Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Willi Ruge – wiederentdeckt

Ein Gespräch mit der Kuratorin Ute Eskildsen

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 147, 2018

 

Über drei Jahrzehnte lang war Ute Eskildsen Leiterin der Fotosammlung im Folkwang Museum Essen. Sie hat als Kuratorin vieler großer Ausstellungen und als Herausgeberin und Autorin wichtiger Kataloge Fotografiegeschichte geschrieben. Nun hat sie sich in einem aufwendig recherchierten Recherche- und Ausstellungsprojekt einem legendären Fotografen der Zwischenkriegszeit zugewandt: Willi Ruge (1892–1961). Dass diesem Fotografen noch nie eine größere Ausstellung gewidmet war, ist erstaunlich. Ende 2017 fand diese bei C/O Berlin statt. Der Katalog Willi Ruge. Fotografien 1919–1953, herausgegeben von Ute Eskildsen und Felix Hoffmann, erschien im Steidl Verlag. Ein Anlass, um im Gespräch mit der Kuratorin einen Blick hinter die Kulissen der fotohistorischen Recherche zu werfen.

Anton Holzer/Fotogeschichte:Frau Eskildsen, es ist erstaunlich, dass Willi Ruge, einer der in der Zwischenzeit bekanntesten deutschen Fotografen und Fotojournalisten, erst jetzt in einer großen Retrospektive vorgestellt wird. Sie haben sich ganz am Beginn Ihrer Karriere als Leiterin der Fotografischen Sammlung am Folkwang Museum in Essen bereits kurz mit ihm beschäftigt. Damals, 1979, machten Sie eine Ausstellung zur legendären Ausstellung "Film und Foto" (FiFo). Das bekannteste Sujet dieser Ausstellung ist das Plakat, das einen Pressefotografen in extremer Untersicht zeigt. Die Aufnahme stammt von Willi Ruge. Warum haben Sie sich 38 Jahre später wieder diesem Fotografen zugewandt?

Ute Eskildsen: Das neue Interesse wäre übertrieben. Im Umfeld der FIFO Ausstellung waren seine Bilder nur mit dem Verweis „fotoaktuell“ und ohne Namensnennung erschienen. Den Anstoß zu meiner Recherche entstand durch eine Einladung des Museum of Moden Art (MoMA) in New York. Dort wurde ich 2013 mit anderen Kolleginnen und Kollegen ,die zu den 1920-er/30-er Jahren gearbeitet haben, zu einem Studienaufenthalt eingeladen. In Vorbereitung der Ausstellung „Object : Photo. Modern Photographs. The Thomas Walther Collection 1909–1949“ sollten wir vor Ort die Sammlung studieren, um uns zu dem geplanten Katalogbuch für einen Textbeitrag zu entscheiden. Ich entschied mich für Willi Ruge, der mir kaum bekannt war und seine einzige dort befindliche Reportage „ Ich fotografiere mich beim Absturz mit dem Fallschirm“ erschien mir in der Verbindung von Fliegen und Fotografieren. Interessant und zugleich typisch für eine Zeit in der man fasziniert war von Geschwindigkeit.

Diese Reportage über den Fallschirmsprung ist in der Ausstellung prominent präsentiert. Sie eröffnet auch den Katalog. Das Coverbild zeigt eine faszinierende Aufnahme aus dieser Serie. Wir sehen zwei Beine, die in der Luft schweben – und weit darunter die Erde. Diese Reportage war seinerzeit sehr bekannt. Was ist das Besondere an dieser Geschichte? 

Das Besondere an dieser Reportage ist die Situation – der Fotograf dokumentiert sein eigenes Handeln, er beobachtet sich selbst in einer außergewöhnlichen Situation und kommt zu vorher nicht gesehenen Bildern. Sie wurde nach dem Abdruck in der Berliner Illustrirten Zeitung (BIZ) 1931 und einen Monat später von der Illustrated London News übernommen und 1935 nochmals in der Weekly Illustrated veröffentlicht. Bei beiden Illustrierten hatte Ruge auch mit anderen Flugreportagen Erfolg. Zum Beispiel mit der Titelgeschichten über die Fallschirmspringerin Lola Schröter oder über das moderne Reisen mit „Dramatic Photographs from Flying Pullman“.

