
Anton Holzer
Editorial, Heft 92, 2004: Das geöffnete Kleid. Scham und Voyeruismus in der Fotografie
Erschienen in Fotogeschichte Heft 92, 2004
Ein Stück Textil, das vor Kälte oder Wärme schützt und vor Blicken. Das ist das Kleid. Und es ist noch viel mehr. Eine seiner Eigenschaften besteht darin, sichtbar zu sein und zugleich unsichtbar, begreifbar und ungreifbar in einem. Wenn jemand "unauffällig" gekleidet ist, meint das auch: die Kleidung fällt nicht ins Auge, sie ist zwar da, aber macht sich als Stoff, der über dem Körper liegt, kaum bemerkbar. Ein extravagantes Kleid hingegen, eines, das sich etwa in der Farbe oder im Schnitt abhebt vom gängigen Gewand, fällt auf und hebt auch seinen Besitzer/seine Besitzerin heraus aus dem Durchschnitt. In diesem Fall nimmt das Kleid Materialität an. Es verweist, indem es sich selbst sichtbar macht, auf die eigene Stofflichkeit, aber auch auf das Dahinter, den Körper.
Wäre es ganz abwegig, auch die Fotografie einmal unter diesem Blickwinkel zu betrachten" Ein großer Teil der Fotografie funktioniert tatsächlich wie ein unauffälliges Kleid. Viele Aufnahmen machen sich als Medium unsichtbar. Sie verweisen ganz einfach auf das, was vor der Kamera eingefangen wurde: eine Familienfeier, der Onkel Max im Auto, ein Ferienhäuschen, das zum Verkauf steht. Es gibt aber auch Bilder, die sich selbst als Medium ins Spiel bringen, die ein subtiles Spiel der Blicke zwischen dem "Gegenstand" und der Aufzeichnung in Gang setzen. Eines der Themen, das den entdeckenden Blick der Fotografie herausfordert, ist der menschliche Körper mit geöffnetem Kleid. Die Kamera beteiligt sich am Verhüllen und Enthüllen, am sich Annähern und sich Entfernen.
Schon seit ihren frühen Jahren hat sich die Fotografie dem menschlichen Körper und damit auch den Kleidern gewidmet. Die Strategien der Annäherung an Kleid und Körper sind und waren unterschiedlich. Die Atelierfotografie im 19. Jahrhundert tendierte dazu, das Kleid in der Übererfüllung der herrschenden Kleiderordnung unsichtbar zu machen. Der Körper des Porträtierten wurde eingepasst in die Idealform des bürgerlichen Subjekts. Die Fotografie hatte diesen Akt zu bestätigen. Die erotische (und teilweise auch die pornografische) Annäherung an den Körper hingegen hebt den Körper wieder heraus aus dieser Versenkung. Sie kehrt das Gewand als faszinierenden, begreifbaren Stoff hervor. Und sie lüftet das Kleid.
Das vorliegende Themenheft folgt anhand mehrerer Detailstudien dem fotografischen Blick auf den menschlichen Körper. Es fragt danach, wie die Fotografie das Gewand als Schwelle zum Körper fixiert und überschreitet. Es beschäftigt sich mit der Frage, wie Schaulust und Blickverbot sich im Medium der Fotografie kreuzen.
Timm Starl diagnostiziert im fotografischen Blick des 19. Jahrhunderts auf den menschlichen Körper widersprüchliche Tendenzen. Im bürgerlichen Porträt wird Ganzheitlichkeit hergestellt. Kleid und Körper gehen die Symbiose eines sozialen Körpers ein. Gelüftet wird das Kleid des abweichenden Körpers, jenes des Verbrechers, der Prostituierten, des Kranken. Häufig tritt das "Abnorme" als segmentierter Körper vor die Kamera. Es ist das Milieu des gesellschaftlichen Zwielichts, in dem die voyeuristische Anschauung reichhaltiges fotografisches Material gefunden und hervorgebracht hat. Stefanie Diekmann geht in ihrem Essay dem Verhältnis zwischen Rotlicht und Lichtbild nach. Katharina Sykora untersucht die Rolle der frühen sexualmedizinischen Fotografie in der Einkleidung des Geschlechts. Anhand von Fotografien von Hermaphroditen und Transvestiten aus der Sammlung des deutschen Sexualmediziners Magnus Hirschfeld fragt sie, was passiert, wenn Kleid und Geschlecht die geschlechtliche Deckung verweigern. Dann, so argumentiert sie, wird die Fotografie als subversives Medium der Überschreitung in Dienst genommen. Tatsächlich aber diente im historischen Rückblick die Fotografie hauptsächlich der gegenläufigen Tendenz: jener der Zementierung der Geschlechtergrenzen. In der Hochzeitsfotografie etwa schlüpft sie in eine ausgesprochen bewahrende und befestigende Rolle. Auch hier ist es das Gewand, insbesondere der Schleier, der die Aufmerksamkeit der Fotografie gilt. In abschließenden Fotoarbeit von Ramunė Pigagaitė stehen entblößte Körper von Frauen im Mittelpunkt. Das Projekt "Badende" beschäftigt sich mit dem Blick auf den nackten Körper, aber es entkommt der voyeuristischer Zudringlichkeit, und zwar ohne im Blickverbot Zuflucht nehmen zu müssen.
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