Anton Holzer, Timm Starl
Editorial, Heft 98, 2005
Fotografie/Geschichte. 25 Jahre "Fotogeschichte"
Erschienen in Fotogeschichte Heft 98, 2005
Der Terminus "Renaissance", wie er heute für eine Epoche geläufig ist, die das Mittelalter in seine Grenzen weist, entstand – es mag viele überraschen – im 19. Jahrhundert. Jules Michelet, der Autor der Histoire de France, hat ihn 1840 geprägt und ihm jene umfassendere Bedeutung gegeben, die der früheren Anwendung des Wortes mit ihrer Einschränkung auf einzelne Felder wie Literatur oder Malerei und andere Zeiträume entgegenstand. Und Lucien Febvre war es, der 1950 auf den Umstand hingewiesen hat und dem französischen Historiker mit der neuen Kategorisierung des Begriffs zugestand, die Renaissance erfunden zu haben. "Denn Michelet hat nicht ein Wort geschaffen, sondern die Vorstellung einer zu verstehenden und zu definierenden Phase in der Geschichte des europäischen Menschen."[1]
Dass der Terminus seine endgültigen Konturen in jenen Jahren erhielt, als Daguerreotypie und Fotografie an die Öffentlichkeit getreten sind, sollte nicht als Zufall angesehen werden. Denn der neue Blick, mit dem die Renaissance das Vergangene erstehen ließ und das Gegenwärtige ins Bild setzte, fand letztlich seine adäquate Ausformung erst in der fotografischen Aufzeichnung. Diese trug die perspektivischen Errungenschaften so vollständig in ein Bild, dass im Vergleich mit der Realität das neue Medium als deren Stellvertreter fungieren konnte. In der fotografischen Wiedergabe erschien zudem die Ansicht des Gegenstandes analog der Vorstellung, die man sich von ihm machte. Die Zeitgenossen erhielten ein Mittel zur Fixierung eines Blickes, der ebenso das Universum registriert, wie er eine neue Welt entwirft. Die fotografischen Bilder stellen die Welt geradezu in ein neues Licht. Die ersten Aufnahmen riefen Staunen hervor. Denn, was sie zeigten, war zwar bekannt, wie sie es taten, war jedoch neu. Die Fotografie öffnet den Blick. Mit ihr schafft sich der Mensch Belege, die ihn zugleich als Zuschauer wie als Konstrukteur ausweisen.
Seine Konstrukte ähneln allerdings Gedankenblitzen, denn ihre Zeit ist der Augenblick. In ihm trifft sich die Plötzlichkeit der Idee mit dem Nachweis ihres Endes. Deshalb enthalten Fotografien zwar narrative Anlagen, erzählen jedoch von sich aus nichts. Sie zeigen lediglich auf etwas. Nicht auf etwas Bestimmtes, sondern darauf, dass etwas unweigerlich vergangen ist. Und dieses Etwas ist ein Phantom, denn niemand hat es jemals so gesehen – mit der Summe aller Details und Tonungen und der Erstarrung jeder Bewegung ", und also ist es so nicht gewesen. Denn jedes Sein existiert nur in der Zeit, und die Fotografie führt einen Stillstand vor, den die Zeit nicht kennt.
Um die Bilder zum Sprechen zu bringen, muss der Historiker eine Verbindung herstellen zwischen den Dingen im Bild und jenen außerhalb des Ausschnitts, also was vor ihm liegt – zeitlich wie räumlich ", das heißt auch im Rücken des Fotografen, und hinter den Gegenständen, die sich im Bild vorstellen und damit auch vor etwas stellen und dieses verbergen. Und er muss unterscheiden zwischen dem, worauf das Objektiv gerichtet war, und dem, wie etwas vom Bildautor gesehen wurde. Diese Unterscheidung ist kein Trennen von Inhalt und Form, sondern eine Brücke zwischen dem, was erfasst worden ist, und dem, was uns das Bild von seiner Zeit enthüllt. Und bei den Gegenständen im Bild wie bei der Art und Weise ihrer Einvernahme (oder Entäußerung im Blick der Fotografie) haben wir es mit Andeutungen zu tun: Objekte des Moments, die nur für die Apparatur sichtbar waren, und ein Verhalten oder eine Absicht der Fotografin oder des Fotografen zum Zeitpunkt der Aufnahme, die niemals vollständig zu rekonstruieren sein wird.
Geschichte konstituiert sich, indem Elemente des Bildes – wohlgemerkt: des Bildes, zu dem wesentlich das Daneben und Davor und Dahinter gehören – ausgewählt und in ein Koordinatensystem gebracht werden. Denn "jede Geschichte ist Wahl", hat Lucien Febvre 1933 diesen ersten Schritt genannt [2], der Punkte in der Vergangenheit bestimmt, auf die Bezug genommen wird. Sie gegeneinander zu setzen, Analogien und Brüche festzustellen, Abhängigkeiten zu erkennen, sind der zweite Schritt, der als Begleitung immer den Zweifel benötigt, um die Auswahl permanent zu überprüfen und nach weiteren Daten zu forschen. Roland Barthes hat in einer Arbeit über Michelet von 1954 diese beiden Vorgänge deutlich herausgestellt.[3] Wobei die Daten zur Vita und zum Werk den Anfang und eine kleine Chronologie das Ende bilden und beide nur den kleinsten Teil ausmachen. Barthes lässt immer wieder den Historiker zu Wort kommen und ergreift es selbst in gleicher Manier, indem das Poetische und das Historiografische eine Allianz eingehen. Beide Schreibweisen – es sind ja zugleich Betrachtungsweisen – sind notwendig, um Geschichte darzulegen, und sie sind es umso mehr, um mit den Andeutungen fertig zu werden, die von der Fotografie hinterlassen werden. Es bedarf gleichermaßen der Analyse wie der Phantasie, um aufzuspüren, wovon in Fotografien die Rede ist, und zu formulieren, was ihr als Geschichte zu entlocken ist.