Willi Ruge ist ein bekannter Unbekannter in der deutschen Fotografie. Man kennt ihn und an kennt ihn eigentlich nicht. Meines Wissens gab es noch nie eine größere Retrospektive zu ihm. Woran, glauben Sie, liegt das? An seiner Karriere, die nach 1933 ziemlich bruchlos weiterging? War Ruge politisch zu ambivalent, um ihn früher ins Zentrum einer großen Ausstellung zu rücken? Oder gab es auch andere Gründe?

Es gab nicht nur noch keine Retrospektive zu Ruge, sondern die einzige Einzelausstellung fand 2015 in der Keystone Galerie „Schwarzer Montag“ statt. Dort wurden Reproduktionen aus den Beständen nur von der Serie „Der Mann hinter der Kamera“ gezeigt. Ich denke die Tatsache, dass es nur einen sehr kleinen Nachlass gibt, der vornehmlich die Korrespondenzen nach 1945 enthält, war entscheidend. Dieser befand sich unbeachtet in einem süddeutschen Keller. Es gab keine Familienmitglieder, die sich für Ruges Arbeit interessierten. Sein Archiv wurde im Krieg zerstört und was Ruge nach 1945 wiederfand, waren vornehmlich gedruckte Bilder und Reproduktionen. Mit wenigen Ausnahmen haben sich die originalen Abzüge aus der Zeit der Aufnahmeerstellung nur in Pressearchiven erhalten. Die bruchlose Weiterarbeit und seine Anpassung  nach 1933 beziehungswiese sein Durchlavieren als erfahrener Luftfotograf halte ich nicht für den Grund der späten Rezeption. Dies trifft auch auf andere Fotografinnen und Fotografen zu, die ausgestellt und erforscht wurden. Grundsätzlich ist aber eine bildjournalistische Recherche bedingt durch die Quantität der Produktion sehr zeitintensiv und, wenn es dann kein nachgelassenes Archiv gibt, auch äußerst mühsam.

Das merkt man auch, wenn man einen Blick auf die Quellenangaben der Bilder im Katalog wirft. Es zeigt sich, dass das Œvre Ruges weit verstreut ist. Können Sie berichten, wie Ihre Recherche verlief. Wo lagen denn die Schwierigkeiten, Material zu Ruge zusammenzutragen? Gab es Überraschungen für Sie?

Der größte Teil der Exponate kommt, wie gesagt, aus Pressearchiven. Dabei ist ullstein bild immer wieder eine Fundgrube und dort habe ich auch begonnen zu suchen. Aber wie schon bei meinen vorangegangenen Recherche zu den 1920-er Jahren führt der Weg dann vorerst über das Zeitungs- beziehungsweise Zeitschriftenstudium. Inzwischen wurden große Bestände schon nach Fotografen sortiert – auch Dank der Fotohistoriker! Aber nicht alle Fotos wurden ja publiziert und dann ist nach möglichen Themen zu suchen. Diese ergeben sich häufig erst aus den biografischen Informationen. Diese zusammenzustellen war bei Ruge mühsam. Er war mit langen Wegen durch Einwohnermeldeämter, Landes- Staats- und Bundesarchive sowie durch Spezialmuseen verbunden.

Überraschend waren für mich die Studioaufnahmen und experimentellen Bilder, die ich bei Keystone in Zürich gefunden habe, sehr ungewöhnlich für einen Pressefotografen. Auch das umfangreiche Archiv in einem Kunstmuseum, der Art Gallery of Ontario in Toronto, hat mich verwundert. Dorthin gelangte es als anonyme Schenkung, die sich auf Bestände der Klinksy Agentur zurückführen lässt. Diese Agentur wurde 1930 in Amsterdam gegründet und vertrieb vornehmlich Fotografien aus deutschen Bildagenturen.

