Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Auf den Spuren eines Bilderrätsels

Magdalena Vuković (Hg.): Porträts der Entwurzelung. D’Oras Fotografien in österreichischen Flüchtlingslagern 1946–1949,Wien, Salzburg. Fotohof edition, 2018 (Bd. 17 der „Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich“, hg. von Monika Faber und Walter Moser), Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Photoinstitut Bonartes, Wien und im GrazMuseum, mit Beiträgen von Peter Schreiner, Susanne Rolinek, Marion Krammer, Margarethe Szeless und Magdalena Vuković, 108 S., 21,5 x 21 cm, kartoniert, 15 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 150, 2018

 

Als „rätselhaft“ und oft schwer verständlich wurde ein Teil des fotografischen Spätwerks der Fotografin Madame d’Ora (Dora Kallmus, 1881–1963) oft bezeichnet. Gemeint sind die Bildserien, die sie in den 1950er Jahren in Pariser Schlachthöfen aufgenommen hat. Seit den 1960er und verstärkt seit den 1980er Jahren mangelt es nicht an Versuchen, diese in vieler Hinsicht „extremen“ Fotos zu entschlüsseln. Die Instrumentarien der Interpretation wechselten im Lauf der Zeit, gemeinsam ist ihnen aber, dass darin Vermutungen, Spekulationen und oft auch Projektionen eine wichtige Rolle spielten. Das Spektrum der Thesen und Theorien zu diesem Bildbestand war und ist breit. Es reicht von kruden biografischen Projektionen (Fritz Kempe, 1969) über zeithistorische Einordnungen (Monika Faber, 1983) bis hin zu phänomenologischen Erklärungen (Julia Lutz, 2017). Auch die jüngste Publikation zu Madame d’Ora (Machen Sie mich schön, Madame d’Ora! Dora Kallmus. Fotografin in Wien und Paris 1907–1957, hg. von Monika Faber, Esther Ruelfs und Magdalena Vuković, Wien: Brandstätter Verlag, 2017) konnte – trotz ihrer differenzierten Herangehensweise an das Werk – das Rätsel dieser Schlachthofbilder nicht wirklich lösen.

Es gibt noch eine zweite, viel weniger bekannte und seltener publizierte Fotoserie aus dem Spätwerk von Madame d’Ora, deren Einordnung und Interpretation ebenfalls mit zahlreichen Fragezeichen versehen ist. Diese Aufnahmen entstanden zwischen 1946 und 1949 in österreichischen Flüchtlingslagern. Zwar wurden kleinere Ausschnitte aus diesem Konvolut immer wieder gezeigt, so etwa bereits 1983 in der Ausstellung „d’Ora. Wien – Paris“, die zunächst im Museum moderner Kunst in Wien und dann im Frankfurter Kunstverein präsentiert wurde. In der begleitenden Publikation von Monika Faber, die 1983 erschienen war, wurden die Bilder zwar erwähnt, aber sie wurden nicht weiter erforscht. Und auch in der oben genannten neuen Publikation über Madame d’Ora wird ein Teil dieser Bilder gezeigt. In den begleitenden Texten (von Peter Schreier und Magdalena Vuković) werden zwar einige Hinweise zum Hintergrund dieser Aufnahmen geliefert, ohne aber den Anspruch zu erheben, das Bilderrätsel zu lösen.

