Gisela Parak
Neues aus dem Osten
Christian Philipsen, Thomas Bauer-Friedrich (Hg.): Ins Offene. Fotokunst im Osten Deutschlands seit 1990, Halle: Mitteldeutscher Verlag 2018, 23 x 28 cm, 159 Seiten, 161 Abb. in S/W und Farbe, gebunden, 25 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 151, 2019
Sechs Jahre nach der vielbeachteten Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–198“ haben T.O. Immisch, Gabriele Mutscher und Uwe Warnke mit dem Katalog Ins Offene ein Anschlussprojekt vorgelegt.[1] Zwar versteht sich Ins Offene nicht als direkte Fortsetzung der Geschlossene[n] Gesellschaft,[2] sondern als lose Anknüpfung. Jedoch hallt in der Konzeption des Projekts die Erfahrung der Ausstellungsmacherin und -macher nach.
Methodisch schafft die Struktur beider Kataloge Vergleichbarkeit und ist in jeweils drei Kapitel gegliedert: Bei der „Geschlossene[n] Gesellschaft“ in die Bereiche „Realität-Engagement-Kritik“, „Montage-Experiment-Form“ und „Medium-Subjekt-Reflexion“. Der Katalog Ins Offene ist hingegen in die Gruppen „Fotografie als Medium“, „Fotografie und Gesellschaft“ und „Fotografie der Dinge und Räume“ unterteilt. Ein kleiner Prozentsatz der jeweils ausgestellten Künstlerinnen und Künstler überschneidet sich zudem, so dass hier erste Beobachtungen bezüglich der Veränderungen und Entwicklungen der Positionen, oder, wie die Kuratoren voranstellen, der Brüche, Verwerfungen oder Kontinuitäten ganz unmittelbar nachvollzogen werden können.
Die „Geschlossene Gesellschaft“ legte einen ersten und fulminanten Überblick über das künstlerische fotografische Schaffen in der DDR vor. Ins Offene hingegen fragt nach den Tendenzen der künstlerischen Fotografie im Osten, die sich nach der Wiedervereinigung entwickelt haben. Dabei verspricht bereits der Ausstellungstitel mit der weggefallenen Isolation und Beschränkung Experimentelles und deutet neu entstandene Vielfalt an.
Dabei skizziert die Katalogeinführung ein überaus vielversprechendes Ausgangssetting: „Wer aus Ost und West [hat] in den vergangenen 28 Jahren wie und mit welchen Ergebnissen in den neuen Bundesländern gearbeitet [….]“ und „welche neuen, jungen Positionen [sind] hinzugekommen […]“?[3] In der Zielsetzung des Kuratorentrios kündigt sich eine beinahe demografisch zu nennende Zielsetzung an, die Aussagen über die Einflüsse und Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf das Werk der in verschiedenen politischen Systemen sozialisierten Künstlerinnen und Künstler verspricht: „Als Kuratoren gingen wir dabei der Frage nach, wie sich welche fotokünstlerischen Positionen weiterentwickelt bzw. verändert haben: Welche nun offenstehenden neuen Möglichkeiten wurden erprobt? Welche Resultate sind zu beobachten? Wie veränderte sich die Arbeitsweise und veränderte sie sich überhaupt? Gab und gibt es in diesen Zusammenhängen gleichermaßen Verwerfungen und Kontinuitäten, oder sind die Brüche bzw. regelrechten ‚Paradigmenwechsel‘ das Bestimmende?“[4] Das Projekt nimmt folglich die unterschiedlichen biografischen Voraussetzungen dreier Künstlergruppen und deren Umgang mit künstlerischen Artikulationsweisen zum Ausgangspunkt, wagt also nicht weniger als eine Analyse der zeitgenössischen Fotografie nach 1990.