Apropos Fotoagentur: Es scheint so, als ob Ruge in der Zwischenkriegszeit fast mit seiner Fotoagentur "Fotoaktuell" verschmolzen war. Wie muss man sich diese "Kooperation" in der Praxis vorstellen? Hatte Ruge Mitarbeiter? Vertrieb er alle seine Bilder über die Agentur? Verhandelte er mit den Redaktionen selber oder delegierte er das?

Über die Struktur von „Fotoaktuell“ haben sich keine Dokumente gefunden. In den Texten spricht Ruge von Anrufen zu Aufträgen von Personen und Zeitschriften. Zu Verträgen haben sich auch bei Ullstein keine Unterlagen gefunden. Aber nicht alle Fotografien und Artikelmanuskripte tragen den Stempel „Fotoaktuell“ mit seinem Namen, sondern nur „Fotoaktuell“. In einigen Texten verweist Ruge auf Kollegen. Und die Tatsache, dass er gern selber in seinen Serien und Reportagen auftaucht, legt Mitarbeiter/Assistenten nahe. Vertrieben wurden die Bilder entweder direkt an Zeitschriften oder an Agenturen im In- und Ausland. 

Ruge war ein multimedial denkender Medienmensch. Schon früh interessierte er sich für den Film, er machte Montagen, Bildgeschichten, Fotoreportagen. Und er schrieb, anders als viele seiner Kollegen in der Pressefotografie, viele seiner Texte selbst. Offenbar hatte er ein Gespür für die mediale Vermittlung von Bildern?

Er hatte durch die frühe Pressearbeit offensichtlich verstanden und gelernt den in den 1920-er Jahren expandierenden Bildvermarkt zu beliefern. Und sowohl durch seine Affinität zum Fliegen als auch mit seinen Reportage- und  Inszenierungsideen erreichte er ein breites Spektrum von Zeitschriften.

Schon sehr früh interessierte sich Ruge für die Luftfahrt. Und intensiver als viele andere Fotojournalisten kam er in Kontakt mit dem Militär. 1937, also noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, fotografierte er als BIZ-Sonderberichterstatter im Spanischen Bürgerkrieg. Welche Rolle spielte für Ruge diese Verbindung zum Militär? Änderte er im Nationalsozialismus seinen fotografischen Stil?

Mit seinen Kenntnissen der Luftfahrtfotografie und über die Verbindungen zur militärischen Luftfahrt – erste Kontakte hatte er ja schon im Ersten Weltkrieg – konzentrierte er sich ab Mitte der 1930-er Jahre auf militärische Themen. Nach 1933 war es ihm vorerst gelungen, eine lange Reise nach Südamerika zu unternehmen, im Auftrag der BIZ. Ab 1935 konzentrierte er sich auf militärische Themen, speziell der Luftwaffenausbildung. Nach der Ausbildung als Bordschütze während des Zweiten Weltkrieges fotografierte er dann bis 1941 als Kriegsberichterstatter und für die Wehrmacht Propaganda im Bereich der Luftwaffe. Er hat seinen Stil nicht verändert, sondern sucht auch im militärischen Kontext und während des Krieges den konzentrierten Blick auf das Geschehen und die formale Erscheinung der speziellen Gerätschaften. Seine dominierende Beobachtung des Krieges aus der Luft war per se dramatisch. Aber es gibt auch Bilder, die als „stille“ Personendarstellungen dramatisch sind. Etwa die Piloten einer Nachtjagdgruppe, die 1942 in der französischen Ausgabe von Signal erschien.

Auf den ersten Blick konnte Ruge seine Karriere nach 1945 problemlos fortsetzen. Er wurde, wie praktisch alle anderen Fotografen des NS-Systems auch, wegen seiner Wehrmachtspropaganda nicht behelligt. Aber so richtig Fuß konnte er als Fotojournalist in der Nachkriegszeit dennoch nicht mehr. Woran lag das? Dass sein Fotoarchiv 1943 zerstört wurde? Oder gab es auch andere Gründe?

