loos, die vordergründig dessen Idealvorstellungen einer Inneneinrichtung respektive einer Ladenfront vorführen, darüber hinaus aber unter Experimentieren mit Kompositions- und Drucktechniken sowie im Rückgriff auf traditionelle Kunstgattungen und -motive die Möglichkeiten intermedialer Spielformen um 1900 ausloten.
Wenn sich ein zentraler Bezug zu Wien gleichsam als topografischer roter Faden durch alle Beiträge zieht, ist dies eine vielleicht zufällige, aber umso sinnigere Reverenz an die (Redaktions-)Adresse der Zeitschrift "Fotogeschichte".
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