Susanne Holschbach
Gerichtlicher Augenschein. Eine Diskursgeschichte der Tatortfotografie
Christine Karallus: Die Sichtbarkeit des Verbrechens. Die Tatortfotografie als Beweismittel um 1900, Logos Verlag: Berlin 2017, Bd. 6 der Reihe „culture – discours – history“, hg. von Thomas Düllo und Jan Standke, mit einem Vorwort von Mladen Dolar, 460 Seiten, 202 S/W Abbildungen broschiert, 24 cm x 7 cm, broschiert, 49,80 Euro, Bestellung: www.logos-verlag.de
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 147, 2018
Der Einsatz der Fotografie in der Polizeiarbeit und als Beweismittel vor Gericht hat die Anfechtungen fotografischer Zeugenschaft durch den technologischen Wandel nicht nur unbeschadet überstanden: Mit der Digitalisierung hat die forensische Fotografie sogar eine erhebliche Kompetenzerweiterung erfahren. Die Geschichte des wirkungsmächtigen Dispositivs gerichtlicher Fotografie beginnt bereits mit den ersten Reflexionen über die Potenziale des neuen Mediums. Bekanntermaßen hat sich schon Henry Fox Talbot den Auftritt von Fotografien als „stumme Zeugen“ im Gerichtssaal vorgestellt, ihm war jedoch bewusst, dass die Entscheidung über den Status dieser „neuen Art der Beweisführung“ letztlich bei den „Rechtskundigen“ liegen würde.[1]
In Deutschland fiel die Entscheidung über die Anerkennung von Tatortfotografien als Beweismittel am 5. Januar 1903. Dieses Datum ist der Angelpunkt von Christine Karallus’ Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen und der Ausgestaltung einer fotografischen Gebrauchsweise, die zwar in der Populärkultur sehr präsent ist, in der künstlerischen Fotografie immer wieder aufgriffen wurde und schon mit Walter Benjamins Bemerkungen zu Eugène Atget eine Stilisierung zur Metapher erfahren hat, die aber in ihrem kriminalistischen und juridischen Kontext bislang kaum erforscht wurde. Karallus’ Studie stellt daher ein überfälliges Pendant zu Susanne Regeners Standardwerk zur Mediengeschichte der erkennungsdienstlichen und kriminologischen Personenfotografie dar.[2] In einer Engführung von Diskursanalye und Fotogeschichte rekonstruiert Karallus die historischen, rechtlichen, kriminalistischen und medialen Zusammenhänge, in denen die Fotografie als Evidenzpraxis strafprozessual erst wirksam werden konnte. Die Auswertung des recherchierten Materials aus „Gesetzestexten, Verwaltungsberichten, Anklageschriften, Strafprozessordnungen, den Hand- und Lehrbüchern sowie den Aufsätzen zur gerichtlichen Untersuchungskunde, der Kriminalistik, der forensischen Fotografie, dem Lokalaugenscheinsprotokoll, der Tatortzeichnung und Tatortskizze“ (S. 24) zielt dabei in zwei Richtungen: Unter welchen Vorrausetzungen konnte die Tatortfotografie als „Imperativ für eine objektive Spurensicherung“ (S. 209 ) verankert werden und welche Effekte hatte diese Verankerung wiederum auf den Rechtsdiskurs?
Erst im Zuge der Modernisierung des Strafrechts und der Genese der Kriminalistik als einer eigenständigen Disziplin, so erfahren wir, gewann der Tatort an Bedeutung als Schauplatz materieller Spuren, die von einem Untersuchungsrichter in Augenschein genommen werden mussten, um dann vor Gericht als Beweismittel neben Zeugen, Sachverständige und Urkunden treten zu können. Als Scharnier zwischen Tatort und Gerichtssaal fungierte das „Lokalaugenscheinsprotokoll“, an dessen Standardisierung bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts gearbeitet wurde. Es stellte sich jedoch das Problem, dass die sprachliche Beschreibung des Tatorts trotz Ergänzung durch Zeichnungen dem hohen Anspruch an Genauigkeit und Wahrhaftigkeit eines „verlesungsfähigen“ Protokolls zumeist nur unzureichend Genüge leistete. Das neue technische Bildmedium schien daher wie prädestiniert, diesem Mangel abzuhelfen; versprach es doch eine Abbildung, die der Zeichnung durch Menschenhand nicht nur weit überlegen war, sondern diese mit „mechanischer Objektivität“(vgl. Daston/Galison 2002)[3] zugleich beglaubigte. Wie im zeitgleichen medizinischen und wissenschaftlichen Diskurs erkannten auch Strafrechtler das Potenzial der Fotografie nicht nur als Ersatz der menschlichen Wahrnehmung, sondern auch als Instrument einer Sichtbarmachung: im Fall der Tatortfotografie über die Aufzeichnung von Details, die der menschlichen Aufmerksamkeit schlicht entgehen würden. Die technische Entwicklung der Fotografie sowie das polizeiliche Handeln hinkten den Vorstellungen der Lehrbücher hinterher; einmal als kriminalistische Praxis und „Augenscheinsobjekt“ etabliert, hatte die Tatortfotografie allerdings weitreichende Folgen: Sie wurde zur Akteurin im Konflikt zwischen Judikative und Exekutive um die Deutungshoheit am Tatort. Sie drängte die Instanz des Untersuchungsrichters aus der Ermittlungsarbeit, die schließlich zur alleinigen Angelegenheit von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft wurde: „Das Recht unterlag dem Bildregime Tatortfotografie“ (S. 365).
