Gerlind-Anicia Lorch
Ferne Länder in 3-D
Die stereoskopische Reisefotografie von William England
(ca. 1830–1896)
Dissertation, Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar, Prof. Dr. Gabriele Betancourt Nuñez, Abschluss des Promotionsverfahrens: voraussichtlich Frühjahr 2017. Finanzierung: privat.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017
Obwohl William England einer der bedeutendsten viktorianischen Stereofotografen war, ist sein Werk heute nur einem kleinen Kreis an Sammlern und Experten bekannt. Dieser Umstand ist vermutlich mehreren Gründen geschuldet: Einer enormen Menge an fotografischem Material, das sich weltweit in öffentlichen und privaten Sammlungen nachweisen lässt, steht nur eine äußerst fragmentarische belastbare Quellenlage zu William Englands Biografie gegenüber. Insgesamt hat die viktorianische Stereofotografie in der Forschung einen schweren Stand – sie wird zumeist als bloße Marginalie der Fotografiegeschiche behandelt oder als kurioses Randphänomen abgetan. Da es sich um in hohen Stückzahlen produzierte Fotografien und somit um ein Massenmedium handelt, lastet ihr der Ruf einer nicht ernstzunehmenden medialen Form an. Bedenkt man, dass die Fotografie seit ihrer Erfindung einem Legitimierungsdruck als Kunstform unterlag, so gilt dies für die Stereofotografie umso mehr.
In den wissenschaftlichen Fokus rückte die Stereofotografie seit den 1960er Jahren durch die Untersuchungen von William C. Darrah, der mit Stereo Views: A History of Stereographs in America and Their Collection (1964) sowie mit The World of Stereographs (1977) zwei Grundlagenwerke schuf.[1] Die erste Publikation zu einem Teilaspekt im Werk William Englands stellt An American Journey. The Photography of William England von Ian Jeffrey aus dem Jahr 1999 dar.[2] Die Alpenfotografie steht im Fokus von Gérard Bourgarel: William England. 1863 exploration photographique de la Suisse (2005) und Yves Biselx: William England: Vues stéréoscopiques du Valais de 1863 et 1865 (2011).[3] Mit William Englands’s Views of Switzerland. A Collector’s Guide brachte Peter Blair im Jahr 2014 ein umfangreiches Verzeichnis der Alpenmotive heraus. [4] Einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der viktorianischen Stereofotografie leistet Brian May, einer der bedeutendsten Sammler in diesem Bereich, der die London Stereoscopic Company (LSC) im Jahr 2008 wieder zum Leben erweckte und in Kooperation mit weiteren Autoren Publikationen zur viktorianischen Stereofotografie veröffentlicht.[5]
Die hier vorgestellte Dissertation befasst sich mit dem reisefotografischen Werk von William England. Die Forschungsarbeit verfolgt einen interdisziplinären Ansatz, wobei die kunst- und fotografiehistorische Einordnung den Leitfaden bildet. Die Untersuchung gliedert sich in drei Hauptabschnitte: Nach einer biografischen Übersicht und der Einordung William Englands in den fotografie- und kulturgeschichtlichen Gesamtkontext des 19. Jahrhunderts folgt die Analyse von vier reisefotografischen Serien: Nordamerika, Paris, Rheinland und Alpenregion. Das abschließende Hauptkapitel arbeitet Schlussfolgerungen aus den vorangegangenen Untersuchungen heraus und geht dabei insbesondere auf den Aspekt Erfüllung und Schaffung von Bilderwartungen ein, um zur Klärung der Frage beizutragen, durch welche Kriterien und Strategien sich William England von der Konkurrenz absetzte.
