Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Eva Tropper

Das Albenhafte und die Geschichte

Vida Bakondy: Montagen der Vergangenheit. Flucht, Exil und Holocaust in den Fotoalben der Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy, Göttingen: Wallstein Verlag, 2017, 24x16 cm, 270 Seiten, 76 Abbildungen Schwarzweiß und 16-seitiger Bildanhang mit vollständigen farbigen Faksimiles der Alben, Buchbindung, 36,90 EUR.

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 148, 2018

 

Es ist ein Album mit schlichter Leinenbindung, ohne Titel, in dem das Gruppenbild eingeklebt ist. Der Bildbeschriftung zufolge ist es 1941 im Ghetto Opole aufgenommen worden. Darauf zu sehen sind insgesamt acht Personen, versammelt in einem kargen Raum, der zugleich sorgfältig inszeniert scheint. Die Personen berühren einander, blicken, lächelnd, in Richtung Kamera: Eine Aufnahme, die gemacht wurde, um aus dem Ghetto an die daheim gebliebenen Familienmitglieder verschickt zu werden.

Eines dieser Familienmitglieder war die Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy, zentrale „Erinnerungsakteurin“ in Vida Bakondys mehrfach preisgekrönter Dissertation, die nun als Buch erschienen ist. Fritzi Löwy, die nach der gewaltsamen Unterbrechung ihrer Schwimmkarriere durch das NS-Regime jahrelang im erzwungenen Exil war, hat die Aufnahme mit zurück nach Wien gebracht. Dort begann sie um 1960, Fotos und andere Bilder, die sich über die Jahre von Flucht und Vertreibung hatten retten lassen, zu zwei Alben zusammenzustellen. Eines davon ist der Erinnerung an ihre teils ausgelöschte, teils versprengte Familie gewidmet, das andere ihrer eigenen Fluchtgeschichte in die Schweiz. Vida Bakondy hat diese beiden Alben zum Ausgangspunkt ihrer historischen Recherche gemacht, in der sie nach der Relevanz des ‚Albenhaften’ fragt – als Möglichkeit, sich über das Ordnen und Zusammenstellen von Fotografien in ein Verhältnis zum Erlebten, zur eigenen Geschichte zu setzen.

Damit verortet sich Vida Bakondy in einem produktiven Feld, das sich um das Erinnerungsmedium Album im Rahmen der Holocaust Studies gebildet hat. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch hat betont, wie grundlegend seine Bedeutung für die Art und Weise gewesen sei, in der die Ereignisse des Holocaust und anderer historischer Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts überliefert worden sind.[1] Im deutschsprachigen Raum sind Studien zur Relevanz des Fotoalbums im Kontext der NS-Geschichte bislang allerdings häufiger an den visuellen Erzählungen der ‚Mehrheitsgesellschaft’ orientiert geblieben. So hat Petra Bopp mit ihrer Analyse der Fotoalben von Wehrmachtsangehörigen eine wichtige Referenz geschaffen.[2] Auch Fotoalben aus Konzentrationslagern, die etwa von Angehörigen der SS-Verwaltung angelegt wurden, sind mehrfach zum Gegenstand der Forschung geworden.[3] Deutlich seltener wurde bislang erzählt, wie Geschichten von Unterdrückung, Verfolgung und Ausgrenzung im Fotoalbum verarbeitet worden sind.[4] Insofern können die Alben von Fritzi Löwy als notwendige „Korrektive und Ergänzungen des historischen Archivs“ verstanden werden.[5]

Vida Bakondy entwickelt dabei ein überzeugendes Methodenset, um die Alben sowohl als eigenständige Erzählform wie als Menge historischer Spuren zu begreifen, deren Entzifferung in Frage steht. Ihr Ausgangspunkt ist ein Begriff des Albums als Dispositiv und räumliche Ordnungsform, in der Bedeutungen über Praktiken der An- und Umordnung, des Nebeneinanders und der Montage, des Verzeichnens und Überschreibens entstehen. Doch Bakondy bleibt nicht auf der Ebene der Bilderordnung stehen, sondern nutzt die vorhandenen Bilder für konkrete mikrogeschichtliche Vorstöße. So konfrontiert sie die Ordnungslogik der Alben mit anderen Nachlassteilen, brieflichen Korrespondenzen, Einträgen in Flüchtlingsdossiers usw. – alles Quellen, die erst aufzutun waren, die Bakondy in öffentlichen wie privaten Sammlungen und Archiven recherchiert hat.