Wenige Monate nach der umfassenden Publikation zu d’Ora erscheint nun eine weitere, kleinere Publikation, die sich zum Ziel setzt, endliche Licht in diese Bilderserie aus den österreichischen Flüchtlingslagern zu bringen. Anders als bei den Schlachthofbildern gibt es bei dieser Gruppe von Bildern zahlreiche zeithistorische Hinweise und Kontexte, die bei der Entschlüsselung helfen können. Zunächst trägt die vorliegende Publikation dazu bei, ganz einfache Fragen zu beantworten. Wie groß ist der Bestand, wo liegen die Bilder, in welcher Form sind sie überliefert, wurden sie publiziert? Bevor diese Fragen im zweiten Teil des Bandes beantwortet werden, wird im ersten Teil zunächst der zeithistorische Hintergrund, vor dem die Aufnahmen entstanden, skizziert. In einem fundierten Beitrag zeichnet Peter Schreiner die Grundzüge der österreichischen Flüchtlingspolitik in den Jahren nach 1945 nach. Er differenziert zwischen den unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen und liefert auch Zahlen, die die enormen Dimensionen des Phänomens zeigen. Rund eine Million fremdsprachige und rund 600.000 deutschsprachige DPs (Displaced Persons) hielten sich in den Jahren nach 1945 in Österreich auf. Allein in Stadt und Land Salzburg, wo ein Gutteil der Aufnahmen d’Oras entstand, hielten sich rund 100.000 Flüchtlinge auf.

Die Stimmung in der Bevölkerung und in der Politik war ablehnend bis diffamierend. Unisono wurde eine rasche Repatriierung gefordert. Bis 1947 wurden tatsächlich Rücktransporte in großem Stil organisiert. Bis dahin verließen 1,25 Millionen Menschen das Land. Die danach verbleibenden Flüchtlinge wurden um so stärker attackiert, vor allem in populistisch agierenden Medien wurden die in den diversen Lagern gestrandeten Menschen häufig als „Landplage“ bezeichnet. Auch die weiteren Beiträge des Bandes skizzieren das Umfeld, in dem die Flüchtlinge lebten. Susanne Rolinek schildert sehr anschaulich und anhand zeitgenössischer Quellen den Alltag der Flüchtlinge in Salzburg. Daran anschließend rekonstruieren Marion Krammer und Margarethe Szeless die mediale, insbesondere die fotografische Berichterstattung der österreichischen Illustrierten über die „Displaced Persons“ in der Nachkriegszeit.

Im zentralen Beitrag des Bandes widmet sich dann Magdalena Vuković den Fotos von Madame d’Ora. Das umfangreichste Konvolut stammt aus dem Nachlass von d’Ora, der im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg aufbewahrt wird. Es umfasst rund 70 Silbergelatineabzüge und 40 Kontaktbögen mit Bildern, die vorwiegend in Wiener und Salzburger Flüchtlingslagern aufgenommen wurden. Dazu kommt ein weiteres Dutzend Abzüge, die in einer Wiener Privatsammlung und im Archiv des französischen Modedesigners Cristóbal Balenciaga (mit dem d’Ora befreundet war) aufbewahrt werden. D’Ora selbst nannte das Konvolut mit den Flüchtlingsbildern „Serie D.P.“, hat aber keine weiteren Aufzeichnungen dazu hinterlassen. Die Abzüge sind weder signiert noch gestempelt, nur gelegentlich findet sich eine kurze Beschriftung auf der Rückseite der Bilder. Die Fotos dürften, so recherchierte Vuković, zum Großteil im Spätsommer oder Herbst 1948 entstanden sein, einige könnten aber auch aus dem Jahr 1946, als sich d’Ora zum ersten Mal nach dem Krieg wieder in Österreich aufhielt, und Anfang 1949 stammen. Aufgenommen wurden Bilder im quadratischen Format mit der Rolleiflex, also mit jener Kamera, die d’Ora nach der erzwungenen Aufgabe ihres Pariser Ateliers im Jahr 1940 verwendete, wenn sie in Außenräumen fotografierte.