Äußerst ungenau und sogar widersprüchlich sind die biografischen Informationen zu William England. Sich hier allein auf Angaben in Sekundärquellen zu verlassen, wäre unzureichend. Doch auch die Analyse der Primärquellen liefert nur bedingt befriedigende Resultate. So wurde der englische Zensus nur alle zehn Jahre durchgeführt, die Angabe eines Geburtsdatums war nicht erforderlich – was auch für andere staatliche und kirchliche Quellen gilt – und bei der Dokumentation schlichen sich oft Fehler ein. William Englands Geburtsdatum beispielsweise ließ sich trotz aufwändiger Recherchen bisher nicht nachweisen. Fest steht lediglich, dass er ca. 1830 in der Nähe von Trowbridge in der Grafschaft Wiltshire im Südwesten Englands geboren wurde.
Als gesichert gilt, dass William England zunächst als „bootmaker“ arbeitete, ab 1854 war er für die London Stereoscopic Company (LSC) als Fotograf tätig. Im Auftrag der LSC reiste er unter anderem nach Irland (ca. 1858), in die USA und Kanada (ca. 1859) und nach Paris (ca. 1861). Im Jahr 1862 zeichnete er für die fotografische Dokumentation der „International Exhibition“ in London verantwortlich. Im Anschluss verließ William England die LSC, um sein eigenes Unternehmen zu gründen. Zu den Gründen seines Weggangs lassen sich nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich spielten die Arbeitsbedingungen eine Rolle sowie die Tatsache, dass die LSC keine Fotografennamen auf ihre Karten druckte.[6] Es ist anzunehmen, dass sich William England als selbständiger Fotograf und Herausgeber bessere Verdienstmöglichkeiten, mehr Gestaltungsfreiheit und nicht zuletzt ein größeres Renommee versprach.
Bemerkenswerterweise trat William England nicht als Porträtfotograf in Erscheinung. Dies ist ungewöhnlich, denn, wie Roger Taylor am Beispiel des schottischen Fotografen George Washington Wilson (1823–1893) nachweist, stellten Porträtaufnahmen eine wichtige und vor allem geregelte Einnahmequelle dar, während mit topografischen Stereofotografien ein unkalkulierbares Risiko verbunden war.[7] William England verzichtete zudem auf Werbeanzeigen und seine Produktionsstätte war durch keinerlei Hinweisschilder gekennzeichnet. Trotz dieser Besonderheiten war er äußert erfolgreich. Er wird zu Lebzeiten als „probably the largest Continental publisher of European views“[8] bezeichnet und ihm wird sogar ein „monopoly in Continental pictures“[9] attestiert. Dieser Status spiegelt sich in seinen finanziellen Verhältnissen wider: Laut Testament vermachte William England seinen Hinterbliebenen mehrere Immobilien, Wertgegenstände und ein stattliches Vermögen.
Auch wenn sich keine Dokumente zu seinem Unternehmen erhalten haben, so erweisen sich Beschreibungen seines Studios als aufschlussreich. In einem Journalartikel von 1865 wird berichtet, dass seine Produktionsstätte mehrere Gebäude umfasste und seine Mitarbeiter pro Tag bis zu 4.800 Stereokarten anfertigten – eine florierende Massenproduktion.[10]
Übliche Verkaufsstellen für die Stereokarten waren Buchhändler, Schreibwaren- und Geschenkartikelgeschäfte. Händlerstempel bzw. -aufkleber, die sich auf den Rückseiten einiger weniger Stereokarten William Englands finden, geben Auskunft darüber, dass die Karten der unterschiedlichen Serien sowohl in Großbritannien als auch in anderen europäischen Ländern sowie in den USA erhältlich waren.
Zu Preisen und Kaufkraft führen May und Vidal aus, dass eine kolorierte Stereokarte laut LSC Weihnachtskatalog von 1856 „3 shillings“ kostete, was in etwa zwei Tageslöhnen eines Arbeiters entsprach. Eine unkolorierte Karte kostete ungefähr halb so viel wie die kolorierte Version.[11] Insofern richtete sich der „stereo craze“, die große Nachfrage nach Stereokarten im viktorianischen Zeitalter, vorrangig an Angehörige der Mittelschicht.