Trotz dieses Schwerpunkts auf historischer Kontextualisierung bleibt das Buch immer auf fotografie- und albumtheoretische Fragen bezogen. Ganz wesentlich sind es dabei die Wege der Fotografien, die in den Mittelpunkt rücken. Vida Bakondy interessiert sich für die „soziale Biografie“ (Elizabeth Edwards) jedes einzelnen Foto-Objekts im Album. Diese Biografien sind höchst unterschiedlich, entstammen die Bilder doch nicht einer fortlaufenden fotografischen Produktion, sondern unterschiedlichsten Quellen. Gemeinsam mit dem Restaurator Sascha Höchtl hat Bakondy eingeklebte Fotos vom Karton gelöst, um etwa ursprüngliche Beschriftungen, Widmungen freizulegen. Eine zentrale Frage war dabei, inwiefern die Ordnungslogik des Albums die historischen Bedeutungsschichten der versammelten Aufnahmen grundlegend überschreibt. Entgegen gängiger Vorstellungen vom Familienalbum ist die Bilderordnung von einer a-chronologischen Struktur, ja einer umgedrehten Zeitlichkeit geprägt. Beginnend mit Grabsteinen in Erinnerung an verlorene Familienmitglieder richtet es den Blick in einem konstitutiven Nachhinein ein, das alle Aufnahmen kontaminiert.

Aus foto- und albumhistorischer Sicht ist interessant, wie dieser Fokus auf die konkreten Praktiken der Bildverwendung in der Lage ist, übliche Kategorisierungen des Albums aufzubrechen. Vida Bakondy zeigt das Ungenügen eines engen Konzepts von Fotoalbum, das vielfach mit einer „Verengung auf eine bestimmte Form und Ordnung“[6] einhergeht und mit bestimmten Vorstellung über Autorschaft, Struktur und Inhalten verbunden wird, ebenso auf wie die Schwierigkeiten, die aus einer vorab getroffenen Differenzierung in unterschiedliche Albenkategorien entstehen. Das zeigt sich vor allem in der Analyse des zweiten Albums von Fritzi Löwy, das nur zu einem Teil aus privaten Fotografien, zu einem größeren aus gesammelten Zeitungsausschnitten, Werbeprospekten, Postkarten, Produktverpackungen usw. besteht. Vida Bakondy kann die zum Teil indirekten, als Subtext eingeschriebenen Bezüge zu Fritzi Löwys Lebensgeschichte und ihrem Status als Flüchtling in der Schweiz gerade an den Aneignungsformen einer öffentlichen Bildwelt nachweisen. Im Mittelpunkt steht da wie dort die Frage, wie sich Fritzi Löwy über das Medium Album in ein Verhältnis zur eigenen Geschichte setzt: Welche Strategien bietet ihr das ‚Albenhafte’, zu einer Rhetorik der Trauer, aber auch zu einer selbstbestimmten Repräsentation zu gelangen? So liest Bakondy die zunächst irritierende Verschaltung der Fluchtgeschichte mit einem touristischen Imaginationsraum als einen Akt der Selbstbehauptung – angesichts einer Situation, die für Löwy mit Mangelerfahrungen, eingeschränkter Mobilität und zahlreichen Entbehrungen verbunden war, wie Bakondy wiederum mit präziser historischer Recherche nachweist.

