Steffen Siegel
Investitionen in Papier
Mazie M. Harris: Paper Promises. Early American Photography, Los Angeles (The J. Paul Getty Museum) 2018, 224 Seiten, 27,9 x 24,1 cm, 122 Tafeln und 46 Abb. 49,95 US-Dollar
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 151, 2019
Zu den Merkwürdigkeiten der frühen Fotogeschichte gehört eine in den Vereinigten Staaten gepflegte Redeweise: Gewiss zog auch jenseits des Atlantiks niemand in Zweifel, dass mit der Daguerreotypie ein fotografisches Verfahren in die Welt kam, dessen Wurzeln in Frankreich liegen. Dennoch verbreitete sich im Lauf der 1840er Jahre die Bezeichnung „the American process“, wenn von der Daguerreotypie gesprochen wurde.[1] Dass sich die Amerikaner nicht einfach mit fremden Federn schmücken wollten, lässt sich in den Fotojournalen jener Zeit nachlesen. Man hielt sich zugute, in besonderer Weise zur Verbesserung und Verbreitung von Daguerres Erfindung beigetragen zu haben. Zieht man überdies die mit der Daguerreotypie verwandten Verfahren der Ambrotypie und der Ferrotypie mit in Betracht, so lässt sich eines nicht von der Hand weisen: Direktpositiv-Verfahren, die auf ein einzelnes Bildobjekt hinauslaufen, erfreuten sich in den Vereinigten Staaten besonderer und zudem anhaltender Beliebtheit.[2]
Mit dem von Mazie M. Harris nun vorgelegten Band Paper Promises erhalten solche kanonisch gewordenen Erzählungen eine wichtige Differenzierung. Es handelt sich bei diesem Buch um einen jener (leider zu selten produzierten) Kataloge, die eine Ausstellung nicht allein illustrieren und mit rasch zusammengeschriebenen Artikeln irgendwie publikationsfähig machen. Gemeinsam mit ihren beiden Ko-Autor*innen Christine Hult-Lewis und Matthew Fox-Amato gelingt es Harris vielmehr, den Blick auf eine ausgesprochen reiche materielle Überlieferung zu lenken und in fünf Kapiteln zugleich wesentliche Fragen aufzuwerfen. Sie betreffen eine etwa zur Jahrhundertmitte einsetzende Kultur der Papierfotografie in den Vereinigten Staaten, die hinsichtlich Qualität und Varietät den Vergleich mit europäischen Bildtraditionen nicht scheuen muss, zugleich aber eben auch signifikante Eigenarten aufweist.[3]
Im Katalog verdeutlicht ausgerechnet eine Daguerreotypie den in Frage stehenden technologischen Umbruch von Metall zu Papier als Bildträger auf besonders anschauliche Weise. Sie verdankt sich den aus Deutschland eingewanderten, in Philadelphia tätigen Brüdern Friedrich und Wilhelm (oder eben nun Frederick und William) Langenheim. Im Winter 1849 hatten sie sich gegenüber Talbot erfolgreich darum bemüht, eine Lizenz für dessen Verfahren der Kalotypie zu erhalten. Die kurz darauf entstandene Daguerreotypie zeigt Friedrich Langenheim bei Betrachtung offenkundig jüngst angefertigter Papierfotografien – und gewiss ist es kein Zufall, dass es sich bei allen Bildproben, die er in seinen Händen hält und die ihn umringen, um Porträts handelt. Die geschäftstüchtigen Langenheim-Brüder verdichteten in diesem großartigen Bild Argumente, die sie – wie von ihnen geschaltete Anzeigen zu erkennen geben – nicht für Allgemeinwissen hielten: Papierfotografien lassen sich bequem und bei fast allen Lichtverhältnisses betrachten. Vor allem aber können sie nahezu beliebig oft reproduziert werden.
Mazie M. Harris rahmt ihren Band mit zwei großen Tafelteilen und insgesamt 122 Abbildungen. (Wo immer dies das Seitenformat erlaubt, werden sie in Originalgröße reproduziert, was auf kluge Weise einen Eindruck von der formalen Flexibilität des hier in Frage stehenden Bildgegenstands vermittelt.) Mehr als zwei Dutzend US-amerikanischen Museen wurden für die Ausstellung im J. Paul Getty Museum im Frühjahr 2018 als Leihgeber gewonnen. Von entsprechend hoher Qualität sind die im Buch versammelten fotografischen Ansichten. In ihrer Gesamtheit zeichnen sie eine ganz eigene Kulturgeschichte aus den zwei Jahrzehnten vor und während des Amerikanischen Bürgerkriegs. Es liegt auf der Hand, dass Harris ihr reiches Material thematisch gliedert. Doch einerlei, ob Straßenszenen aus den Metropolen der Ostküste gezeigt werden oder Porträts, ob die schrittweise Besiedlung des amerikanischen Westens oder aber Erinnerungsbilder an den 1865 ermordeten Abraham Lincoln, eine Frage geben alle diese Fotografien auf: Welche Gebrauchsweisen lassen sich mit ihnen verbinden? Mehr noch: Wenn von solchen Gebrauchsweisen die Rede ist, worin können die Vorzüge von Papier als Bildträger zu suchen sein? In der facettenreichen Beantwortung solcher Fragen liegt die eigentliche Stärke des Bandes. Dass hierbei vorderhand sozialgeschichtliche Methoden der Fotogeschichtsschreibung zur Anwendung gelangen, mag zunächst verwundern (und sich hinsichtlich des Ansatzes als etwas antiquiert ausnehmen), die Ergebnisse aber sind umso erhellender.