Wie gelang es William England, sich von der großen Konkurrenz anderer Anbieter von Stereofotografien abzusetzen und es zu Ansehen und Wohlstand zu bringen? Als selbständiger Fotograf und Unternehmer mit mehreren Angestellten sowie einer wachsenden Familie war William England verstärkt wirtschaftlichen Zwängen ausgesetzt. Er musste Alleinstellungsmerkmale schaffen, um wettbewerbsfähig zu sein. Vermutlich konnte er hier auf Erfahrungen aus seiner Zeit bei der LSC zurückgreifen:
William England bereiste ca. 1859 im Auftrag der LSC die nordamerikanische Ostküste und produzierte vermutlich die ersten in Europa erhältlichen Stereofotografien der Neuen Welt.[12]. Die LSC bewarb diese Aufnahmen im Zusammenhang mit der Nordamerika-Reise des englischen Thronfolgers, des Prince of Wales, im Sommer und Herbst des Jahres 1860. In einer Anzeige heißt es: „The London Stereoscopic Company […], having sent out a special artist to America and Canada, have secured all the above celebrated places in large single, and also in stereoscopic photographs of remarkable beauty, both of which sets his Royal Highness the Prince Consort has most graciously patronised.”[13]
William England hatte die im Anzeigentext beworbenen Fotografien bereits im Vorjahr angefertigt, als Details zur royalen Reise noch gar nicht bekannt waren. Auch wenn demnach kein zeitlicher Zusammenhang zwischen beiden Reisen bestand und sich zudem die erwähnte Patronage nicht verifizieren ließ, war die Vermarktungsstrategie der LSC vermutlich erfolgreich und bescherte ihr Aufmerksamkeit und Absatz.
Ein weiterer Auftrag der LSC führte William England im Jahr 1861 nach Paris. Innerhalb der dort entstandenen Stereokarten-Serie stechen die sogenannten „instantaneous views“ heraus. Dabei handelt es sich um die ersten Momentaufnahmen der französischen Metropole. Sie gelangen dem Fotografen dank des von ihm entwickelten „focal plane shutters“, eines schnellen Schlitzverschlusses. Die Presse zeigte sich von diesen innovativen Aufnahmen begeistert. Wieder sorgte ein Alleinstellungsmerkmal für Aufmerksamkeit.
Im Rahmen seiner Selbständigkeit fotografierte William England vorranging im Rheinland (ca. 1867/68; sowie in den Alpen (ca. 1863–1865 und später). Bemerkenswert ist hier, wie er seine frühen Alpenfotografien bewarb. William England bot keine spektakulären Ansichten wie einige seiner Konkurrenten; er bewegte sich entlang der Touristenpfade. Um seine frühen Alpen-Stereokarten populär zu machen, brachte er sie in einen direkten Zusammenhang mit dem renommierten Alpine Club, der 1857 in London gegründet worden war. Ein Teil der Stereokarten trägt den Aufdruck „Under the Patronage of the Alpine Club“ bzw. „By Permission, dedicated to the Alpine Club“. Die Sichtung der Vereinsprotokolle hat allerdings ergeben, dass dieser Aufdruck nicht in Absprache mit dem Alpine Club erfolgt war und dieser den Fotografen sogar zur Unterlassung aufforderte. Der Unmut des Alpine Club – eines reinen Männervereins – richtete sich möglicherweise auch gegen ein bestimmtes Motiv. Eine Stereokarte mit dem Titel Nr. 38 trägt den Titel La Mer de Glace, Chamounix, Savoie. Dargestellt sind drei kletternde Personen – zwei Männer und eine Frau. Eine kletternde Dame widersprach dem viktorianischen Verhaltenskodex. Diese Stereokarte bot somit ein äußerst ungewöhnliches, ja sogar skandalöses Motiv.
