Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Fotogeschichte gegen den Strich

Alice Maude-Roxby, Stefanie Seibold: Censored Realities / Changing New York, Graz: Edition Camera Austria, 2018, 187 S., 22 x 16,5 cm, Abb. in S/W, kartoniert, 19 Euro

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 152, 2019

Luftig schweben die Buchstaben über das Buchcover. Die in rot gehalten großen Lettern heben sich deutlich vom weißen Grund ab. Und dennoch ergeben sie noch keinen wirklichen Sinn. Erst wenn wir den schwarz gedruckten Untertitel dazu nehmen, wird die Botschaft klarer: Censored Realities / Changing New York, so lautet das Buch, um das es hier geht. Die Autorinnen Alice Maude-Roxby und Stefanie Seibold (die auch als Künstlerinnen und Kuratorinnen tätig sind) lassen ihren Band mit einem Archivfund aus dem Museum of the City of New York beginnen. Dort, so berichten sie eingangs, entdeckten sie ein schriftliches Konvolut der amerikanischen Journalistin Elizabeth McCausland (1899–1965). Es handelte sich um die Originaltexte, die diese für das 1939 im New Yorker Verlag Dutton (der heute zu Penguin Books gehört) erschienene Buchprojekt Changing New York geschrieben hatte. Dieses Fotobuch mit Bildern von Berenice Abbott (1898–1991) genießt inzwischen in der Fotografiegeschichte und bei Fotosammlern Kultstatus. Es erlebte im laufe der Zeit eine relativ große Verbreitung, 1973 wurde es im Verlag Dover in einer billigen Paperback-Ausgabe und mit dem geänderten Titel New York in the Thirtiesneu aufgelegt. In dieser Fassung erreichte es eine enorme Auflage. Heute ist es in einer Paperback-Ausgabe im New Yorker Verlag New Press (die Hardcover-Ausgabe) mit einer sehr guten Einleitung von Bonnie Yochelson erschien 1997.

Bisher kaum bekannt war die Tatsache, dass das Konzept des Buches von Abbott und McCausland (der langjährigen Partnerin der Fotografin) gemeinsam entwickelt wurde. Die beiden hatten sich 1934 kennengelernt, als McCausland eine Rezension zu einer ersten Ausstellung der New York-Fotos von Abbott im Museum oft he City of New York schrieb (eine zweite Schau zum Thema folgte 1937 im selben Museum ). Von den in diesen beiden Ausstellungen gezeigten Werken fanden später viele Eingang in das Buchprojekt. Und noch viel weniger bekannt ist, dass weder die vorgeschlagene Bild-Text-Gestaltung noch die ursprünglichen Texte der Journalistin übernommen wurden. Diese wurden vom Verlag gegen den Willen der Autorin nach Strich und Faden verändert und derart radikal zusammengekürzt, sodass die Ausführungen verflachten und die hintergründigen Kommentare zu den Fotografien zu simplen Beschriftungen eines konventionellen New York-Führers in Bildern wurde.[1]

Das vorliegende Buch von Maude-Roxby und Seibold, das eine Mischung von Künstlerbuch, fotohistorischer Recherche und feministischem Manifest darstellt, ist das Ergebnis einer intensiven archäologischen Spurensuche. Die Archivfunde werden nicht nur gehoben und kommentiert. Indem Seite für Seite die Originaltexte den zensierten gedruckten Texten gegenübergestellt werden, werden zwei Bücher gleichsam überblendet, eine realisiertes und ein geplantes, aber vom Verlag abgelehntes. Auch auf gestalterischer Ebene wird die originale Bild-Text-Vorlage mit der gedruckten Version (in der zahlreiche vorgeschlagene Bilder fehlen, von 305 vorgeschlagenen Bildern nur 100 verwendet) verglichen, um die einschneidenden Veränderungen sichtbar zu machen. Schade ist, dass die Bilder aus dem 1939 gedruckten Fotobuch (wohl aus rechtlichen oder finanziellen Gründen) nicht mit abgedruckt sind. Dadurch verliert die Argumentation stellenweise etwas an Kraft, da die Bildtexte mühsam mit den zwar online auf der Website des Museums of the City of New York verfügbaren Bildern (https://bit.ly/2FKeJwt) verglichen werden müssen. Nur wenige Leserinnen und Leser werden sich dieser Mühe unterziehen.