Ruges Bemühen, verlorene Bilder wiederzufinden und seine Kontaktsuche zu ehemaligen Kollegen im In-und Ausland, hat seine Arbeit nach 1945 bestimmt. Aber der Verlust des Archivs war vorerst wirtschaftlich wenig bedeutend, denn Fotografien aus den 20-er und 30-er Jahren wurden nicht wirklich gesucht. Er erhielt seine Lizenz für „fotoaktuell“ bereits 1948 und ab 1949 fotografierte er zum Beispiel bereits für Quick und Weltbild. Es erschienen kleinere Reportagen und Einzelbilder. Ruge hatte andere Vorstellungen und plante eine Flug- und Auto-Expedition nach Südamerika und warb für deren Finanzierung. Sie fand nicht statt, eine große Enttäuschung für ihn, denn Wolfgang Weber war ihm in der Neuen Illustrierten mit Fortsetzungsberichten zu Südamerika zuvorgekommen. Sowohl seine wirtschaftliche Situation als auch sein Alter hat die freiberufliche journalistische Arbeit erschwert. Und in den frühen 50-er Jahren, als der Fotografie langsam wieder mehr Platz in den Illustrierten gegeben wurde, gab es auch eine neue Generation: z.B. Stefan Moses, Rolf Gillhausen oder Max Scheeler.

Abschließend, Frau Eskildsen, noch eine letzte Frage: Sie haben sich sehr intensiv mit den Fotografinnen der Weimarer Republik beschäftigt. Wir erinnern uns an Ihren sehr einflussreichen Katalog "Fotografieren hieß teilnehmen", der 1994 erschien. Willi Ruge ist mit seinen Themen Flugzeuge, Autos, Geschwindigkeit, Krieg, Propaganda ein sehr männlicher Fotograf. Was haben Sie aus der Beschäftigung mit weiblichen und männlichen Lebenswelten in der Fotografie gelernt? Wo müsste die künftige Forschung in diesem Bereich ansetzen?

Gelernt habe ich unter anderem, dass es auch Frauen gab, deren fotografisches Arbeiten von kühner Abenteuerlust geprägt war. Anfang der 1930-er Jahre als Frau allein nach China zu gehen, wie Lotte Erreg es getan hat, ist aber eher eine Ausnahme. Für die aktuelle Presse- und Reportagefotografie haben sich nicht sehr viele Fotografinnen interessiert. Aber sie haben auch für Magazine gearbeitet, haben Porträts, Mode, inszenierte Serien oder Tanz- und Theaterbilder geliefert. Ich hatte das Glück, viele von ihnen interviewen zu dürfen und beeindruckend war dabei für mich die fast durchgängige realistischeSelbsteinschätzung, eine „Figur der Zeit“ gewesen zu sein. Die Fotografie war für diese fotografierenden Frauen ein leicht zugängliches Bildmittel mit dem Versprechen eines eigenen Arbeitsfeldes auch im Hinblick auf eine mögliche wirtschaftliche Unabhängigkeit. Was für nicht wenige von ihnen auch in der Emigration als sprachungebundener Beruf den Einstieg erleichterte. Die Forschung könnte sich stärker den weiblichen Autodidaktinnen in Privatsammlungen widmen, denn auch das Fotografieren gehörte zum Bild der Neuen Frau. Insgesamt halte ich aber ein Forschungsprojekt für sehr sinnvoll, das sich die Entwicklung des Berufsbildes vornimmt. Ich denke es ist ein guter Zeitpunkt eine Geschichte des fotografischen Berufs zu schreiben. In dieser würden weibliche und männliche Lebenswelten mit ihren Voraussetzungen und Interessen und mit ihren Ehrgeizen und Abhängigkeiten erscheinen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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