Wie die Autorin selbst einräumt, ist ihr Verfahren einer kontextualisierenden Analyse nicht ohne weiteres auf andere Albenbestände übertragbar – ist doch deren große Menge anonym, ohne Kontext und entsprechende Anknüpfungsmöglichkeiten überliefert. Dennoch bietet Bakondys Zugang eine Fülle von Anregungen für den Umgang mit Albenbeständen. Der Ansatz, nicht bereits von einem Vorverständnis vom ‚privaten Fotoalbum’ auszugehen, erweist sich dabei als äußerst produktiv. Die Arbeit lässt sich damit auch im Kontext jüngst geführter Debatten über eine Ausweitung der Konzepte von ‚Familie’ ebenso wie von ‚Familienfotografie’ verorten, deren Heterogenität ebenso wie deren intrinsisch politische Implikationen erst noch zu sondieren seien.[7] Wie wenig sich Fritzi Löwy mit ihrer atypischen weiblichen Biografie im Österreich der Nachkriegszeit zur Zugrundelegung solcher vorab getroffener Konzepte eignet (immer berufstätig, aber am Prekariat schürfend, kinderlos, zum Teil in gleichgeschlechtlichen Beziehungen lebend), führt Bakondy deutlich vor. Auch, wie sehr eine Annäherung an Lebensgeschichte immer fragmentarisch bleiben muss: Wie in Roland Barthes’ Konzept der „Biographeme“[8] sind es lebensgeschichtliche Splitter, mit denen Bakondy hantiert – womit ein Charakteristikum der Erzählweisen im Album ebenso bezeichnet ist wie eine zentrale Erfahrung im Forschungsprozess – und in der Erzählbarkeit von Biografie. So gibt Vida Bakondy nicht zuletzt der eigenen Forschungsgeschichte Raum, dem Faktor des Zufalls, den veränderlichen, nicht immer aus erster Hand stammenden Ordnungsformen des eingesehenen Materials, den Lücken und Leerstellen, die – wie verloren gegangene Bilder im Album – als Teil der Geschichte zu begreifen sind.

__________

[1] Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture after the Holocaust, New York 2012.

[2] Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Ausstellungskatalog, Bielefeld 2012.

[3] u.a. Cornelia Brink: Klage und Anklage. Das „Auschwitz-Album“ als Beweismittel im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), in: Fotogeschichte, Heft 95, 2005, S.15-28; Sigrid Jacobeit: Fotografien als historische Quellen zum Frauen-KZ Ravensbrück: Das Ravensbrücker „SS-Fotoalbum, in: Insa Eschebach/Johanna Kootz (Hg.), Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Quellenlage und Quellenkritik. Dokumentation der Fachtagung vom 29. – 30.5.1997, Berlin 1997, S. 33-45 oder Christophe Busch, Stefan Hördler, Robert Jan Van Pelt (Hg.): Auschwitz durch die Linse der SS. Das Höcker-Album, Darmstadt 2016.

[4] Vgl. z.B. Cord Pagenstecher: Vergessene Opfer. Zwangsarbeit im Nationalsozialismus auf öffentlichen und privaten Fotografien, in: Fotogeschichte, Heft 17, 1997, S. 59-71.

[5] Marianne Hirsch: Der archivale Impuls der Nacherinnerung, in: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen, 2013, S. 125-142, hier S. 126.

[6] Matthias Bickenbach: Die Enden der Alben, in: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Göttingen, 2013, S.107-122, hier S. 27.

[7] So gelte es, einen Begriff von Familie zu entwickeln, „away from traditional, domestic, heteronormative, embodied, or biological conceptions of the nuclear family” und fotografische Praktiken daraufhin zu befragen, wie sie Konzepte von Familie einfangen, mit erzeugen oder auch in Frage stellen. Vgl. Jennifer Orpana, Sarah Parsons: Seeing Family. Editorial, in: Dies. (Hg.): Seeing Family. Photography and Culture, Heft 10/2, 2017, S. 95-98, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/17514517.2017.1337853 (letzter Zugriff am 5.3.2018)

[8] Roland Barthes: Sade Fourier Loyola, Frankfurt a. M. 1974, S. 13.

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