Im zweiten Teil des Bandes analysieren die Autorinnen die Hintergründe des gemeinsamen Buchprojekts von McCausland und Abbott und legen die Gründe und Umstände für die radikale Umdeutung der Texte und Bilder offen. Warum griff der Verlag so massiv ein? Offenbar, weil die gesellschaftskritische Stoßrichtung der Bildkommentare und ihre subtilen Deutungen, die die Fotos im politischen und sozialen Kontext der USA der 1930er Jahre verorteten, 1939 keinen Platz hatten und weil man McCausland, die als bekennende Linke galt, politisch nicht traute. Offenbar aber auch, weil der Verlag den Beitrag McCauslands klein halten wollte. Auf dem Buchrücken findet sich nur der Titel des Bandes, der (berühmtere) Name Abbotts und der Verlagsname: „Changing New York – A book of photographs by Berenice Abbotts – Dutton“. McCausland kommt hier nicht vor. Dazu kam, dass der Band zum Auftakt der New Yorker Weltausstellung 1939 erschien und sich dezidiert an ein touristisches Publikum richtete.

Die Autorinnen dokumentieren nicht nur die Eingriffe in das Buchprojekt, sondern auch den vehementen Einspruch der Fotografin und der Journalistin, mit dem diese auf die Verlagsentscheidungen reagierten. In Eingaben und Briefen (die heute im Smithsonian Archive of American Art aufbewahrt werden) wandte sich vor allem die Journalistin McCausland immer wieder an das „Federal Art Project“ (FAP), das zwischen 1935 und 1943 im Rahmen des New Deal Kunst förderte und das die mehrjährige Fotodokumentation Berenice Abbotts über die Stadt New York in Auftrag gegeben und das BuchprojektChanging New York initiiert hatte. Doch sie und offenbar auch Abbott saßen im Entscheidungsgewirr zwischen FAP, Verlag und Autorinnen eindeutig am kürzeren Hebel. Ihre Einwände wurden nicht berücksichtigt. Die vorliegende Studie zeigt am Beispiel von Berenice Abbott und Elizabeth McClausland wie die künstlerische Zusammenarbeit zweier Frauen im Detail funktionierte, aber auch auf welche Widerstände sie in einem konservativen und patriarchalen Umfeld stieß. Bedeutsam ist der vorliegende Band aber auch aus einem anderen Grund. Er zeigt nämlich, dass es lohnt, scheinbar kanonische Beiträge zur Fotografiegeschichte immer wieder einer kritischen Revision zu unterziehen. Indem die Autorinnen ein berühmtes Fotobuch neu befragen, gelingt es ihnen, den Beitrag von Frauen in der Fotografiegeschichte sichtbar zu machen. Wenn wir künftig den Band Changing New York in Händen halten, sollten wir auch dieses zweite Buch Censored Realitiesdanebenlegen. Erst dann wird deutlich, dass Abbott, die ihre publizistische Karriere nach ihrer Rückkehr nach New York mit diesem Fotobuch eröffnete und die zeitlebens damit in Verbindung gebracht, eigentlich ein ganz anderes, viel radikaleres Buch hätte machen wollen. Mit Hilfe von Elizabeth McCausland, die im Unterschied zu Abbott praktisch vollkommen in Vergessenheit geraten ist und die hier als gleichberechtigte künstlerische Partnerin Abbotts wiederentdeckt werden kann. 

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[1] Ausführlicher zur Produktion und Geschichte dieses Fotobuchs siehe: Terri Weissman: The Realism of Berenice Abbott. Documentary Photography and political Action, Berkely, Los Angeles 2011. Auch in der Einleitung von Bonnie Yochelson zum Band: Berenice Abbott: Changing New York, New York 1997, werden die Rolle McCauslands und die Textzensur angesprochen.

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