Eingeleitet wird Barthes" Buch über Michelet – auch dies ist gewiss kein Zufall – von einer Fotografie: "Michelet, von Nadar photographiert". Die Aufnahme ist mehr als ein Porträt des Historikers. Sie ist als Medium gewissermaßen Michelets Zeitgenossin. Vielleicht sogar seine heimliche Konkurrentin. Denn die Arbeitsweise der Fotografie gleicht in mancherlei Hinsicht der des Historikers. Sie bewahrt Anschauungsmaterial aus der Vergangenheit auf, sie überliefert auf bildliche Weise Dokumente einer Zeit. Ihre Arbeitsweise ist eng mit der Geschichte verbunden. Man könnte daher meinen, die Fotografie sei die natürliche Verbündete der Geschichte. Dem ist aber nicht so. Vorsicht, Distanz, Respekt, vielleicht auch gegenseitiges Unverständnis bestimmt das Verhältnis zwischen Fotografie und Geschichte weit eher als Neugierde und Zusammenarbeit. Die Zweifel kommen von beiden Seiten, deutlicher aber wohl von Seiten der Geschichtswissenschaft in Richtung Fotografie.
Als Siegfried Kracauer Ende der 1920er Jahre die Beziehung zwischen Fotografie und Geschichte auslotete, brachte er, von der Geschichte her argumentierend, die Bedenken auf den Punkt: "Damit die Geschichte sich darstelle, muß der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, den die Photographie bietet."[4] Ähnlich lautende Einwände wurden seither oft wiederholt. Natürlich gab es auch Stimmen, die den "Oberflächenzusammenhang", den die Fotografie herstellt, als Ausgangspunkt für historische Erkundungen zu schätzten wussten, die mit dem Argument der Ausschnitthaftigkeit der Bilder nicht das Medium als Ganzes entsorgten. Fotografien liefern keine fertigen historischen Erkenntnisse. Fotografische Bilder historisch zu lesen bedeutet daher mehr als ihre "Inhalte" in Text zu übersetzen. Die angebliche Ungenauigkeit oder Schwammigkeit der Fotografie ist auch ihr großer Vorzug. Sie weist den Weg zu einem anderen Blick auf die Geschichte, ein Blick, der scheinbar Nebensächlichem, Ephimerem, überhaupt allem Nicht-Handgreiflichen viel mehr Platz einräumt, als ihnen in herkömmlichen Werken der Geschichte zukommt. Am Ende seines Buches über Michelet findet sich eine Aufstellung jener Themen, die der Historiker als die seinen angesehen hat. Da finden sich Begriffe wie: die Maschine, das Elektrische, die Langeweile, das Spiel, das Lachen, der Held, die Tränen, der Barbar, das Kind, das Blut oder die Ironie. Die Fotografie ließe sich nicht unschwer in diese Reihe bringen. Ihr poetischer, phantastischer, ironischer Anteil hätte einen Historiker wie Michelet nicht geschreckt. Im Gegenteil. Wieso er sich dennoch von der Fotografie fernhielt, wissen wir nicht.
Anlässlich des 25jährigen Bestehens dieser Zeitschrift wollten wir dem Spektrum der Möglichkeiten, Fotografie mit Geschichte zu verbinden, freien Raum geben und haben deshalb Autoren, deren Art der Auseinandersetzung mit dem Medium beziehungsweise seines Gebrauchs wir besonders schätzen, um einen Beitrag gebeten. Die freundlichen Reaktionen haben uns nicht nur gefreut, sondern die Vielfalt der eingelangten Bildessays und Artikel, künstlerischen und historischen Arbeiten hat uns auch überrascht. Es tun sich doch immer wieder andersartige Facetten der Betrachtung auf, die dem Fotografischen ihren Zauber abringen. (Im übrigen ist der Terminus "Photography" beziehungsweise "Photographie" 1839 von jeweils einem englischen und einem deutschen Astronomen unabhängig voneinander aufgebracht worden, was bis heute kaum mehr als beiläufige Beachtung erfahren hat.)
[1] Lucien Febvre, Wie Jules Michelet die Renaissance erfand (1950), in: ders., Das Gewissen des Historikers, hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff, Berlin 1988, S. 211-221, hier S. 214.
[2] Lucien Febvre, Ein Historiker prüft sein Gewissen. Antrittsvorlesung am Collège des France 1933, in: ders., (Anm. 1), S. 9-22, hier S. 13.
[3] Roland Barthes, Michelet (1954), Aus dem Französischen von Peter Geble, Frankfurt am Main 1980 (Europäische Bibliothek).
[4] Siegfried Kracauer, Die Photographie [1927], in: ders: Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Leipzig 1992, S. 191.
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