Christine Karallus hat sich tief in das Denksystem des Juridischen und seine spröde Begrifflichkeit – mit der die Autorin souverän umgeht und der sie merklich einen gewissen Reiz abgewinnen kann – hineinbegeben, um diesen Prozess nachvollziehen und, durchaus spannend, vermitteln zu können, wobei pointierte Kapitel- und Zwischenüberschriften der Lektüre ein engmaschiges Geländer zur Verfügung stellen. Die dezidiert fotohistorische Perspektive manifestiert sich sowohl in den fototheoretischen Einlassungen als auch im kundigen Close Reading der Beispiele. Anhand eines bisher unveröffentlichten Bildkonvoluts aus der Polizeihistorischen Sammlung und dem Landesarchiv Berlin [4] arbeitet Karallus die Visualisierungsstrategien der Tatortaufnahmen heraus, die in einer Abfolge von verschiedener Blickwinkel und Einstellungsgrößen – von der Totale bis zum Detail – dem „erkennenden Gericht“ eine imaginäre Begehung des Tatorts von Außen nach Innen ermöglichen sollte. Ein inszenatorisches Moment kommt durch die Horizontalprojektion ins Spiel: die Aufnahme der Leiche von oben mittels eines Stativs, die sich als spezifischer „Visiotyp“ der Tatortfotografie herausgebildet hat. Die fotografische Technik als solche und die Anforderungen an die Fotografen wurden von den Kriminalisten allerdings kaum reflektiert: Das Vertrauen in die „mechanische Objektivität“ war offenbar so groß, dass über Mängel wie Über- und Unterbelichtung, fehlende Zeichnung im Schattenbereich, Überstrahlung durch Magnesiumblitz u. ä. hinweggesehen werden konnte.
„Bei Tatortfotos sieht man, was man nicht sehen soll“, schreibt Mladen Dollar im Vorwort (S. 13). In der Tat widersetzen sich die in zahlreichen Abbildungen verfügbar gemachten Aufnahmen der ‚unbefugten’ Betrachtung. Der unhintergehbare Realitätseffekt des gewaltsamen Todes stellt sich der Überführung in ein ästhetisches oder nostalgisches Register entgegen, die vielen historischen Gebrauchsfotos ein unverhofftes Nachleben beschert hat. Aber auch in diese instrumentellen Fotos haben sich eine Vielzahl von Details eingeschrieben, die sie als historische Dokumente interessant machen: Wenn etwa Polizeikräfte und Personen der Nachbarschaft ins Blickfeld geraten oder düstere Kammern von der Tristesse des sozialen Milieus zeugen.
[1] In Talbots Erläuterung zur Tafel III, die Fotografie einer Porzellansammlung, heißt es: „„Und sollte einmal ein Dieb die Schätze entwenden, dann würde sicher eine neue Art der Beweisführung entstehen, wenn man das stumme Zeugnis des Bildes gegen ihn bei Gericht vorlegt Ich überlasse es der Spekulation der Rechtkundigen, wie der Richter und die Jury darauf reagieren werden.“ Zit. nach Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie I, 1839–1912, München 1980, Bd. I, S. 61.
[2] Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte der medialen Konstruktion des Kriminellen, München 1999.
[3] Lorraine Daston und Peter Galison: Das Bild der Objektivität, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 29-99.
[4] Material zur Geschichte der Tatortfotografie ist dünn gesät, da Kriminalakten in der Regel nach acht Jahren vernichtet wurden und Sammlungen im Zweiten Weltkrieg verloren gingen. Karallus rekurrierte auf zwei Alben mit Fotografien aus den Jahren 1896 bis 1911, die erst nach der Maueröffnung im Polizeipräsidium in Ostberlin gefunden wurden und jetzt Bestandteil der Polizeihistorischen Sammlung im Berliner Polizeipräsidium sind, und Bildmaterial aus den Jahren 1896 bis 1911 aus dem Bestand einer historischen „Zentralkartei und Lehrmittelsammlung“, die im Landesarchiv Berlin bewahrt wird, sowie auf Illustrationen in Fachbüchern.
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