Im Kapitel „Face Value“ etwa unternimmt Harris eine Parallel-Lektüre der Entwicklungen von Finanzwirtschaft und Fotografie in den Vereinigten Staaten zur Mitte des Jahrhunderts. Genau besehen ereignete sich die Einführung von Fotografien auf Papier in den Jahren um 1850 zur Unzeit. Der Grund für eine solche Feststellung mag überraschen: Als ein besonders früher Akt der Privatisierung von ursprünglich bundesstaatlichen Aufgaben wurde bereits in den 1830er Jahren des föderale Banksystem abgeschafft. Fortan war es jeder privatwirtschaftlich geführten Bank gestattet, eigenes Papiergeld in Umlauf zu bringen. Auf diese Weise entwickelte sich im Lauf der Jahre nicht allein ein immer unübersichtlicheres System von Banknoten. Mehr und mehr kamen zudem Fälschungen in Umlauf. Da sie angesichts der Menge verschiedener Noten kaum noch als solche zu identifizieren waren, wurde das Vertrauen in Wertpapiere insgesamt untergraben. Umgekehrt aber musste in einem solch deregulierten Kontext des Geldverkehrs das Vertrauen in Münzgeld umso größer sein. Die oft betonte Gleichzeitigkeit des Aufstiegs von Kapitalismus und Fotografie als zwei Teilsystemen der Moderne erhält im Gegenüber von Papier und Metall eine erstaunliche Engführung: Das Vertrauen in den Wert ist nicht zuletzt vom gewählten Trägermedium abhängig. Harris zeigt eine ganze Reihe von Papierfotografien, in denen die Fotografen durch eigenhändige Interventionen Echtheit und Originalität ihrer Bilder zu authentifizieren suchen und so ihre Abzüge gerade wieder in die Nähe unikaler Daguerreotypien rücken. Paradox genug: Dem Reproduktionsmedium Fotografie steht in einem Klima des Misstrauens gegenüber Papierobjekten ausgerechnet dieser Vorzug, reproduzierbare Bilder zu ermöglichen, im Weg.
Größere Akzeptanz erhielten fotografische Papierabzüge schließlich aber, wie Christine Hult-Lewis in ihrem Beitrag „A New Kind of Evidence“ ausführt, zehn Jahre später und in ganz anderem Kontext. Im Zug der Besiedelung des US-amerikanischen Westens rückten fotografische Landschaftsaufnahmen mehr und mehr in den Rang eines Beweismittels, wenn vor Gericht Besitzansprüche auf bestimmte Territorien zu verhandeln waren. Ohne dies an die bis in die Frühe Neuzeit zurückreichende Geschichte sogenannter „Augenscheine“[4] (es handelt sich hierbei im handgezeichnete Hybride aus Kartografie und perspektivischer Vedute) zurückzubinden, stellt die Autorin nicht allein das hohe Vertrauen in die Evidenz fotografischer Bildlichkeit heraus, sondern auch die besondere Funktion solcher Bilder auf Papier. Erst sie, nicht jedoch Fotografien auf Metallträgern, ließen sich mühelos zu Panoramen montieren, mit weiterführenden Hinweisen versehen und zuletzt natürlich in den Papierverkehr von Prozessakten einbinden.
Gerade hinsichtlich solch pragmatischer Dimensionen der Mediengeschichte stellt der Katalogband reiches Anschauungsmaterial zur Verfügung. Dabei gehört es zum Charme der begleitenden wissenschaftlichen Beiträge, zu einer soziokulturell motivierten Interpretation der Bilder einzuladen und mögliche Perspektiven abzustecken, ohne jedoch solche Deutungen bereits vollkommen auszuschöpfen.
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[1] Sarah Kate Gillespie: The Early American Daguerreotype. Cross-Currents in Art and Technology, Cambridge (Mass.), London 2016.
[2] Stephen Kasher: America and the Tintype, New York 2008.
[3] Vor allem für Großbritannien und Frankreich, schließlich aber auch für Deutschland ist die Frühzeit fotografischer Verfahren auf Papier bislang weit besser erforscht. Siehe unter anderem André Jammes, Eugenia Parry Janis: The Art of French Calotype. With a Critical Dictionary of Photographers, 1845–1870, Princeton 1983. Richard R. Brettell: Paper and Light. The Calotype in France and Great Britain, 1839–1870, Boston, London 1984. Bodo von Dewitz, Reinhard Matz (Hg.): Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschsprachigen Raum 1839–1860, Köln, Heidelberg 1989. Roger Taylor: Impressed by Light. British Photographs from Paper Negatives, 1840–1860, New Haven, London 2007.
[4] Gerhard Leidel: Von der gemalten Landschaft zum vermessenen Land, München 2006.
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