Dies ist natürlich eine schier unlösbare Mammutaufgabe. Die 20 ausgewählten Positionen von Ins Offene sind somit exemplarisch zu verstehen. Dabei nehmen die Katalogtexte zunächst eine Sensibilisierung vor, wenn Thomas Bauer-Friedrich beispielsweise zur Diskussion stellt, ob es „im dritten Jahrzehnt seit der Wiedervereinigung Deutschlands angemessen und legitim ist, die Frage zu stellen, wie sich die Fotokünstlerinnen und -künstler der ehemaligen DDR seit 1889/90 entwickelt, wie sich die Fotokünstlerinnen und -künstler aus den alten Bundesländern künstlerisch mit dem Osten auseinandergesetzt und wie sich die neue Generation von Fotokünstlerinnen und -künstlern im geeinten Land mit dessen Osten beschäftigt haben“.[5] Man wird reflexhaft zustimmen. Doch leitet die rhetorische Frage in eine komplexere Thematik über: Spiegelt sich der Einfluss einer „Ost“-Sozialisierung nach über 28 Jahren tatsächlich noch in den nach 1990 entstanden Werken wider, wie unterscheidet sich diese im Kontrast zum Westen, oder haben Künstlerinnen und -künstler nicht längst ebenso virtuos wie selbstreflexiv das Beste aus beiden Hemisphären – wenn man weiterhin in Dichotomien denken will – für sich zusammengeführt? Die auch im Katalog abgebildeten Argumentationsbeispiele und Positionen präsentieren dann jedenfalls ebenso facettenreiche wie individuelle Beispiel zeitgenössischer Fotografie.
Dabei ist erfreulich, dass das Projekt etablierte, gut bekannte, mit noch weniger bekannten Positionen und Werken mischt und so auch abseits bereits getretener Pfade sucht. Der prägende Einfluss der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst und die gestaltende Rolle von Timm Rautert wird als Einfluss auf die Positionen nach 1990 sichtbar gemacht.[6]Ins Offene fragt aber auch nach den Absolventen der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle als weitere wichtige Ausbildungsstätte im Osten. So fügen sich Bekanntes und zu Entdeckendes zu einem Kaleidoskop künstlerischer Fotografie im Osten.[7] Die eingebundenen Werke künstlerischer Positionen mit Westbiografie wie Michael Wesely, Katharina Sieverding oder Floris Neusüss irritieren hier, da diese Werke einen tiefergehenden Ostbezug doch irgendwie vermissen lassen.
Gerade durch seine Rahmung hat der Katalog von Ins Offene mit einem offenen Bündel an Fragen vielfältige und wichtige Denkstöße über die Ausgangssituationen und die Orientierungen der gesamtdeutschen Fotoszene angeboten. Sowohl in der ost- wie in der westdeutschen künstlerischen Fotografie werden Identitätsfragen verhandelt und bereichern den gesellschaftlichen Diskurs. Das nach 1990 neu entstandene Koordinatensystem künstlerischer Ausdrucksformen pendelt jedoch nicht mehr zwischen den Achsen „West“ oder „Ost“, sondern hat ein Feld selbstgewählter und selbstbestimmter ideeller Wahlverwandtschaften hervorgebracht. Hier hat der Katalog Ins Offene eine erste Grundlage geschaffen, an die sich weiterführende kuratorische und wissenschaftliche Untersuchungen anschließen können.
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[1] Die Ausstellung InsOffene. Fotokunst im Osten Deutschlands seit1990 war vom 29. Juni bis zum 16. September 2018 im Kunstmuseum Moritzburg in Halle zu sehen.
[2] Vgl. Jana Duda (Hg.): Geschlossene Gesellschaft: künstlerische Fotografie in der DDR 1949–1989, Bielefeld, Berlin 2012. Kuratoren dieser Ausstellung waren neben Ulrich Domröse ebenfalls T.O. Immisch, Gabriele Mutscher und Uwe Warnke. Vgl. dazu die Rezension von Paul Kaiser in der Zeitschrift Fotogeschichte (Heft 128, 2013): bit.ly/2QokSDu
[3] T.O. Immisch, Gabriele Muschter, Uwe Warnke: Ins Offene. Fotokunst aus dem Osten Deutschlands seit 1990. Eine Einführung, in: Christian Philipsen, Thomas Bauer-Friedrich (Hg.): Ins Offene. Fotokunst im Osten Deutschlands seit 1990, Halle 2018, S. 10.
[4] Ebenda, S. 10.
[5] Thomas Bauer-Friedrich: Vorwort, in: Christian Philipsen, Thomas Bauer-Friedrich (Hg.): Ins Offene. Fotokunst im Osten Deutschlands seit 1990, Halle 2018, S. 7.
[6] Vgl. hier Michael Hering (Hg.): Eine Klasse für sich. Aktionsraum Fotografie, Dresden 2014.
[7] Vgl. Silke Wagler, Kai Wenzel (Hg.): Im Moment – Fotografie aus Sachsen und der Lausitz. Fotografie aus Sachsen und der Lausitz, Dresden 2017.
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