Mit der Dissertation wird der Versuch unternommen, viktorianische Stereofotografie in einem neuen Licht zu betrachten, eingebettet in den kunst- und kultur- sowie sozial- und technikgeschichtlichen Hintergrund. Einen zentralen Aspekt bildet hierbei die Entwicklung des Pauschaltourismus im 19. Jahrhundert. Es wird nachgewiesen, wie sich dieser parallel zum Massenmedium Stereofotografie entwickelte. So bereiste William England Regionen, die in etwa zeitgleich für den Pauschaltourismus erschlossen wurden. Ein Beispiel ist Paris: Veranstalter Thomas Cook bot 1861 die erste Pauschalreise in die französische Hauptstadt an, William Englands stereoskopische Paris-Ansichten erschienen im selben Jahr.
Bei der Einbeziehung der Rezipientenseite besteht die Problematik darin, dass kaum viktorianische Quellen vorliegen, die Aussagen über Empfindungen, Sehgewohnheiten oder zur Wahrnehmungstheorie machen; auch Berichte zum visuellen Erlebnis der Stereofotografie sind rar. Es ist unmöglich, sich aus der heutigen Perspektive des 21. Jahrhunderts in einen Lehnstuhl-Reisenden des 19. Jahrhunderts zurückzuversetzen. Trotz dieser Schwierigkeit und der problematischen Quellenlage schafft die Dissertation die Grundlagen für die weitere Forschung.
[1] William C. Darrah: Stereo Views:A History of Stereographs in America and Their Collection, Gettysburg 1964 und ders.: The World of Stereographs, Gettysburg 1977.
[2] Ian Jeffrey: An American Journey. The Photography of William England, München/London/New York 1999.
[3] Gérard Bourgarel: William England.1863, exploration photographique de la Suisse, Pro Fribourg 149, Trimestriel 2005-IV, 2005; Yves Biselx: William England: Vues stéréoscopiques du Valais de 1863 et 1865, Association Valaisanne d’Images Anciennes 2011.
[4] Peter Blair: William England’s Views of Switzerland. A Collector’s Guide, ohne Ort 2014.
[5] Brian May u. Elena Vidal: A Village Lost and Found, London 2009; Brian May, Denis Pellerin u. Paula Fleming: Diableries. Stereoscopic Adventures in Hell, London 2013; Brian May u. Denis Pellerin: A Poor Man’s Picture Gallery, London 2014; Denis Pellerin u. Brian May: Crinoline. Fashion’s Most Magnificent Disaster, London 2016. Darüber hinaus bietet die London Stereoscopic Company das von Brian May entwickeltet OWL-Stereoskop an sowie Stereokarten mit historischen und zeitgenössischen Motiven.
[6] Belege, dass es sich beim Fotografen um William England handelt, finden sich unter anderem in viktorianischen Journalartikeln.
[7] Roger Taylor: George Washington Wilson: Artist and Photographer 1823–1893, Aberdeen 1981, S. 66.
[8] „At Home. Mr. William England at St. James’s Square, Notting Hill”, in: The Photographic News, Vol. XXIV, No. 1127, 9. April 1880, S. 171. Derselbe Artikel findet sich auch in H. Baden Pritchard: The Photographic Studios of Europe, London 1882, S. 14–19.
[9] At Home. Mr. Francis Bedford at Camden Road“, in: The Photographic News, Vol. XXIV, No. 1129, April 23, 1880, S. 194.
[10] „A London Photographic Establishment”, in: The British Journal of Photography, Vol. XII, No. 246, January 20, 1865, S. 28 f.
[11] Vgl. May/Vidal 2009, S. 20.
[12] Zwar gab es eine Reihe US-amerikanischer und kanadischer Stereofotografen, wie beispielsweise die Gebrüder Anthony, doch waren deren Fotografien sehr wahrscheinlich in Europa nicht erhältlich.
[13] „The Prince of Wales in Canada”, in: The Morning Post, Monday, 20. August 1860, S. 6.
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