Durch eine präzise und sehr aufmerksame Lektüre der einzelnen Bildserien sowie durch die umsichtige Kontextualisierung der Bilder im Lichte anderer Informationen gelingt es der Autorin, einen Teil der Bilder einzelnen Flüchtlingslagern bzw. -unterkünften zuzuordnen. Sie kann zeigen, dass das Projekt „D.P.“ von d’Ora keineswegs en passant entstanden sein konnte, vielmehr muss ein konkreter Plan hinter dem Projekt gestanden haben. Immerhin war die Fotografin mit ihrem Assistenten unterwegs und fotografierte an zahlreichen Orten und über einen längeren Zeitraum hinweg zu einem ganz bestimmten Thema. Sehr genau beschreibt die Autorin auch die ästhetische Herangehensweise an die Porträts. Analysiert wird die Inszenierung der Personen in den oft dunklen und düsteren Innenräumen. Geschickt und sehr bewusst setzte d’Ora Kontraste ein und operierte mit Licht (sie verwendete hie und da einen Scheinwerfer) und Schatten. Immer wieder rückte sie die Köpfe der Porträtierten an den Bildrand und erzeugte dadurch eine weit über das Dokumentarische hinausgehende suggestive Bildsprache.

An wen waren diese Bilder gerichtet? Hat sie jemand in Auftrag gegeben? Und wurden sie damals veröffentlicht? Mit diesen Fragen nähert sich die Autorin dem Kern des Bilderrätsels. Was die Veröffentlichung betrifft, scheint klar: sie wurden nie veröffentlicht, zumindest sind bis heute keine diesbezüglichen Hinweise aufgetaucht. Die beiden anderen Fragen nach Zielgruppe und Auftraggeberschaft lassen sich mangels eindeutiger Quellen nicht wirklich beantworten. Zwar legt die Autorin eine vielversprechende Spur, wenn sie als möglichen Auftraggeber eine internationale Hilfsorganisation, die die „Displaced Persons“ betreute, angibt. Gemeint ist die IRO, die „International Refugee Organization“, die nach 1945 auch in Österreich aktiv war. Vuković: „Auf einigen Kontaktbögen d’Oras zu findende Verwaltungsgebäude des amerikanischen Militärs, mit dem die IRO als internationale, aber auch amerikazentrierte Organisation eng zusammenarbeitete, lassen auf einen Auftrag dieser Institution an d’Ora“ schließen.“ Auf einem der Kontaktbögen findet sich sogar das Porträt eines IRO-Angestellten. Der frühere Assistent d’Oras, Arthur Benda, der in den 1920er Jahren ihr Wiener Atelier übernahm und weiter mit ihr in Kontakt blieb, behauptete später, sie habe nach dem Krieg für die UNO fotografiert. Belegen lässt sich diese Behauptung freilich nicht.

Festzuhalten ist: Trotz vager Hinweise bleibt diese Spur zu möglichen Auftraggebern vage. Wenn es sich um eine Auftragsarbeit gehandelt hätte, wären mit ziemlicher Sicherheit Belege für – wenn auch nur sporadische – Publikationen in der zeitgenössischen Presse aufgetaucht. Denn d’Ora war ja eine überaus geschickte „Managerin“ im Umgang mit der illustrierten Presse. Gravierender aber ist der Einwand, den Vuković selbst vorbringt: Die Bildsprache d’Oras unterscheidet sich deutlich von den zukunftsfrohen, optimistischen Bildern, die Hilfsorganisationen selbst in Umlauf brachten. „D’Oras erdrückende Vision der Flüchtlingslager (...)“, so schreibt die Autorin, „wäre wohl kaum den Zwecken einer Hilfsorganisation dienlich gewesen (...).“ Letztlich bleibt die Frage der Auftraggeberschaft und der zeitgenössischen Verwendung der Bilder offen.

Fazit: Es ist das große Verdienst dieser sorgsam recherchierten und edierten Publikation, den Nebel von Spekulation und Vermutung durch aufmerksames Quellenstudium ein stückweit gelichtet zu haben. Die Autorin gibt nicht vor, das Bilderrätsel ein für allemal gelöst zu haben. Und implizit ist die Publikation wohl auch als Einladung zu verstehen, weitere Recherchen zu dieser Bilderserie anzustellen. Wer weiß: vielleicht finden sich irgendwo noch unerwartete Puzzlesteine.

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